(he)artstrings #21: Anrufung im Regengroove

„De Cara A La Pared“ (Lhasa De Sela & Yves Desrosiers)
aus: Lhasa – La Llorona (Audiogram, 1997)

Dieser Tage schickte mir das Montréal Jazz Festival einen Hinweis auf ein Tributkonzert an Lhasas Album La Llorona. Zwanzig Jahre ist es schon her, dass dieses Debüt erschien, ich kann das kaum glauben. Damals arbeitete ich in einem Plattenladen, und jedes Mal wenn ich die CD einschob und dieses Eingangsstück mit dem prasselnden Regen und dem Groove aus Wasser ertönte, legte sich sofort eine traumgleiche Stimmung über den Verkaufsraum.

Lhasa lässt in diesem Stück ihr ansonsten so gebrochenes, tiefes Timbre beiseite und singt in einer eher hohen Tonlage, nicht nur  melancholisch, sondern fast tränenerfüllt. Dazu treten die Gypsy-hafte Geigenmelodie und die perkussive Gitarre. Wenn sich die Stimme zu Chören schichtet, hört sich das fast an wie ein in der Ferne heulender Zug. „Ich weine, mit dem Gesicht zur Wand, die Stadt erlischt, ich weine, und nichts bleibt mir, als vielleicht zu sterben. Wo bist du?“: Im Grunde ist „De Cara A La Pared“ eine einzige Anrufung an die Mutter Gottes, sie möge die Liebesbedürftige erhören, ein Betteln um Befreiung aus der Einsamkeit. Und die Tränen werden zum Rhythmus, zur Sintflut, die die Sängerin umschließt.

Ich bin gespannt, wer am 16. Dezember beim Tributkonzert in Montréaler MTELUS dieses fast nicht zu covernde Lied interpretieren wird. Um 20 Jahre La Llorona zu feiern, gibt es über das Konzert hinaus von Lhasas Label Audiogram eine neue CD mit bislang unveröffentlichten Live-Aufnahmen aus Reykjavik von 2009. Wer diese einzigartige US-mexikanische Sängerin noch nicht kennt: Als sie am 1. Januar 2010 die Welten wechselte, habe ich für den Blog des Radiosenders byte.fm einen Nachruf verfasst, der immer noch hier nachzulesen ist.

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Lhasa de Sela: „De Cara A La Pared“
Quelle: youtube

Update Kanada III: Terminal City

               Foto: Stefan Franzen

Ende Februar konnte ich den eisenbahnverrückten Montréaler Bassist, Arrangeur und Komponist Erik West Millette in seinem West Trainz-Laboratorium in Mile End treffen. Damals hat er schon angekündigt, er arbeite an einem Werk, das der Canadian Pacific Railway ein Denkmal setze, außerdem beschäftige er sich mit der Geschichte der Railway Workers und der Hobos. Nun ist eine erste Kostprobe zu hören. „Terminal City Trainz“ ist Eriks Tribut an die Arbeiter, gebaut aus Loops von Hammerschlägen, Zugsirenen, Wolfsgeheul und Hafengeräuschen.

Eriks neuer Track ist Teil eines Projekts, das Kanadas staatlicher Rundfunk CBC aufgegleist hat: Mit canadasound.ca haben die Radioleute zum 150. Geburtstag Kanadas eine Website ins Leben gerufen, auf der bekannte Musiker Songs und Soundscapes beisteuern, die typisch kanadische Klänge in sich tragen. Beteiligen können sich im übrigen alle, die Audio Files von kanadischen Klängen beisteuern wollen. Eine CD-Kompilation der Song-Abteilung von CanadaSound, etwa von Florence K,  Walk Off the Earth, Karl Wolff oder Kevin Hearn von den Barenaked Ladies, wird im Februar 2018 erscheinen.

 Erik West Millette: „Terminal City Trainz“
Quelle: youtube

Update Kanada II: Québexpérimental

                                                              Foto: Etienne Dufresne

Eine der großen Überraschungen meiner Kanada-Reise war das Interview mit der Songwriterin Geneviève Toupin aus Manitoba, die in Montréal ihr doppeltes Diaspora-Erbe (Première Nation und französisch) zu spannenden, atmosphärischen Liedern geformt hat. Mit ihrem neuen Projekt Chances geht sie jetzt ganz andere Wege:

Zusammen mit Chloé Lacasse (ebenfalls Keyboards und Stimme) und Vincent Carré an den Drums ist sie schon lange bühnenerprobt. Alle drei hatten Lust, neue Räume für Experimente zu schaffen, und jetzt stellen sie einen kräftigen, frischen Electro-Sound mit Einflüssen aus Toupins Ojibwe-Erbe bis zu Dreampop auf die Beine, dem ich im März bei seiner Premiere lauschen konnte.

Drei Singles haben Chances mittlerweile veröffentlicht, die aktuelle nennt sich „Rishikesh“ und bringt augenzwinkernd indisches Flair mit den frühen Synthi-Spielereien der Siebziger unter einen Hut. Chances denken derzeit darüber nach, für ein paar Konzerte Deutschland anzusteuern. Also Augen und Ohren auf!

Chances: „Rishikesh“
Quelle: youtube

Update Kanada I: Scandi-nadian

Fast neun Monate nach meiner Rückkehr aus Kanada blicke ich in mehreren kurzen Kapiteln zum Jahresende wieder über den Atlantik.  Denn mittlerweile hat sich Einiges bei den Künstlern getan, die ich für die Canada 150-Serie besucht und interviewt habe. Mein Lieblingsviolinist Jaron Freeman-Fox ist dieses Jahr rastlos unterwegs zwischen Tuva und British Columbia. Zur Zeit macht er für das Projekt „Hardangers/Harbingers“ einen Stopp in skandinavischen Breiten – dieser Tage hat er mit dem Drummer Petter Berndalen in Stockholm eine fantastische Spontansession abgehalten, die er mit uns teilt. Wer mehr zu Jaron lesen möchte, hier gibt es mein Interview, das ich im Februar mit ihm in Toronto geführt habe.

Jaron Freeman-Fox & Petter Berndalen: Improvisation take 2
Quelle: youtube

Acoustic India im Jazzclub


Nitin Sawhney
Live At Ronnie Scott’s
(Gearbox/Edel)

Unter den Protagonisten der British Asian-Szene war Nitin Sawhney immer derjenige mit dem größten Hang zum Jazz. Zwar spielte auch die Electronica-Philosophie des Asian Underground immer wieder eine Rolle in seiner Arbeit, dominierte sie aber nicht. Dass Sawhney eine Rückschau auf seine zehn Werke als intimes Akustik-Liveset präsentiert, zeigt, wie stark seine Songs auch ohne jeglichen Schickschnack bestehen. Im renommierten Londoner Jazzclub vermählt er in Septett-Besetzung Souliges immer wieder organisch mit Subkontinentalem, mit am schönsten im Opener „Sunset”. Maßgeblich am Gelingen beteiligt sind die beiden dunklen Stimmen von Eva Stone und Nicki Wells, die auf die indischen Färbungen von Ashwin Srinivasans Bansuri und Aref Durveshs Tabla treffen.

Ein Cello sorgt für warmen, melancholischen Hauch, und inmitten seines Ensembles verbindet Sawhney als virtuoser Könner und einfühlsamer Begleiter an der akustischen Sechssaitigen. „Homelands” vereint rasanten indisches Vokalmäandern mit fast balkanesker Rhythmik, „Herencia Latina” lugt mutig in den Flamenco hinein, „Tere Khyal” begibt sich tief in eine nokturne Raga-Stimmung, und mit „The Conference” gibt das Ensemble ein Kabinettstückchen von Khonakol-Virtuosität, dem indischen Silbengesang. Weit breitet Sawhney mit „Breathing Light” am Piano balladeske Schwingen aus, und „Nadia”, im Original mit hibbeliger Elektronik gewoben, ist hier purer meditativer Genuss.

Die Überwindung des Hipstertums

Robin Pecknold, Palace Theater St. Paul, NY, September 2017, Foto: Andy Witchger

Fleet Foxes
Palladium Köln, 1.12.2017

Der kalte Kasten im Kölner Norden, der sich Palladium nennt, ist für diese Musik eigentlich denkbar ungeeignet, so die erste schockartige Erkenntnis bei der Ankunft an diesem Grau-in- Schwarz-Novemberabend. Denn verkörpern die Fleet Foxes aus Seattle nicht die romantischste Band der Bewegung zarter Americana-Folkies? Fördern ihre terzenseligen Melodien nicht Im-Frühtau-zu-Berge-Aufbruchstimmung für globalisierte Wandervögel?

Das war auf den ersten beiden Alben sicherlich so – doch mit dem Werk Crack-Up ist die Musik der Westküstler weitaus abstrakter geworden, eine konzeptartige Suite mit Verweisen auf aktuelle Politik genauso wie auf die Antike. Und wie sich beim Rundblick ins Publikum schnell zeigt, sind sie auch keine Hipsterband mehr, sondern ziehen ein heterogenes Völkchen an: aufgeregte amerikanische Studentinnen genauso wie Mittfünfziger, die darüber diskutieren, ob Alice Cooper die ersten beiden Zappa-Platten produziert hat (oder nicht eher umgekehrt), und eine bierselige Clique, die alle Lieder textsicher so falsch mitgrölen wird, als seien es Bon Jovi-Klopfer.

Crack-Up lebt von so komplex gebauten Stücken mit nahezu absurden Tempi- und Harmoniewechseln, dass eine Live-Präsentation wenig Raum für Improvisation lässt. Es am Stück zu spielen, würde in Langeweile enden. Sänger Robin Pecknold und seine Mitstreiter machen das einzig Richtige: Sie zerpflücken ihr drittes Werk auf der Bühne in drei Teile. Den grummelnden Beginn von der Platte ersetzen sie durch ein fanfarenartiges Klassikstück (Aaron Copland?) und steigen dann kraftvoll in „Arroyo Seco“ ein. Die tighten Gesangsharmonien, die auf Tonträger nach vielstimmigem Chor klingen, wuppt der Frontmann allein mit dem Bassisten Christian Wargo, sein enger Mitstreiter Skyler Skjelset konzentriert sich auf gitarristische Feinarbeit, streicht die Saiten auch mal wie es sein Kollege von Sigur Rós tut.

Die Trumpfkarten für die schöne Textur des Sounds hat Morgan Henderson in den Händen: Er umrahmt in den Tiefen mit wunderbarem Streichbass und Euphonium, in den Höhen mit einer nicht unnötig ätherischen Querflöte und ganz vereinzelt auch mit einem freien Sax-Ausbruch. Von der Auffächerung der Klangfarben her glaubt man sich in solchen Momenten in einer Genesis-Show Anfang der 1970er.

Sehr bald schon streuen die Flottenfüchse Hits aus ihrem Frühwerk ein: Zum jubilierenden „White Winter Hymnal“ laufen verschneite Felswände auf der Leinwand, andere landschaftstrunkene Klassiker wie „Blue Ridge Mountains“ oder „Battery Kinzie“ folgen. Gerade von diesem Wechsel zwischen den straighten folkigen Tönen und den philosophischeren Windungen der Jetztzeit lebt die Show. Und irgendwann steht Pecknold dann tatsächlich ganz allein unter einem gigantischen Sternenhimmel da. Seine Stimme kann das, was vielen Hipster-Sängern der ersten und vor allem zweiten Welle abgeht: völlig unblasierten, unprätentiösen Wohlklang liefern.

Kernstück des Abends ist die zweite Hälfte von Crack-Up in einem Rutsch ab „Mearcstapa“. Beim extrem räumlichen, großorchestralen Sound der CD-Vorlage muss die Band hier zwangsläufig Abstriche machen, doch die Brüche zwischen den Akkorden und fast polyrhythmischen Verwerfungen kommen flüssig, vor allem Ergebnis der großartigen Verständigung zwischen Skjelset und Pecknold und der souveränen Taktgebung von Mattthew Barrick.

Es gibt nur einen Moment kurz vor dem allerletzten Finalakkord, in dem die Vokalharmonien so dick aufgetragen werden, dass das Wort „Kitsch“ durch den Kopf schießt. Doch hätte man vor 50 Jahren auch nur im entferntesten daran gedacht, Simon & Garfunkel oder die Pet Sounds der Beach Boys als cheesy zu bezeichnen? Wer es schafft, den vorherrschenden, kalten Hauch des Zeitgeists von 2017 abzustreifen, der muss einfach zugeben, dass die Fleet Foxes auch live die perfekte Balance zwischen Hippie und Hirn gefunden haben.

© Stefan Franzen

Fleet Foxes Live at Down the Rabbit Hole,24.6.2017
Quelle: youtube

Die Eroberung von Elysium

Björk
Utopia
(One Little Indian)

Ihr Leib: nur noch ein Block aus schwarzer Lava-Schlacke, geopfert auf dem Altar der Schmerzen. Ganz allmählich kann sie die Vagina-artige Wunde in ihrem Brustkorb mit silbernen Perlen und leuchtenden Fäden schließen, die Heilung beginnt. Mit plakativer Symbolik wie dieser breitete Björk auf dem Vorgängeralbum Vulnicura (Wundpflege) die einzelnen Kapitel ihrer Trennung aus. Utopia ist ein logischer Nachfolger: Die Genesende erzählt uns, nicht minder episch, nicht weniger bildgewaltig, wie sie zur ewigen Kraft der Liebe zurückfindet – ohne die Narben zu verschweigen.

Um die radikale Preisgabe von Emotionen in Musik und Text für sich und ihr Publikum erträglich zu machen, hüllt sich die Isländerin seit einiger Zeit in Video, Bild und auf der Bühne in maximale Maskerade: Auf dem Cover präsentiert sie sich als extrem stilisiertes Zwitterwesen zwischen Klingonenkriegerin und Porzellanpuppe, die Vagina ist auf die Stirn gewandert, ein Fötus ruht an ihrer Schulter, eine Flöte hält sie in der Hand. Hatte sie auf den vergangenen Werken schon immer eine bestimmte Klangfarbe mit Elektronik kombiniert, mal einen Chor, mal Blechbläser oder ein Streichquartett, ist es diesmal tatsächlich ein vierzehnköpfiges weibliches Flötenensemble, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Für die Synths hat sie sich wieder den Venezolaner Arca geholt, Harfe und Cello bereichern in Nebenrollen den überwältigend räumlichen Sound.

Zunächst fällt es nicht leicht, sich innerhalb der 72 Minuten zurecht zu finden. Denn irgendwann um das „Medulla“-Album herum ist Björk die melodische Strahlkraft der früheren Werke abhanden gekommen. Statt zu Hook Lines und Refrains neigt sie oft zu einer Art Rezitation, für die sie in der isländischen Tradition des Rímur-Gesangs ein Vorbild hat. Doch da jeder „Song“ auf eine geschlossene Geschichte verzichtet, stattdessen einen Seelenzustand beschreibt, eine „emotional landscape“, wie sie es schon im Hit „Jóga“ vor zwanzig Jahren sang, passt es wiederum, dass sie Phrasen wiederholt statt entwickelt.

Nach der gleichnamigen Datingplattform hat Björk Utopia scherzhaft als ihr „Tinder“-Album bezeichnet. Und am Anfang sind wir wirklich Ohrenzeuge einer neuen, spontanen Liaison, in der jeder Kuss eine Explosion ist, Vokalspuren als Freudenschreie getürmt werden. In der Harfengirlanden umherschwirren und – wie in der Single „The Gate“ – immer wieder die Fürsorge für den anderen beschworen wird. Das Verliebtsein wird durch Musik getriggert: Sie ist vernarrt in seine Songs, Mixtapes werden als Streicheleinheiten ausgetauscht. Dass Björk ein zuckrig-verzärteltes Turteltauben-Werk serviert, glaubt man spätestens, als seufzende Exotikvögel den ersten Auftritt der Flöten umgarnen – und die kommen nicht als wildes, phallisches Element daher, sondern fast höfisch-barock. Doch auch wenn diese „Paradise Pipers“ jetzt nicht mehr von den Hörern weichen, kippt genau hier die Stimmung.

Utopia will erst erobert werden, und dafür durchmisst Björk nochmals ihre Schmerzensbahn: Unterstützt durch einen Chor erzählt sie mit gewaltiger Sounddramaturgie von der Entfremdung der Liebe in der Stadt, träumt sich ins mythische Nordland zurück, wo Körper und Natur verschmelzen. Hier bekommen Arcas atmende Beats mehr und mehr ihre große Stunde: Sie scheren sich oft nicht um Taktgebungen, sind eher Herzstolperer, dazwischenfauchende Wesenheiten, zischende Geysire, bis über die Grenze der soundtechnischen Überfrachtung hinaus geht das. Wir müssen abtauchen in die Schattenseiten, in die Tretmühle der Liebe: unerwiderte Gefühle, bittere Rache, patriarchale Übergriffe, das Vererben der Elternsünden an die Kinder.

In all dem Tumult mühen sich die Flöten, Leitfaden zum Licht zu sein, und therapeutische Sätze wie dieser: „Loss of love we all have suffered / how we make up for it defines who we are.“ Endlich kann in „Claimstaker“ das Land Utopia neu in Besitz genommen werden, mit allen Sinnen und dem Körper, der bei Björk auch immer Biographie und Geologie ist. Leider verpufft am Ende diese großartige Ohrenkino in einem entrückten Elysium. Der Himmel hängt voller Flöten, als eine allegorische Heilige auftritt und zum Reich ewiger Liebe geleitet: „Music heals, too, and I‘m here to defend it.“

Dann löst sich jegliche Rhythmik auf, selbst das Vogelkonzert verstummt. Synthetische Steeldrums und Björks verzückteste Sopranlinien duettieren. Nach so viel Körperlichkeit, nach so viel Kampf das Vakuum, „Utopia“ wörtlich genommen als „Nicht-Ort“. Björk, die Jeanne d‘Arc der Musik (= Liebe) im luftleeren Raum, das ist eine anrührende, aber irgendwie auch unbefriedigende Apotheose.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 29.11.2017

Björk: „The Gate“
Quelle: youtube

Die Krümel des Flamenco


„Wir sind die Krümel, die vom Flamenco-Brot abfallen“ – so formulierte es die Sängerin Sílvia Pérez Cruz einmal, als sie nach dem lustigen Namen des Frauenquartetts Las Migas (migas = Krümel) gefragt wurde. In der Tat hat die 2004 von Musikstudentinnen gegründete Band aus Barcelona voller Respekt den Flamenco immer als Anlaufstation genutzt, allerdings in einer sehr freien Les- und Spielart. „Der Flamenco hat seine Wurzeln in all unseren Familien“, sagt die klassisch ausgebildete Gitarristin Marta Robles aus Sevilla, die auch etliche der Songs schreibt, im Interview mit El Mundo. „Er berührt uns vor allem, weil er aus den Dörfern, aus der Armut kommt. Alles an ihm ist authentisch. Es ist eine Musik, die Wahrheit atmet.“

Anfangs traten die vier als multinationale Angelegenheit mit katalanischer Vokalistin, zwei andalusischen und bretonischen Gitarristinnen und einer deutschen Geigerin auf den Plan, und sie deckten auch abseits des Flamenco von Klassik bis Bossa viele Facetten über Iberien hinaus ab. Schnell machten sich die Frauen über Spanien hinaus einen Namen, galten als sympathisch-sinnliche Vorreiterinnen eines neuen weiblichen Aufbruchs in der mediterranen Weltmusik. Turbulent drehte sich in den letzten Jahren das Besetzungskarussell der „Krümel“. Sílvia Pérez Cruz ist ausgestiegen und verfolgt mittlerweile eine grandiose Solokarriere. Geblieben ist im neuen, wiederum rein weiblichen Aufgebot von den Gründerinnen nur Marta Robles. Geblieben ist aber ebenso die Vorliebe für den Flamenco, auch wenn nach der Experimentierphase nun alles ein wenig poppig gestrafft tönt.

So zumindest auf dem dritten Album Vente Conmigo, das in Spanien zum besten Werk des Jahres in diesem Genre gekürt wurde. An der Vokalposition agiert seit einigen Jahren Alba Carmona: Sie wurde als Flamencosängerin ausgebildet, hat das Genre mit koreanischen und brasilianischen Begegnungen bereichert, sang in Carlos Sauras letztem Bühnenspektakel oder mit dem aufstrebenden Flamencogitarristen Jesus Guerrero. In ihrer Stimme finden sich noch Spuren aus dem rauen, traditionellen Cante Jondo, doch sie ist genauso imstande, einen Popsong mit romantischem Schmelz zu krönen. Marta Robles und Alicia Grillo, die beiden Andalusierinnen, teilen sich die Gitarrenarbeit in ausgefeilten Arrangements, ohne sich mit allzu viel Virtuosität hervortun zu müssen. Auch die Geige ist weiterhin fest im Las Migas-Sound verankert: Roser Loscos flicht mit ihr jazzige Töne und Anklänge an Bluegrass ein; besonders wenn sie Carmonas Stimme umgarnt, führt das zu einem geschmeidigen Dialog.

Auffällig am neuen Repertoire ist ein Hang zum lateinamerikanischen Flair: Immer wieder mischen sich in die Flamenco-Vokabeln Rhythmen und Melodien, die aus der kubanischen oder argentinischen Musik bekannt vorkommen. Schließlich zollt das Quartett auch seinem Standort Barcelona Tribut: Mit „La Plaça Del Diamant“ ist ein Klassiker aus dem Repertoire von Ramon Muntaner eingeflossen, einer der Liedermacher-Protagonisten aus der heißen Phase der Nova Cançó-Bewegung Kataloniens. Las Migas sind mit ihrem katalanisch-andalusischen Doppel ein besonders charmanter Beweis dafür, dass über alle politischen Unebenheiten hinweg diese beiden Regionen gemeinsam großartige Kultur hervorbringen können.

Las Migas sind auf Tournee durch D-A-CH:
23.11. Mainz, 24.11. Innsbruck/A, 25.11. Biel/CH, 27.11. Freiburg, 28.11. Schaan/LIE, 30.11. Stuttgart, 1.12. Berlin. mehr Infos auf ihrer Website.

© Stefan Franzen

Las Migas: „La Plaça Del Diamant“
Quelle: youtube

Goodbye, Deloreese

Von Klassik über Gospel bis Blues, von Schlager über Jazz bis Funk: Sie war eine der vielseitigsten Diven des 20. Jahrhunderts. Mein Lieblingstitel von ihr war immer die bissige Version des Les McCann-Protestsongs „Compared To What“ von 1969. RIP Deloreese Patricia Early alias Della Reese.

Della Reese: „Compared To What“
Quelle: youtube

Spiritueller Triumph

Sharon Jones & The Dap-Kings
Soul Of A Woman
(Daptone/Groove Attack)

Wie singt jemand im Angesicht des Todes den Soul? Bei der vor einem Jahr verstorbenen Sharon Jones scheint die Gewissheit über das Kommende einen heiligen Ernst entfacht zu haben. Auf dem nun posthum erscheinenden Soul Of A Woman hat sie zu einem machtvoll glühenden Ton ohne ein Quäntchen Pathos gefunden, der in „Matter Of Time“ oder „Sail On“ an die Intensität von Aretha Franklins ersten Atlantic-Alben erinnert, flankiert von den beißenden Horns der Dap-Kings, die wie ein großes Groove-Organ atmen.

Und in der Mitte passiert etwas Großartiges: Nach der weitgehend funky A-Seite (auch die CD folgt der LP-Ästhetik), reihen sich fantastische Balladen ganz unterschiedlicher Couleur aneinander: Ihr Phrasieren zur glimmenden Orgel in „Pass Me By“ gemahnt an den Minimalismus des jungen Al Green, das zum Niederknien mit Motown kokettierende „When I Saw Your Face“ lebt von gleißenden Streichern, „Girl“ von orchestralem Hochgebirge. Das kurze Album verdankt seine Magie auch der exzellenten Produktion – der unglaublich kompakte, zeitlose Sound macht Prädikate wie „retro“ endlich überflüssig. „Call On God“ heißt das Gospel-betupfte Finalstück aus Jones‘ eigener Feder – ein Schwanengesang, der zum spirituellen Triumph über den Tod geraten ist.

Sharon Jones & The Dap-Kings: „Call On God“
Quelle: youtube