„Turn of The Century“ (Jon Anderson, Steve Howe, Alan White)
(aus: Yes: Going For The One, 1977)
Man kann heute nicht nur Elvis gedenken, sondern auch eine andere 40 bemühen: Nicht exakt am 16.8., aber im Sommer 1977 erschien das für mich herausragendste Album der Artrock-Giganten Yes. Live mitbekommen habe ich das damals nur indirekt, mittels der Single-Auskopplung „Wonderous Stories„, der ich als Neunjähriger in meinem großen Dachzimmer lauschte, denn sie stand wochenlang auf Platz 1 von Frank Laufenbergs Pop Shop-Top Ten auf SWF 3. Die gesamte LP Going For The One habe ich erst sechs oder sieben Jahre später entdeckt, wie so etliche meiner Zeitgenossen, die sich entnervt vom Achtziger-Sound rückblendend auf Erkundungspfade in die Dekade davor begaben.
Beim ersten Hören war es mir nicht möglich, all die instrumentatorischen Details und die komplexen Harmonieverläufe zu erfassen. Die Nadel fraß sich in den Folgemonaten sicherlich um etliche µ ins Vinyl hinein (heute klingt die Platte von damals nach Bratpfanne), bis feststand: Neben dem ausufernden „Awaken“ war es vor allem die epische Ballade „Turn Of The Century“, die mich fesselte. Inspiriert von Verdis La Bohème und dem antiken Mythos von Pygmalion und Galatea hat Jon Anderson hier die Geschichte eines Bildhauers vertont, dessen Skulptur zum Leben erwacht und in die er sich verliebt.
Heute stehe ich etwas distanziert zu diesem arg übersteigerten, verschraubten neunminütigen Werk – doch irgendwie bleiben Andersons artifizielle Lyrics und seine affektierte Kopfstimme, die entgrenzten melodischen Eskapaden von Steve Howe auf der Gitarre, das sich Emporschrauben von Bass und Klavier und die eigentümlich glasig-sphärischen Passagen der folkigen Stille faszinierend. Ich kann verstehen, warum mich diese verkopfte, breit angelegte Hymne auf Galatea in meiner Sturm-und-Drang-Phase zwischen Rock und Klassik mindestens zwei Jahre lang fast täglich begleitet hat.