The Ninth Wave
Maritime Schauermär
Er könnte Maßstäbe für alle Kollegen setzen, die sich vom digital durchgestylten Zirkus absetzen wollen: der Zweite Akt aus Kate Bushs Show Before The Dawn. Die genialste Suite der Popgeschichte überhaupt – endlich hat sie zu ihrer wahren Bestimmung gefunden.
Bush hat diese maritime Schauermär zu einem labyrinthischen Spiel aus Traum und Wirklichkeit auf das Doppelte der Zeitdauer gestreckt. Dass die Konzeptsuite aus dem Album Hounds Of Love zum Klangtheater wird, mit Unterstützung von Adrian Noble, ehemals Leiter der Royal Shakespeare Company, hat man sich dreißig Jahre lang gewünscht.
Abtauchen in den Wassertank
Eine Ertrinkende erlebt eine Nacht im Wasser, mitsamt den Vorspiegelungen ihrer Fantasie zwischen wachendem Entsetzen, Schlaflähmung und Absinken ins Reich der Toten. Das ist der genauso schlichte wie irre Plot, und er wird so hautnah, so beklemmend erzählt mittels Musik, szenischer Darstellung und Videoprojektion, dass man selbst glaubt, mit Bush im Wassertank zu liegen. Denn dorthin hatte sie sich in der Vorproduktion tatsächlich für Stunden begeben, um die Stücke teils neu einzusingen. Sie bestand darauf, nur so klinge es authentisch. Auf der Leinwand (= Realität) erlebt man zunächst, wie ein Hobbyastronom in die Geschichte einführt. Er hat einen Funkspruch eines untergegangenen Trawlers bruchstückhaft empfangen. Dann öffnet sich mit wabernden blauen Tüchern erneut das Bühnenbild (= der Traum, das Jenseits). Fish People mit Skelettmasken treiben im Gerippe eines Wracks ihr Unwesen, die Totengötter der Tiefe. Rauschende, blubbernde 360 Grad-Sounds, Geräusche treffen von überall aufs Ohr. Auf der Leinwand ist nun Bush in Rettungsweste zu sehen, wie sie durch die tiefschwarzen Wellen treibt, aus verzweifelten Augen schaut sie empor, singt somnambul „And Dream Of Sheep“.
Wer die Suite kennt, eilt der Aufführung von Station zu Station mit der Frage voraus, wie denn nun das nächste Alptraumbild visuell umgesetzt wird. Und es geht Schlag auf Schlag: Zu „Under The Ice“ versucht der Chor einen Rettungsversuch mit Kettensäge, Bush sieht sich selbst unterm Eis, wird von der Mannschaft herausgezogen, entgleitet aber wieder in die Tiefe und muss vor das Tribunal des Herrschers Tesoro, den Ben Thompson unerbittlich verkörpert. Die Szene geht qn die Nieren, ist physisch ausagiert mit Umklammern, Schreien, Wehren. Ein Beleuchtungskasten schließlich macht an der Decke des Apollo eine Metamorphose zum Helikopter mit Suchscheinwerfer durch, mit großem Getöse schwebt er überm Publikum. Der Pulsschlag hämmert, man bräuchte was zum Durchatmen. Und bekommt es auch.
Grabesgesang der Fish People
Denn es wird jetzt wirklich klassisch theatralisch, und die Szene entbehrt nicht eines gewissen Humors: Ein schwankendes Zimmer kommt auf die Bühne geschippert. Darin sitzen – mit großem Talent, aber etwas zu altklug agierend – Sohn Bertie und der Vater (Bob Harms), ein typisches Männergespräch entspinnt sich, der Hausmann scheitert mit der Zubereitung eines Essens, und beide wundern sich über den Verbleib der Mutter. Die steht plötzlich als Geist hinter der Bühne. „Watching You Without Me“ setzt ein, und die Protagonistin versucht verzweifelt die Aufmerksamkeit zu erregen, macht rhythmisch „whoo“ ins Gesicht des Vaters, packt Bertie und schüttelt ihn zu den zersplitterten Sprechgesangspassagen. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass das ja auch Züge der Schlussszene von „Wuthering Heights“ hat: „Let me in your window.“ Es folgt ein kurzes, komplett neu komponiertes Acappella-Stück, in dem der Chor fast die Funktion aus einer griechischen Tragödie annimmt. „Jig Of Life“, dieser lebensverzweifelte irische Rundtanz kommt in der Liveversion noch erdiger, doch ich frage mich, ob da nicht einige Spuren vom Band eingespielt werden. Der Dudelsack immerhin ist real, er kommt von Kevin McAlea, ansonsten Keyboarder, und einzig Verbliebener aus der „Tour Of Life“ von 1979. Als Bush „Let Me Live“ schreit, live aus dem Wassertank zugeschaltet, frösteln 4000 Mitleidende.
Und dann die Krönung der ganzen Suite, „Hello Earth“. Die Dimensionen vermischen sich zu einem atemberaubenden Verwirrspiel. Über dem nächtlichen Meer spannt sich der Sternenhimmel, von dem aus der Blick zur Erde geht im Originalsong. Universum und Ozean spiegeln sich hier jetzt. Eine Boje taucht aus dem Wasser auf, die Schiffskollegen haben sich darauf gerettet, auch Bush gelingt es, sich dranzuklammern und über den heftig schwankenden Wellen diese Wahnsinnsmelodie zu singen, diese Botschaft aus dem Nirwana. Doch es hilft nichts: Zum Entsetzen der gebannten Zuschauer wird sie von den Fish People zurückerobert und schließlich zu den schaurigen, georgischen Chorgesängen zu Grabe getragen, ins Publikum hinein. Das wird nicht live gesungen: Die Richard Hickox-Singers kommen aus der Konserve.
Wie das Erwachen im „Morning Fog“ geschieht, wie die Erlösung aus dem nächtlichen Drama hinein ins Tageslicht inszeniert wird, das kann einem schier die Tränen in die Augen treiben: Die Band kehrt zurück auf die erleuchtete Bühne, wunderbar leichtfüßig in Dur ist diese Folk-Coda arrangiert, mit Akkordeon und vielen Zupfinstrumenten, ein Liebesshanty mit Tänzchen. Und ein wenig überwältigt, mit der Hand auf dem Herz, bedankt sich die Hauptdarstellerin für die ihr entgegentobende Begeisterung. Vorhang.
© Stefan Franzen