Im Falle der vermeintlichen Rattengift-Drohung eines brasilianischen Bischofs (siehe letzter Eintrag) hat sich jetzt der Beschuldigte in einem ausführlichen offenen Brief an Caetano Veloso gewandt. Darin stellt er dar, dass er während der Messe Velosos Liedtext „É Proibido Proibir“ (Verbieten verboten) zitiert habe, um zu zeigen, dass es nach der christlichen Lehre keine absolute Freiheit ohne Verbote gibt. An keiner Stelle habe er den Musiker mit Rattengift bedroht oder ihn töten wollen. Er habe mit dem Gift nur einen Fall zur Bibelauslegung konstruiert und wörtlich gesagt:
„Wenn ich denjenigen treffen würde, der den Liedtext geschrieben hat, würde ich ihn fragen: ‚Würdest du es also akzeptieren, Rattengift oder Zyanid essen?‘ Es ist also eine Frage, kein Wunsch. Tatsächlich ist es ja in der Kunst der Rhetorik oder Apologetik so, dass der Gesprächspartner eine hypothetischen Fall konstruiert, um den Widerspruch einer These aufzuzeigen. In diesem Fall ist die These: Es ist verboten, etwas zu essen. Die nicht akzeptable Gegenthese: Es ist verboten zu verbieten, etwas zu essen.“
Der Bischof bedauert, dass durch die unredliche Wiedergabe seiner Predigt die eigentliche Aussage in der Presse verzerrt worden sei. Im Anschluss bringt er, der nun seinerseits Morddrohungen erhält, seine Wertschätzung gegenüber Caetano Velosos Mutter, einer treuen Christin zum Ausdruck und zitiert mit „Agnus Dei“, eine „schöne Musik“, die Caetano komponiert hat, um das Erbarmen des Herrn für alle zu erbitten, die in diesem Falle einem Irrtum unterlagen.
Aus der europäischen Distanz lässt sich nur mit Vorsicht analysieren. Die Geschichte zeigt, wie – zurecht – empfindlich die Stimmung derzeit in Brasilien unter denjenigen ist, die während der Militärdiktatur entweder selbst alltäglichem Staatsterror ausgesetzt waren oder die heute politisch auf der Seite der damals Vefolgten stehen. Denn sie befürchten unter dem neuen Präsidenten, der ein Klima des Hasses gegenüber liberalen Kräften gesät hat, eine Wiederholung der Ereignisse. Diese Stimmung hat – nach aktuellem Kenntnisstand – zu einer Überreaktion geführt. Wir setzen voraus, dass der Bischof die Wahrheit sagt. Dann bleibt die Frage: Warum zitiert ein Militärgeistlicher, in Anwesenheit von Generälen aus dieser schlimmen Zeit, den Text des populärsten Regimekritikers (, den er bei dieser Gelegenheit „Dummkopf“ nennt)? Nur, um mit umständlichen exegetischen Winkelzügen dessen Poesie als der christlichen Lehre gegenläufig zu enttarnen?
© Stefan Franzen