Charles Maimarosia
Liebe Freund*innen!
Heute wird dieser Blog fünf Jahre jung. Ich möchte das nachdenklich feiern – mit einem Thema, das nur auf den ersten Eindruck weit weg sein mag, aber uns alle angeht. Es geht um Musiker, deren Heimat auf der anderen Seite des Planeten liegt: Sie kommen aus Rapa Nui, Aotearoa, Taiwan, den Salomonen, Sarawak, Madagaskar und vielen weiteren Inselgebieten des Pazifischen und Indischen Ozeans. In einem weitverzweigten Projekt zeigen uns diese 50 Musiker*innen die Stärke der austronesischen Kultur und die Verletzlichkeit der Weltmeere und des Regenwalds. Small Island Big Song ist nicht nur eine bunte exotische Show. Es ist ein letzter Appell an uns alle.
„Manche sagen, der Ozean trennt uns. Wir sagen: Der Ozean vereint uns.“ So steht es auf der Leinwand des Rudolstädter Theaters, auf der Clips aus dem Pazifischen und Indischen Ozean laufen. Eine Reise durch Inseln und Riffe, durch den Regenwald, entlang von Flüssen, Reisfeldern und in Dörfer der Ureinwohner, durch die Habitate von Leguanen und Lemuren. Davor, auf der Bühne, ein verwirrend vielschichtiges Geschehen: Neun Musiker in leuchtend bunten Kleidern, mit großartigem Kopfschmuck und Körperbemalung vereinen sich zu kraftgeladenen, mal archaisch beschwörenden, mal fast poppigen Chorgesängen. Doch da sind auch zarte Elemente, Mondlieder, Lullabies, das Hauchen von Nasenflöten. Eine Vielzahl an Schlaginstrumenten, Muschelhörnern, Pan Pipes, Schwirrhölzern, Zithern und Lauten kommt zum Einsatz, untermalt wird die Musik von Natursounds, Vogelgesang, dem Gluckern von Wasserläufen, und immer wieder: dem Tosen der Wellen. Doch der Ozean ruckelt. Via Laptop eingespielt vom australischen Musikproduzenten Tim Cole setzt das Brausen immer wieder für Sekundenbruchteile aus, als wolle sich dieser gewaltige Sound mit keiner noch so großen Rechnerleistung einfangen lassen. Und irgendwie ist das auch ein unfreiwilliges Symbol dafür, dass mit unseren Weltmeeren etwas nicht stimmt.
Was sich hier beim Rudolstadt Festival abspielt, ist eine genauso eindrückliche wie friedliche Machtdemonstration einer der ältesten Kulturen der Menschheit. Es ist zugleich die mit dem größten Territorium überhaupt und mit der sechstgrößten Sprachfamilie der Erde. „Small Island Big Song“, kurz SIBS, nennt sich das Projekt, in dem Cole und seine taiwanesische Frau, die Projektmanagerin BaoBao Chen indigene Musiker aus Rapa Nui (Osterinsel), Aotearoa (Neuseeland), den Salomonen, Taiwan, Sarawak (Nordborneo), Madagaskar und vielen weiteren Inseln zusammenbringen. „Es ist faszinierend, dass vor 5000 Jahren, also vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden, eine Gruppe von Menschen die Technologie, Navigationskunst und den Mut besaß, von Taiwan aufs offene Meer hinauszufahren“, sagt Cole. „Für sie muss das gewesen sein wie für uns heute eine Reise zum Mars.“ Die austronesische Kultur – zu ihr zählen unter anderem Poly-, Mela- und Mikronesien – hat sich bis 1100 nach Christus immer weiter im ganzen Pazifik und Indik verbreitet, von den Philippinen über Malaysia nach Madagaskar, von Fidji über Tahiti bis nach Hawaii und Rapa Nui, zuletzt nach Neuseeland – über 22.000 Kilometer. Das Drehbuch ihrer Geschichte schrieb also gewissermaßen der Ozean selbst.
Zumindest den Älteren von uns hat man im Schulunterricht beigebracht, dass der portugiesische Entdecker Fernando Magellan, dessen Erdumsegelung sich gerade zum 500. Mal jährt, als Erster den pazifischen Raum durchmessen hat. Es ist längst überfällig, diese eurozentrische Perspektive über Bord zu werfen. „Noch heute haben wir überall ähnliche Wörter für die Zahlen“, sagt Charles Maimarosia, der den Are’Are von der Salomoneninsel Malaita angehört. Der Sänger und Spieler von Pan Pipes und mannshoher, getrommelter Bambusrohre, ist zum Interview im Heinepark mitgekommen. Eben noch mit muschelbesetztem Outfit auf der Bühne des Kinderfestes, fröstelt er jetzt mit Pullover und Baseballkappe im kühlen Sommerwind. „Auch die Wörter für andere, täglich verwendete Begriffe wie ‚Augen‘ (‚mata‘) sind überall gleich. Wir wollen nicht unsere Unterschiede herausstreichen, sondern unsere Gemeinsamkeiten. Und die Musik ist Teil der Menschheit, seit sie existiert.“ Die Vielfalt in der Gemeinsamkeit zu feiern: Das ist die Philosophie des Projekts Small Island Big Song. Doch die koordinierende Kraft dafür kam wie so oft bei Weltmusikprojekten nicht von den Indigenen selbst.
Niedergeschlagen von den Berichten darüber, wie sich Erderhitzung und Plastikvermüllung auf die Ozeane auswirken, beschlossen BaoBao Chen und Tim Cole vor vier Jahren, ihre Organisationstalente zu nutzen und auf die düsteren Zukunftsaussichten mit einer kulturellen Gegenkraft zu antworten. „Wissenschaftler liefern seit Langem Fakten und Lösungen, aber niemand hört richtig zu“, sagt Chen. „Wir haben die Gabe, mit den Musikern eine Geschichte zu erzählen, und wenn wir so die Menschen übers Herz ansprechen, können wir vielleicht eine nachhaltigere Veränderung anstoßen.“ Immer wieder fällt im Interview ein Wort, das für die Austronesier zentral ist: „Mana“ kann man als Verantwortung, aber auch als Integrität, Anerkennung übersetzen. „Wir wollten, dass so viel Mana wie möglich in unserem Projekt ist“, sagt Cole. „Deshalb haben wir Künstler ausgewählt, die auf ihrer jeweiligen Insel als Wächter der Kultur gelten, und sie gebeten, einen Song in ihrer Umgebung, draußen in der Natur einzuspielen und dann mit den anderen zu teilen.“
Von den vielen Beteiligten, allesamt ganz verschiedene starke Persönlichkeiten, können wir hier leider nur einige herausgreifen: Ganz zentral ist etwa eine der drei taiwanesischen Musikerinnen und Musiker, SiaoChun Tai. Sie ist Paiwan, eines von sechzehn auf Taiwan lebenden indigenen Völker, die zum Teil immer noch um ihre Anerkennung von offizieller Regierungsseite kämpfen. „Paiwan sind gewöhnlich eher introvertiert“, sagt sie, „daher sind unsere Lieder auch eher statisch, und wir verwenden eine Menge Metaphern in den Texten. Wenn wir zum Beispiel einen hübschen und talentierten Mann preisen wollen, tun wir das mit der Umschreibung ‚erstklassige Zypresse‘, eine solche Frau würde ‚bunter Schnellkäfer‘ genannt werden. Selbst in Liebesliedern stellen wir also einen Bezug zur Natur her.“
Small Island Big Song feat. Siao Chun Tai: „Senasenai A Mapuljat“
Quelle: youtube
Es gehört zu den ergreifendsten Momenten einer Small Island Big Song-Show, wenn SiaoChun Tai mit ihrer dunklen Stimme ihr Lied „Senasenai A Mapuljat“ anstimmt, im begleitenden Video dazu schaut sie bei Mondschein auf den Ozean hinaus, singt von der Verwandtschaft der austronesischen Völker, deren Vorfahren einst an diesem Strand aufbrachen. Eine Verwandtschaft, die auch heute noch auf Taiwan gespürt wird: Als Charles Maimarosia vor zwanzig Jahren mit seiner Bamboo-Band nach Taiwan kam, vergaß die Gruppe dort eines ihrer Bambusinstrumente. Die Einheimischen kannten solche Instrumente noch von alten Fotos, sie waren bis vor kurzem dort auch noch beheimatet, aber das Wissen um die Fertigung und ums Spiel war bereits abhandengekommen. Dank dieses einen Instruments konnte die Tradition wiederbelebt werden, und heute gibt es bereits einen ganzen Park zu Ehren der „Bamboos“ an der Ostküste.
Instrumentenkunde ist neben dem omnipräsenten Naturbezug ein spannendes Kapitel in den austronesischen Verflechtungen, und wir finden sie auch bei der SIBS-Musikerin Alena Murang aus Sarawak, dem malaiischen Teil Borneos. Die aussterbende Pagang, die in ihrem Kelabit-Dorf noch gespielt wird, ist eine frühe Verwandte der madagassischen Röhrenzither Valiha, die Sammy Samoela in der Band virtuos einbringt. Murangs Hauptinstrument ist aber die Sape, eine bootsförmige Laute, die bis zur Christianisierung bei Heilungszeremonien verwendet wurde und einen zärtlichen, beruhigenden Klang hat. Mit der Sape sorgt sie für eine bewegende Facette bei SIBS, wenn sie zu Ehren des Flusses, an dem sie geboren wurde, das Stück „Pemung Jae“ anstimmt. Alena Murang bezeichnet sich als „kulturelle Aktivistin“ und steht zwischen den Welten: Ihr Vater ist Kelabit, ihre Mutter eine anglo-italienische Ethnologin, und sie selbst versucht, die Kultur der Kelabit sowohl forschend als auch ausübend zu bewahren, in Musik und Bildender Kunst.
„Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, mit den Alten zusammenzusitzen, ihr Vertrauen zu gewinnen und einfach zuzuhören, was sie mir weitergeben wollen. Seit der Generation meiner Großeltern haben wir gewaltige Veränderungen durchgemacht, etwa was die Glaubenswelt und den Übergang vom Dorf- zum Stadtleben betrifft.“ Murang lebt zwar in Kuala Lumpur, kehrt aber zur Reisernte, die bei den Kelabit als heilig gilt, in ihr Dorf zurück, oder auch, um neue Lieder zu lernen, die sie in die Arbeit mit SIBS einbringt. Hoffnung macht ihr, dass junge Indigene nun auch auf Borneo anfangen, wie zuvor schon in Kanada oder Neuseeland, Fragen nach ihrer wahren Geschichte stellen und diese aufarbeiten. Die Natur ist dabei ganz zentral: „Wenn wir über kulturelles Erbe sprechen“, so Murang, die sich auch für den Schutz der Ozeane einsetzt, „dann betrifft das genauso die Umwelt. Auch die Natur ist unser Erbe.“ Eine Erkenntnis, die sich schnell durchsetzen muss: Drei Viertel des Regenwaldes von Sarawak, der älteste der Erde, sind von Abholzung bedroht oder bereits vernichtet.
Wohin unkontrolliertes Fällen von Bäumen führt, dafür gibt es im Pazifik ein historisches Beispiel: Zum Kanubau und Ofenbefeuern haben die Bewohner in früheren Jahrhunderten die einst dicht bewaldete Osterinsel (Rapa Nui) komplett gerodet. Nach der landschaftlichen Verödung sind die mythischen Moa-Statuen heute das Pfund, mit dem das Eiland wuchert. Yoyo Tuki ist der einzige Musiker der knapp 6000 Einwohner zählenden Insel, der seine Botschaft von der Erhaltung der Inselkultur um die Welt trägt, die schon lange mit Pop flirtet. So ist Tuki der „Hit-Maker“ von SIBS: Mit „Ka Va‘Ai Mai Koe“ hat er der All Star-Band einen Ohrwurm im Reggae-Gewand geliefert. „Wie überall im Pazifik ist Reggae auch auf Rapa Nui sehr beliebt, und ich sehe mich als zeitgenössischen Songwriter, der solche Einflüsse auch miteinbezieht.“
Small Island Big Song feat. Yoyo Tuki: „Ka Va‘ ai Mai Koe“
Quelle: youtube
Tukis Transportmittel dafür sind eine Ukulele und eine charismatische Stimme, die auf der Bühne vor allem im Trio mit Charles Maimarosias Bambus-Bass und dem berühmten Einschüchterungstanz Haka des Maori-Sängers Jerome Kavanagh eine virile Wechselwirkung entfaltet. Seine Texte sind von der Lebenserfahrung der Rapa Nui-Community geprägt, die auch heute wieder mit Umweltproblemen zu kämpfen hat: „Wir leiden zwar nicht unter dem steigenden Meeresspiegel wie andere Pazifikinseln, aber es wird eine unglaubliche Menge Müll aus Asien, Amerika und Europa an unsere Küsten gespült. Wir müssen die einsammeln und auf Schiffen nach Chile zurückschicken. Fische und Schildkröten konsumieren das Plastik und verenden daran.“ Die unkontrollierte Einfuhr von Autos und die Flut an Touristen, die die berühmten Moa-Statuen anschauen wollen, sind weitere Probleme: Gerade die Erlebnisreisenden zerstören den unberührten Charakter von Rapa Nui. „Meine Rolle ist es, die junge Generation weltweit zu erreichen“, sagt Yoyo Tuki, „ihnen von unserer Identität und den Werten zu erzählen, die durch die moderne Lebensweise weggefegt wird.“
Auch auf der CD von Small Island Big Song ist die Natur stets präsent. 18 Stücke wurden schon vor den ersten Livekonzerten von Tim Cole zu regelrechten Mosaiken zusammengefügt, mit insgesamt 50 Musikern, die nicht alle Teil der Shows sein können. „Es war fast unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, in welche Reihenfolge wir die Songs bringen sollten“, erinnert sich Cole. „Letztendlich haben uns die Naturgeräusche, die wir immer mit aufgenommen haben und die wie ein weiterer Musiker wirken, die Entscheidung abgenommen: Erst kommen Stücke, die im Regenwald angesiedelt sind, dann sind die Wassersounds in den Mangroven und an Flüssen Thema, schließlich geht es zum Ozean.“ Zu jedem Track gibt es außerdem einen Film, die allesamt online zu sehen sind. Dort antwortet etwa die taiwanesische Sängerin Ado Kaliting Pacidal nach einem Taifun am Strand auf eine Röhrenzither aus Madagaskar. Charles Maimarosias Bambus-Instrumente fanden ihren Widerhall bei einer Band auf der Insel Bougainville und wurden mit Wasserpercussion von Frauen aus Vanuatu gepaart. Und der Rapper Sandro aus dem madagassischen Volk der Vezo vereinigt sich in „Gasikara“ mit seinem Kollegen Mau Power von den Torres Strait-Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea zu einer Klage über das Verschwinden von Korallenriffen.
Ein Problem des ganzen ozeanischen Raumes: Charles Maimarosia ist es, der zum Ende des Interviews als unmittelbar Betroffener von der Klimakatastrophe einen Einblick in seinen Alltag gibt: „Auf der Salomonen-Insel Guadacanal sind die Korallen seit einigen Jahren bleich, es ist kein Leben mehr in ihnen, der Laichraum für die kleinen Fische ist zerstört. Außerdem beobachten wir, dass das Wasser jedes Jahr steigt, es hat das Grasland überflutet, wo früher unsere Hütten standen. Wir können nirgendwo anders hin, Papiere für andere Staaten bekommen wir nicht. Irgendwann wird es zur Überbevölkerung kommen, wir müssen unsere Zukunft mit großem Bedacht planen.“
Die Austronesier haben über Jahrtausende stets im Einklang und in Nachhaltigkeit mit der sie umgebenden Natur gelebt. Mit der internationalen Arbeit von SIBS geht jetzt ein bereits altbekanntes Dilemma der Globalisierung einher: Um die riesigen Distanzen zu überbrücken und im Teamwork ihre Botschaft um die Welt tragen zu können, muss der Musikertross etliche Langstreckenflüge absolvieren. Trotzdem werden das „Peanuts“ sein im Vergleich zum Schaden, den der Westen in ihren Regionen anrichtet. Letztendlich sind wir es, die darüber entscheiden, ob dieses kulturelle Netzwerk überleben oder an unserem Wohlstand zugrunde gehen wird – mit jeder Kreuzfahrt, jedem Flug und jedem Stück Plastikmüll.
dieser Artikel ist erschienen in der Zeitschrift Folker, Ausgabe 5/2019
CD: „Small Island Big Song“, zu bestellen auf der Website www.smallislandbigsong.com
Radiotipp: SRF2 Kultur strahlt am Freitag, den 18.10. in der Sendung „Passage“ mein einstündiges Special über Small Island Big Song aus.