Im März konnte ich sie in Toronto bei der Weltpremiere von Nicole Lizées Stück „Black MIDI“ sehen, wo sie öfters mal die Instrumente zur Seite legten, um lustige Schwirrschläuche und elektronische Rappelkisten zu betätigen. Ein Vierteljahr später habe ich Kronos Quartet-Gründer David Harrington an der Strippe, um mit ihm über ein denkbar gegenteiliges Projekt, das neue Album Folk Songs zu sprechen.
David, wie entstand die Idee zu Folk Songs? Kam das von Kronos oder von den beteiligten Sängern?
David Harrington: Bob Hurwitz, der Präsident von Nonesuch zu jener Zeit, hatte die Idee, den 50. Geburtstag des Labels zu feiern. Ein Bestandsteil davon sollten Konzerte sein. Er wusste, dass Kronos über die Jahre hinweg mit vielen Sängerinnen und Sängern gearbeitet hatte, von Dawn Upshaw über Asha Bhosle bis zu Tom Waits und Tanya Tagaq, viele Sänger aus den verschiedensten Ecken der Welt. Für mich klang die Idee mit dem Konzert sehr verlockend, also stellte Bob uns Rhiannon Giddens, Sam Amidon, Olivia Chaney und Nathalie Merchant vor. Die Musik von Rhiannon und Natalie kannte ich schon. Über eine Arbeitsphase von mehreren Monaten dachten wir darüber nach, was die schönsten Songs wären, und als wir die Liste kürzten, überlegten wir dann, wer der Arrangeur der jeweiligen Melodie werden sollte, wer am besten unsere Möglichkeiten in die Arbeit der jeweiligen Sänger übersetzen könnte.
Ihr arbeitet mit drei amerikanischen Sängern aber auch einer Engländerin, und die Stücke sind sowohl aus den Staaten als auch von den Britischen Inseln. Wolltet ihr damit die emigrationsbedingte musikalische Brücke zeigen?
Harrington: Darauf wurde kürzlich hingewiesen. Aber für mich war das kein bewusster Prozess. Mir ging es einfach darum, großartige Songs zu finden. Songs, die sich fürs Quartett richtig anfühlen. Das ist eine tolle Sache bei Sängern: Sie wissen immer, was für sie natürlich ist. Wenn du dein Instrument die ganze Zeit mit dir, in deinem Körper herumträgst, dann weißt du das. Ich habe mich bei der Auswahl also ganz auf die Sänger verlassen.
Ist es für euch eine Art Heimkehr, nach über 40 Jahren Tourneen auf der ganzen Welt und im Repertoire anderer Völker?
Harrington: Ich fühle mich mit jeder Musik, die wir spielen, zuhause. Wenn wir ein Konzert mit Musik von Omar Souleyman eröffnen, dann würde ich gerne bei einer syrischen Hochzeit sein, wenn wir Musik der indischen Geigerin N. Rajam spielen, dann möchte ich so viel über diese Musik und Kultur lernen wie möglich, obwohl ich noch nie physisch in Indien war. Es ist immer wieder überraschend, wie eng miteinander verbunden die Dinge tatsächlich sind, wie du die Ähnlichkeiten entdecken kannst. Ich würde einfach sagen, dass ich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen den Kulturen finde, je mehr ich ins Detail gehe. Und Musik ist für mich eine Gelegenheit, die Zahl der Orte zu erhöhen, die ich mein Zuhause nennen kann.
Diese Album ist auffällig um die Zahl vier herum strukturiert. Ihr seid vier Instrumentalisten, habt vier Sänger eingeladen, die Tracklist besteht aus zweimal vier Stücken, mit einem Interludium in der Mitte…
Harrington: Die „Quartetness” des Universums ist wichtig für uns. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass das geplant war! Aber andererseits, ob es wirklich Zufall war: Wer weiß das schon? Ich bin mir da nicht sicher.
Im Gegensatz zu vielen anderen Kronos-Aufnahmen gibt es hier keine virtuosen Stellen, ihr verwendet auch keine seltsamen Instrumente wie Gravity Tubes oder Schwirrschläuche, nehmt euch sehr zurück, spielt in manchen Stücken nur Bordune. Wollt ihr die introspektive, die spirituelle Seite der Folkmusik zeigen?
Harrington: Wir wollten uns auf jede individuelle Stimme einlassen, uns in ihren Dienst und in den des Songs tellen, nicht im Weg stehen. Einfach da sein und ein komfortables Heim für jeden Songs bereiten. Wir hatten nicht das Bedürfnis, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
Es gibt ein einziges Instrumental, „Last Kind Words“, im Original von der Bluessängerin Geeshie Wiley. Wie hast du auf der Geige diesen unheimlichen, verstimmten Effekt hinbekommen?
Harrington: Es ist tatsächlich ein komplett anderes Instrument, das anders gestimmt ist. Diese Geige hat zwei A-Saiten und zwei D-Saiten. Jeder Pitch wird als Quinte gespielt, und dann spiele ich mit dem Pitch, um diesen Effekt zu kreieren, der sich “verstimmt” anhört. Dasselbe Instrument verwende ich bei einem Omar Souleyman-Stück, außerdem bei unserer Version von Gershwins “Summertime”, die wir durch die Linse von Janis Joplin reflektieren.
Es gibt ein französisches Stück, namens „Montaigne , que tu es haute“, kommt das aus der Rhône-Alpes Region? Das sagt zumindest meine Recherche.
Harrington: Ich bin nicht sicher, wo es herkommt. Ich kann nur sagen, dass ich es liebe und auch, wie Olivia dieses Lied singt. Sie hat es mitgebracht, es ist ihre ganz eigene Art, das Stück anzugehen, und Jacob hat mit ihr intensiv an einem speziellen Arrangement gearbeitet.
Eines eurer Mitglieder ist ziemlich neu dabei, Sunny Yang, sie spielt seit 2013 auf der Position des Cellos. Wie hat sie den Sound von Kronos verändert?
Harrington: Wir fühlen uns auf jeden Fall erfrischt und erneuert. Sunny bringt ein unglaubliches Gespür für Musik und Rhythmus und Sound und Stil ins Kronos Quartet hinein. Wir lernen sicherlich genauso viel von ihr wie sie von uns. Es fühlt sich sehr natürlich an.
Heutzutage kann man beobachten, wie sich Folkmusiker immer öfter an die Klassik annähern und umgekehrt. Denkt ihr, dass ihr durch eure Pionierarbeit, das Streichquartett von stilistischen Festlegungen zu emanzipieren, dazu beigetragen habt?
Harrington: Ja, in dem Maße, wie unsere Arbeit das Werk anderer Musiker beeinflusst hat. Darauf sind wir sehr stolz. Musik bedeutet immer eine Möglichkeit von Variationen. Jemand hört etwas, mag es, und will es dann selbst versuchen. Geh mal auf unsere Website und schau dir die Sektion über “Fifty For The Future” an, zum Beispiel Rhiannons Stück, das sie für uns geschrieben hat. Wir haben jetzt Stücke von 15 Komponisten gesammelt und Quartette aus 50 Ländern haben Stücke heruntergeladen um sie zu spielen. Kronos hat Stücke bei allen Arten von Komponisten in Auftrag gegeben, nicht nur im Rahmen dieses Projekts, und die werden in Konzertprogrammen anderer Gruppen aufgeführt, da sind wir sehr stolz drauf. Es müssten bis heute ca. 300 unserer Stücke sein, die über die ganze Welt verteilt gespielt werden.
Ihr globalisiert die Literatur des Streichquartetts, dazu auch noch mit kostenlosen Partituren!
Harrington: Ja, denn wir sind daran interessiert, diese Musik unter die Leute zu bringen. Tag und Nacht!
Nach all den Erfahrungen, die du innerhalb des Quartetts gemacht hat, wie würdest du seine Essenz beschreiben. ist es immer noch die „Unterhaltung von vier vernünftigen Leuten“, wie Goethe seienerzeit sagte?
Harrington: Es ist ein ganz wunderbarer Zugang zum Leben, den ich entdeckt habe. Es ist wie eine kleine Familie. Die anderen drei sind im Nebenzimmer und warten darauf, dass wir mit einer Probe beginnen können. Und ich brenne darauf, ihnen etwas vorzustellen, was ich gestern Abend gehört habe. Es fühlt sich wie “wir und den Rest der Welt”. Wir stellen uns der Welt der Musik, saugen alles auf, was wir wunderbar finden, und wir versuchen, unsere Zuhörer zu einer aktiven Entdeckungsreise zu ermuntern, ihnen zu zeigen, wie die Musik allein das Denken verjüngen kann, es uns erlaubt, neue Dinge über die anderen Menschen herauszufinden. Mit John, Hank und Sunny jeden Tag spielen zu dürfen ist eines der größten Vergnügen. Ich genieße es heute mehr als ich es in meinem ganzen Leben getan habe.
© Stefan Franzen