Portugals neuer Aufbruch

A Cantadeira / Omiri
Burghof Lörrach 
15.11.2024

MARO
ZOOM Frankfurt
18.11.2024


 alle Fotos © Stefan Franzen

Als der Liedermacher José Afonso in den 1960ern loszog, um Portugals regionale Musikkulturen kennenzulernen, war er verblüfft über die Klangfülle seiner Heimat. Dass seine Lieder so einzigartig wurden, verdankt er auch den Einflüssen aus diesem Reichtum. Es ist beklagenswert, dass heute der Fado das Bild Portugals nach außen dominiert, denn diese Fülle ist auch bei der jungen Generation als Inspiration immer noch lebendig und verdient einen Export. 

Eine zentrale Gestalt der neuen, jungen Folkszene ist Joana Negrão. Die Frau aus Setúbal hat lange Jahre über die mündlich überlieferte Musik ihres Landes recherchiert und sie mit Bands wie Dazkarieh oder Seiva modernisiert. In ihrem Soloprogramm, das unter dem Namen „A Cantadeira“ (die Sängerin) läuft, verdichtete sich im Burghof Lörrach ihre bisherige Arbeit: Mit Solostimme, Laptop, der Gaita (Portugals Dudeldack) und der einzigartigen quadratischen Rahmentrommel Adufe entwirft sie übereinandergeschichtete Klanglandschaften. „Ich möchte die Tradition der Vorfahren mit dem verschmelzen, was ich in meinem Alltag als Frau, Mutter und Künstlerin an Herausforderungen und Dilemmata erfahre“, sagt Negrão über ihr aktuelles Programm „Tecelã“ (Webstuhl). Ihre ausdrucksstarke Stimme steht im Brennpunkt  dieser Soundscapes, die genauso in der südlichen Region Beira-Baixa wie im nördlichen Bergland von Trás-os-Montes wurzeln. Das Ergebnis ist tanzbar, seelenvoll und archaisch zugleich. Manchmal wirken ihre langen Ansagen ein wenig wie eine  – dabei sehr unterhaltsame – musikethnologische Vorlesung, doch legt sie damit nur offen, wie ernst es ihr um das Anliegen ist, die Roots Portugals sichtbar und international bekannt zu machen.

Negrãos ehemaliger Dazkarieh-Bandkollege Vasco Ribeiro Casais geht mit seinem langjährig angelegten Projekt Omiri noch einen Schritt weiter: Er kartographiert seine Feldaufnahmen von Sängern und Musikern aus allen portugiesischen Regionen regelrecht und macht sie zur Grundlage seiner durchgängig Dancefloor-tauglichen Arrangements. Während seiner Show sind die traditionellen Akteure auf einer Videoleinwand zu sehen: Trommler in Tracht, seelenvolle Sängerinnen vor ihrem Haus, aber auch etwa Feldarbeiter oder Straßenpflasterer. Ribeiro Casais bettet das folklorische Grundmaterial in wuchtige Perkussion, spielt dazu schnurrende Schlüsselfiedel, das zehnsaitige Zupfinstrument Viola Braguesa, die brasilianische Ukulele Cavaquinho, Dudelsack und Bouzouki. Die reizvoll synchronisierte Interaktion zwischen dem Archivmaterial und den live gespielten Instrumenten hat technoide und zugleich zutiefst rustikale Züge. Es ist ein ergreifendes und genauso tanzbares Seelenbild einer Nation zwischen Vergangenheit und Moderne.

Drei Tage später, Spielort ZOOM Frankfurt. Der ehemalige Techno-Club im östlichen Industriegebiet der Stadt ist nach dem Umbau ein Spielort auch für ruhigere Konzerte geworden. An diesem Abend ist die junge Portugiesin MARO zu Gast, die in Los Angeles in Quincy Jones‘ Kaderschmiede ausgebildet wurde und seit etlichen Jahren vor allem ein Social Media-Phänomen ist. Während der Pandemie hat sie mit Hunderten von Home Video-Duetten von sich reden gemacht, bei denen auch Prominenz bis hin zu Eric Clapton vertreten war. Und, ja, sie hat Portugal mit „Saudade, Saudade“ beim ESC 2022 vertreten (Platz 8!) Die Dichte von 20-30-Jährigen im Publikum ist durchmischt  mit Musikliebhabern älteren Semesters, denn die Klangsprache ihres aktuellen Albums Hortelã ist zeit- und alterslos.

Darío Barroso

MAROs Kennzeichen, die hauchige, „minzige“ Stimme, ist hier gestützt von lediglich zwei Gitarren, die aber in den Händen von den sicherlich derzeit größten Koryphäen Kataloniens liegen: Darío Barroso und Pau Figueres. Wie sie um die schlichten, manchmal ohrwurmpoppigen, dann wieder im Open Tuning-Folk beheimateten Songs ein Netzwerk weben, ist zum Niederknien. Mal geht es eher in vom Flamenco oder von der Rumba Gitán angetupfte Gefilde mit verblüffendem Interlocking von Schlageffekten, dann wieder in pure Melodieseligkeit mit kurz eingeflochtenen Solopassagen in hohen Lagen. „Lifeline“ ist so eine Miniatur, die sich von der Dancefloor-Version im Original mit Barroso und Figueres zum verzückten Sonnenstrahl gewandelt hat.

Von MAROs stimmlicher Unpässlichkeit, von der sie erst am Ende des Abends erzählt, merkt man nichts. Im Gegenteil: Für ihre 30 Jahre besitzt sie eine unglaubliche Bühnensouveränität, ihr Charisma ist pure Leutseligkeit mit Saal-Ansprache ohne Allüren. Ihr bewegendes Heil-Lied „Há-de-sarar“ geht mit melancholischer Grundstimmung unter die Haut. Bei „Ouvi Dizer“ animiert sie das Publikum zum Mitsingen des ausgelassenen „Ta-ri-di“-Refrains, in „We Could Be“ bringt sie ihrem Auditorium gar einen ganzen schleifenreichen Vierzeiler bei. Höhepunkt ist die ruhige, fast feierliche Liebeshymne „Juro Que Vi Flores“, in der die Gefühlsregungen wie feines Espenlaub zittern. Zwischendurch holt sie die beiden Niederländerinnen von Lumi auf die Bühne, die ein für meinen Geschmack etwas zu zuckersüßes Opening für sie gegeben hatten. Eine wirbelnde Solo-Einlage der Gitarreros lässt in der Schlusskurve den Atem stocken. Und zum Ende: „Saudade, Saudade“, ihr wiegender ESC-Beitrag: Feuerzeuge im Techno-Club.

© Stefan Franzen

MARO feat. Darío Barroso & Pau Figueres: „Lifeline“
Quelle: youtube

Konzerttipp: Intime Promenade


Es ist eine der spannendsten und rührendsten Lebensgeschichten, die ein afrikanischer Musiker zu bieten hat: Mit einem Savannen-Twist wurde er 1960 zum akustischen Symbol des unabhängigen Mali, geriet aber später völlig in Vergessenheit. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, hatte den Tod einiger Familienmitglieder zu verkraften, darunter den seiner Frau Pierette, die er abgöttisch geliebt hatte. Boubacar Traore, Afro-Blueser der ersten Stunde, wurde erst in den 1990ern wiederentdeckt, als der rührige Festival-Leiter und Labelchef Christian Mousset eines seiner alten Alben reeditierte.

„Boubacar kann melancholisch und verschlossen klingen“, sagte Mousset einmal über den Malier. „Aber seine Musik ist einzigartig auf der Welt, sie besitzt eine ungeheure poetische Dimension. Er betrügt dich nicht.“ Diese nackte Kombination von Stimme und Gitarre – das ist eine Schlichtheit, die man eigentlich nur mit dem Blues von Robert Johnson vergleichen kann. Gleichzeitig sind Traorés Melodien, die neben dem Blues auch von der Tradition der Kassonké-Ethnie geprägt sind, absolut einprägsam, sie gehen nie in die Härte eines Wüstenblues hinein, wie ihn sein Landsmann Ali Farka Touré pflegte. Es ist eine Musik, die außerhalb der Zeitläufte steht.

Nun geht die Legende mit 82 Jahren nochmals auf Europatournee, mit dem Mundharmonikaspieler Vincent Bucher und dem Perkussionisten Jeremie Diarra, und hat ein neues Live-Album im Gepäck. Im Jazzhaus Freiburg ist das Trio am kommenden Montag, den 11.11. ab 20h zu erleben.

Boubacar Traoré: „Hona“
Quelle: youtube

Kreolische Würde

Foto: Stefan Franzen

Leyla McCalla
Le PréO, Oberhausbergen (F)
6.11.2024

Avantgardistisch mutet es an, was der weiße Abolitionist Frederick Douglass 1857 formulierte, im Vergleich zu der jetzigen Situation Amerikas, wo sich nun mehr als die Hälfte eines Volkes sehenden Auges in die Steinzeit nicht etwa zurückgebombt, sondern demokratisch „zurück-gewählt“ hat. Douglass forderte, dass Befreiung und Gleichberechtigung nicht durchs bloße Darüber-Sprechen realisiert werden, sondern dass man sich zu transformativen Maßnahmen verpflichten muss. Von Befreiung und Gleichberechtigung ist das amerikanische Volk seit gestern wieder viele Tausend Meilen entfernt. Leyla McCalla zitiert Douglass im Titelsong ihres neuen Werks Sun Without The Heat.

An so einem Abend auf die Bühne zu gehen, muss für die US-Haitianerin, deren Eltern als Bürgerrechtler vor dem Gewaltregime Haitis geflohen waren, eine zentnerschwere Last gewesen sein. Die man ihr anfangs auch anmerkt. Die Show im PreÓ von Oberhausbergen im Strasbourger Vorland kommt nur schleppend in Gang, was aber auch am nicht ganz so starken Songmaterial des neuen Albums Sun Without The Heat liegt. Mit einer Widmung an die schwarze Bevölkerung der Atlantik-Inseln vor Georgia, die bis heute vom Leben in den USA abgehängt sind, eröffnet sie den Abend. Durch ihre Begleitgitarre schickt sie einen Filter, der die Akkorde herumeiern lässt. Ihr geradezu zierlicher Sologitarrist Nahum Zdybel steuert Schwelltöne, Rückwärtsschleifen und pointierte Kracher ein, während  ihr Drummer mit feinem Mallett-Zwirbeln und federnder Latin-Gestaltung die Rhythmen zwischen kreolischem Walzer, Samba-Anleihen und zupackendem Rockgestus entfaltet. Bassist Pete Olynciw bleibt eher unauffällig und relaxt.

McCalla spielt sich auch dank ihrer Band frei. Stark sind die auf Kreyol gesungenen Songs, die sie aus der Tradition Haitis bezieht, begeisternd ihrer Einschübe auf dem Cello, ihrem Herzensinstrument, dem sie seit der Ausbildung an der Juilliard School verbunden ist. Ihre rustikale, von aller Schönfärberei weit entfernte und doch so empfindsame Stimme im Verbund mit den Pizzicati und dem wunderbar volltönenden Bogenführung: vielleicht der Höhepunkt des Abends. Oder doch die Zugabe „Capitalist Blues“? Ein behäbiger, geschlurfter und bitter-ironischer New Orleans-Ton zieht sich durch dieses Stück, das eine charmante Verweigerung der Marktgesetze in dieser kalten Welt ist, die sie nicht „inspirieren“. „Ich schwimme im Haifischbecken und habe nichts mehr zu verlieren.“

„Wir brauchen den Humor an diesem Abend“, sagt sie, der sei nun überlebenswichtig. Und stößt einen Laut aus, der zwischen Stöhnen, Ekelbekundung und trotzigem Lachen liegt. Dass genau zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Markt-Höriger Nummer Eins vor die Tür gesetzt wird, kann sie nicht wissen. Leyla McCalla hat diesem absurden Tag mehr als einen Hauch humaner Würde zurückgegeben.

© Stefan Franzen

Leyla McCalla: „Crown“
Quelle: youtube

Seiltanzende Hoffnung

    Fotos: Stefan Franzen

João Bosco & Jacques Morelenbaum
Volkshaus Basel
22.10.2024

Sogar Polizisten haben geweint, als sie sein „O Bêbado E A Equilbrista“ auf Protestkundgebungen hörten, so ist überliefert. Mit diesem versonnenen Samba hat João Bosco seinem Volk Ende der 1970er  eine hoffnungsvolle Hymne geschenkt, als die Dämmerung der brasilianischen Diktatur heraufzog. „Die Hoffnung tanzt mit einem Schirm auf dem Drahtseil, und mit jedem Schritt kann sie sich verletzen“, heißt es da. Als Bosco, der heute 78-jährige, dieses Lied am Ende seines Auftritts im Basler Volkshaus anstimmt, ist es andächtig ruhig. Viele wissen, es könnte das letzte Mal sein, dass sie den 78-Jährigen auf der Bühne erleben.

Man höre drei bis vier beliebige Platten von João Bosco aus verschiedenen Phasen seiner Karriere – und man erhält ein umfassendes Bild der modernen brasilianischen Musik. Mehr als alle seine gleichaltrigen Landsleute hat der Gitarrenpoet mit dem markanten Gesicht – Kennzeichen Vollbart und Barett – das ganze Kaleidoskop Brasiliens im Laufe von 50 Jahren beeindruckend gebündelt. Den Samba erhob er zu hochstehender lyrischer Kunst, integrierte Afrikanisches und Arabisches, Jazz und Soul in seine Kompositionen. Private Liebe genauso wie die große Politik fasst er in Vierminutengeschichten, kreiert meisterhafte Lautmalerei. Neben Gilberto Gil, Caetano Veloso und Milton Nascimento ist er ohne Zweifel die vierte männliche Säule der Música Popular Brasileira.

Eine Säule, die sich auf der Bühne noch hochlebendig und viril zeigt. Boscos Gitarrenspiel ist noch immer ausgefuchst, rhythmisch vielgestaltig, komplex und präzise. Seine Gesangsstimme ist ruppiger geworden, die Ecken und Kanten, die er vokal immer schon hatte, treten noch mehr zutage, er bellt besonders die afro-brasilianischen Anrufungstöne, die Verweise auf die Musik der indigenen Yanomami auch mal heraus, spielt geradezu rotzig und trotzig mit dem Klang des Portugiesischen, das nicht weich und rund, sondern fordernden Charakter annimmt. Eine ganz eigene Form von lusophonem Scat hat er da geformt.


Als lyrischer Gegenpol agiert sein Partner: Jacques Morelenbaum, noch Mitglied der letzten Band von Antônio Carlos Jobim, hat auch mit 70 wenig von seinem vollmundigen, empfindsamen Gesang auf dem Cello verloren. Große Gestaltungskunst ist es, wie er über die Ausgangsmelodien improvisiert, sei es bei einem Bossa-Klassiker wie „Desafinado“, oder in einem Intro, das aus dem „Concierto de Aranjuez“ von Joaquín Rodrigo gebaut wird. 90 Minuten mit zwei alten weißen Brasilianern, die doch die ganze Welt in ihrer Duokunst fassen – ein nicht nur nostalgisches, sondern aktuelles, kurzweiliges Ereignis.

© Stefan Franzen

João Bosco, Vanessa Moreno Jacques Morelenbaum, Mestrinho: „O Bêbado E A Equilibrista“
Quelle: youtube

 

Regentschaft der Nacht

Fotos: Stefan Franzen

 

Arooj Aftab
Karlstorbahnhof Heidelberg
21.10.2024

Sie ist eine selbsterklärte Nachteule. Die Sängerin und Songwriterin Arooj Aftab (sprich: aruudsch), erste Grammy-Preisträgerin mit pakistanischen Wurzeln, verbeugt sich auf ihrem neuen Album Night Reign (Verve) vor der inspirierenden Kraft der Nacht. Ihr vorangegangenes Album Vulture Prince habe ich auf diesem Blog bereits in höchsten Tönen gepriesen. Und so war es Pflicht, sie endlich einmal auf der Bühne zu erleben, auch wenn der Weg zu dieser Bühne 200 km betrug.

Aftab schreitet vorsichtig, mit dunkler Brille ans Mikro des bestens besuchten Karlstorbahnhofs (ihre Augen, so entschuldigt sie sich, seien noch völlig verquollen von der nächtlichen Feier nach der Show in Berlin). Sie und ihre Band sind eingehüllt in majestätisches Dunkelblau. Sofort schafft diese Stimme eine fantastische Atmosphäre: Die Fülle ihres Timbres, gepaart mit den ornamentalen Schleifen, die zarte Diktion im Idiom Urdu, all das minimalistisch vorgetragen mit kaum einer körperlichen Regung und nur scheinbar halb geöffnetem Mund, greifen tief in meine Seele.

Arooj Aftab hat ihre Musik früher einmal als „Neo Sufi“ bezeichnet, davon ist sie abgerückt, das Etikett passt auch lange nicht mehr. Zwar beziehen sich einige ihrer Verse tatsächlich auf die mystische Poesie eines Rumi, wie in ihrem rhythmisch freien Remake von „Last Night“ (auf Vulture Prince noch ein Reggae), in dem der Mystiker die Schönheit des/der irdischen oder himmlischen Geliebten mit dem Mond vergleicht. Andere Verse aber sind deutlich jüngeren Datums, etwa aus der Feder der Urdu-Poetin Mah Laqa Bai Chanda, oder sie drehen sich um zeitgenössische Themen, wie etwa die unterbrochene Liebesanbahnung bei einer Party.

Singt sie auf Englisch, wie etwa in „Whiskey“, stößt sie auch mal angenehm an die Grenzlinie zum folkigen Pop. Doch in ihrem Gesang werden all diese Themen, banal oder nicht, zu etwas Erhabenem geläutert. Es mag verwirren, dass der Humor und das Selbstbewusstsein dieser Frau in den Ansagen dann so durch und durch down to earth sind  – etwa, wenn sie kritisiert, dass auf ihren Postern nur ihre „exotischen, nahöstlichen“ Augen zu sehen sind. Das sei ja schließlich rassistisch.

Aftabs Mitmusiker schaffen zugleich ein spannungsreiches Miteinander und ein homogenes Bett für die Sängerin: Petros Klampanis (auch er ein Blog-Liebling) fundiert satt mit lebendiger, sehr kantabler Tiefregister-Melodik und markiert nur mit einer Fuß-Schelle sanft, aber  fast überflüssig die Beats. An der Akustikgitarre steuert Gyan Riley (Sohn des Minimal Music-Pioniers Terry) leichtfüßig fliegende Improvisationen bei, die ab und an auch mal an der Flamenco-Pforte anklopfen. Und der Geiger Darian Donovan Thomas, mit der Optik eines Herrschers über ein vergessenes Afro-Fantasiereich, schweift mit seelenvollen Linien um die Stimme, verblüfft aber vor allem mit erfindungsreicher Pizzicato-Ausgestaltung, die sich mal mit Riley, mal mit Klampanis verbündet.

Am Ende, ohne Gesichtsverdunklung, intoniert diese sagenhafte Frau dann noch „Mohabbat“, ihre Vertonung eines berühmten Gedichts des Poeten Hafeez Hoshiarpuri (1912-1973). So etwas wie ihr Hit, der von den nicht wenigen Landsleuten im Auditorium mehrfach seufzend eingefordert wurde. Schon jetzt eines der überragenden Konzerte des Jahres 2024.

© Stefan Franzen

Arooj Aftab: „Aey Nehin“
Quelle: youtube

Vogel des himmlischen Gartens

Fotos: Stefan Franzen

Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian
In The Footsteps Of Rumi
Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier
10.09.2024

Das Festival Arabesques in Montpellier hat mittlerweile schon eine fast 20-jährige Tradition. An verschiedensten Spielorten der für mich schönsten französischen Stadt präsentiert das Team vorrangig Musikerinnen und Musiker, die im sogenannten Okzident noch keine klingenden Namen haben, der Entdeckungsfaktor ist groß! Für uns war es das erste Mal, dass wir in die Arabesken eingetaucht sind, und das Eröffnungskonzert entpuppte sich als überragendes Erlebnis.

Bei Constantinople handelt es sich nicht etwa um ein Ensemble aus Istanbul, sondern die Gruppe um den Exil-Iraner Kiya Tabassian ist in Montréal beheimatet. Der Name ergibt Sinn: Wie Montréal heute war Konstantinopel seinerzeit Drehscheibe der Begegnung von Völkern und Kulturen. Traditionen von Andalusien bis Anatolien, von den jüdischen Shtetls bis zur iberischen Romanze, von Korsika bis Persien bündelt Constantinople zu einer neuen Vision. Um den Lautenisten und Sänger Tabassian scharen sich zu diesem Zweck stets neue Gäste, etwa die Sängerin und Autorin Ghalia Benali aus Tunesien. Mit ihr haben sie das Projekt In The Footsteps of Rumi erarbeitet, das kleine Textauszüge in persischen und arabischen Versen aus dem immensen Werk des berühmten islamischen Mystikers des 13. Jahrhunderts zu neuen Arrangements setzt.

Das Konzert in der plüschigen Atmosphäre der vollbesetzten Opéra de la Comédie lebt vom Kontrast der beiden Stimmen. Reizvoll, wie Benalis tiefes, resolutes und machtvoll-erdiges Timbre wechselweise mit der feingliedrigen, verzückten Vokalkunst von Kiya Tabassian die spirituellen Metaphern interpretiert. Gestenreich deklamierend, vielleicht etwas zu plakativ unterstützt durch eine rote Federboa, trägt Tunesierin die Poesie vor. Tabassians Linien auf der Langhalslaute vereinigen und umschlingen sich mit den charakterstarken, selbstbewussten Improvisationen der Kastenzither Kanun (Didem Basar). Spannend, dass keine persische Kamancheh für die Textur gewählt wurde, sondern mit dem türkischen Schwesterinstrumente Kemence (Solistin: Neva Özgen) noch einmal ein ganz anderes Obertonspektrum zum Tragen kommt. Für die perkussive Stütze wählt Constantinople mit Patrick Graham und Hamin Honari ein Zweiergespann, das mit Rahmentrommel, Tombak und kleinem Schlagwerk-Set eine variable und flexible Rhythmusgebung ermöglicht.

Ich kann in den letzten Jahren auf wenige Konzertereignisse dieses Kulturraumes zurückschauen, die mich so in den Bann gezogen hätten. Besonders ergriffen hat mich das Stück „Morghe Bâghe Malakout“:

Ich bin ein Vogel aus dem Paradies, nicht vom Reich der Erde bin ich,
für ein paar Tage gefangen in meinem Käfig aus Fleisch und Knochen.
Die duftende Morgenbrise bringt Kunde von der Vereinigung,
mit Freude und mit Gesang werde ich diesen Käfig, diesen irdischen Thron verlassen.

Das Festival Arabesques dauert in Montpellier noch bis zum 22.9. an.

© Stefan Franzen

Constatinople feat. Ghalia Benali: „Morge Bâghe Malakout / Ya Mounir“
Quelle: youtube

Jeder Ton ein Kuss

Marisa Monte
ZMF Freiburg
02.08.2024

„Samba, Bob Marley und Stevie Wonder haben in meinem Innern immer in Frieden gelebt“, hat sie dem Autor dieser Zeilen einmal gesagt. Aufgewachsen im Umkreis von Rio de Janeiros Sambaschule Portela war Marisa Monte seit ihren frühen Alben der 1990er immer eine Brückenbauerin zwischen den Rhythmen Brasiliens und dem international verständlichen Pop. Sie ist eine der wenigen Brasil-Stars, die in Rio, New York und Berlin fast gleichermaßen bekannt sind. Jetzt ließ die 57-Jährige auf dem ZMF ihre Laufbahn schon mal Revue passieren.

Stimmige Gesamtkunstwerke mit leicht theatralischem Touch sind Montes Bühnenmarkenzeichen: Sie überrascht im eleganten schwarzen Flamencokleid samt Cordobés-Hut, wirkt unglaublich gelöst und kommunikativ. Ihre Hände fließen, ihre Augen scheinen im Rund des vollen Zeltes wirklich Jede und Jeden zu suchen. Und diese Stimme! In ihrer fruchtigen Bittersüße und ihrer schmerzlichen Wehmut immer präzise. Mit dem zeitlosen Porträt einer (freiheits-)liebenden Frau, „Maria de Verdade“ hat sie das Publikum sofort – die zahlreichen jungen, textsicheren Brasilianerinnen sowieso, die mit verzückten „Linda“- und Maravilhosa“-Rufen die Pausen garnieren. Marisa Monte ist ihre Taylor Swift.

Die eher ruhigen Songperlen aus Montes Fundus bestimmen große Teile der Show: das geheimnisvolle „Infinito Particular“ mit schwebenden Harmonien, der zirpende Walzer „Vilarejo“, oder das rhythmisch fast freie „Diariamente“ mit sprachspielerischen Plopp-Versen. Zu Brasiliens heimlicher Hymne, dem fast hundert Jahre alten „Carinhoso“, faltet sie die Hände zur Rose und zaubert chromatisches Melos. Zum Hinterhof-Samba „De Mais Ninguém“ mit dem Ukulelen-Instrument Cavaquinho und Brasiliens Mandolinen-Variante Bandolim wird an der Seitenlinie versunken getanzt. Hier ist jeder Ton ein Kuss, jede Phrase eine Umarmung.

Die Band bleibt dienend und unauffällig: Schöne Bassläufe schickt der unglaublich relaxte Altmeister Dadi Carvalho, Gitarrist Davi Moraes streut mal ein glitzerndes E-Gitarren-Solo ein, textiert sonst viel mit Liegetönen, und Drummer Pupillo ist eine Blaupause für Ruhepuls. Über der Perkussion thront ein Siebzehnjähriger: Pretinho da Serrinha tupft mit Conga, Holzblock, Tamburin und Brummtopf, ist auch ein Meister des Cavaquinho. Seine Feinheiten hört man selten, denn wieder einmal bleibt das Dauerärgernis ZMF-Sound: Angenehm in der Lautstärke zwar, aber so seltsam abgemischt, dass die Musiker wie hinter Gaze agieren, und Montes Stimme oft in der Band untergeht, statt sich über sie erhebt. Das tut dem Tanzfinale keinen Abbruch: Songs aus dem „Tribalistas“-Projekt wie der Ohrwurm „Já Sei Namorar“ mit Jubelrefrain und die wendige Funkyness von „A Menina Dança“ reißen alle von den Stühlen. Rio zu Gast am Mundenhof inklusive tropischem Regen – ein Abend purer Glückseligkeit.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 05.08.2024

Von Brooklyn in die Oase

Chassidische Kantoren aus Brooklyn auf dem Pfad des Soul und der Klassik, wilder Desert Blues aus dem Jemen, „Sufi“-Synagogen-Musik der Nachfahren aus einer marokkanischen Oase: Danke André Heller, für diese seelenvolle, erleuchtende und beglückende Jewish Night in der Elbphilharmonie!

 

Fotos: © Stefan Franzen

Rio trifft Genf

Ein Brasil-Star und junge Wilde aus der Romandie: Am Sonntag im Zürcher Moods ein grandioses Wiedersehen mit Joyce Moreno nach unserem Hausbesuch in Rio 2005 – und eine Entdeckung mit dem honduranisch-schweizerischen Gitarristen Louis Matute und seinem Large Ensemble. Zu ihm Anfang 2024 mehr!

Louis Matute Large Ensemble: „Renaissance“ (live aus Duc des Lombards)
Quelle: youtube

Erfindungsgeist eines Giganten

Foto: Daniel Dittus

Caetano Veloso
Elbphilharmonie Hamburg
04.10.2023

Seit 55 Jahren hat er Brasiliens Pop ein Gesicht gegeben. Caetano Veloso, der größte lebende Musiker seines Landes, hat nun in der Elbphilharmonie Hamburg sein wohl letztes Deutschlandkonzert gegeben – mit immer noch beeindruckender Stimme und Schaffenskraft. Eine Besprechung zum 9.Geburtstag dieses Blogs.

Auf der endlosen Rolltreppe zum großen Saal der Elbphilharmonie posiert ein nicht mehr ganz so junger Gitarrist mit seinem Instrument und ruft: „Ich werde Caetano sehen!“ Inbrünstig schickt er einen deftigen portugiesischen Kraftausdruck nach. Es ist ja auch ein besonderer Abend, an dem man überall leuchtende Augen sieht, in vielen brasilianischen, aber auch internationalen Gesichtern verschiedenster Generationen. Der Größte, Caetano Veloso, er ist nochmals in Europa, bevor er dann nur noch auf seinem Alterssitz chillen will, so heißt es.

In Vita und Werk des jetzt 81-Jährigen spiegelt sich die Geschichte seines Landes mit aller Fülle und allen Gegensätzen. Mitte der 1960er aus dem afrobrasilianisch geprägten Bahia nach Rio de Janeiro gekommen, bietet er dem Militärregime die Stirn mit dem „Tropicalismo“, mehr eine Bewegung als Musik, in der er anarchisch Urwald, Karneval und Moderne mit Beatles-Tönen und Psychedelischem collagiert –  aufbegehrende Texte inklusive. Der Lohn: Monate der Einzelhaft und Abschiebung ins Londoner Exil Anfang der 1970er. Als er zurückkehrt, begründet er die moderne Popmusik Brasiliens, die er über die Dekaden mit Folklorefarben aller Gegenden des Riesenlandes füllt, aber auch mit italienischen und spanischen Tönen, mit den Trommeln Bahias, sogar mit Noise Rock. Jede seiner Platten erzählt eine eigene Geschichte, wie ein Film mit Kulisse der jeweiligen Zeit. Sein Werkzeug: eine Stimme, die schwere- und geschlechtslos scheint, traumtänzerisch sicher war und ist. Diese Stimme, sie singt von Liebe in all ihren Schattierungen genauso metaphernreich und wortspielerisch wie sie über Politisches spricht.

Dass Veloso nun – wie sein kürzlich in Freiburg zu hörender enger Freund Gilberto Gil – den Rückzug ankündigt, scheint fast unwirklich. Denn im Unterschied zu Gil hat er unlängst mit dem blutjungen Gitarristen Luca Nunes ein brandneues Werk ausgeheckt, „Meu Coco“ heißt es und spreizt sich anspruchsvoll zwischen Samba und sperrigem Autoren-Rock. So wird sein „Adeus“ keine familiäre Best Of-Revue, sondern eine hochaktuelle, hellwache Show mit stilistischen Sprüngen – und klar, einem Querschnitt durch seinen Katalog.

Unbeschreiblich der Jubel, als der Altmeister im Kreise seines Quintetts ins Spotlight tritt. Zeitlos in grau-schwarz, mit eleganter Gestik und fast jugendlicher Lässigkeit steht er im Lichtkegel, wagt immer wieder ein paar tänzelnde Ausfallschrittchen, schenkt immer noch sein einzigartiges androgynes Lächeln. Wenn er in Solo-Intros frei brilliert, zeigt sich, dass seine Stimmbänder nur ganz schwach von Patina angetupft sind, ansonsten flexibel und leuchtend schwingen wie vor Jahrzehnten.

Im Titelstück des neuen Werks, ein fast tropikalistisches Wimmelbild von Silben und Namen, feuert sein Gesang gar pfeilscharfe Akzente, in „Anjos Tronchos“ einem Stück Technologiekritik, setzt er sich gegen Rockriffs im Blitzgewitter durch. Siebzigerkeyboards unterfüttern „Não Vou Deixar“, die mutige Konfrontation mit Bolsonaro: „Ich werde dich nicht an der Geschichte unseres Landes herumschnitzen lassen!“ Und dann eine faustdicke Überraschung in „Ciclâmen Do Líbano“: Veloso zupft eine Bossa Nova-Gitarre, doch die Strandrhythmen paaren sich mit arabesken Skalen. So hört sich der Erfindungsgeist eines Giganten an.
Unter Leitung von Luca Nunes halten sich die Musiker nicht begleitend zurück: Besonders Kainã do Jêjê und Thiaguinho da Serrinha sorgen hinter Plexiglas für ein perkussives Powerhouse von satter Samba-Wucht bis feinem Conga-Streicheln, der Langzeit-Partner Alberto Continentino befeuert mit wendigen Bass-Einlagen. Und immer wieder würzt Nunes mit borstiger Verzerrergitarre, während Rodrigo Tavares auch mal fruchtig-flötengleiche Klangfarben aus den Keys holt.

Natürlich brandet der größte Jubel bei den Klassikern auf, aus denen die Band eine Menge Steigerungsdramatik herausholt: „Desde Que O Samba É Samba“ feiert – innig mitgesungene – Sambamelancholie, während „Michelangelo Antonioni“ Velosos Liebe fürs Italo-Kino der 1950er in Szene setzt. Und in der soulig aufgehübschten Ballade „Leãozinho“, ein anrührend zärtlicher Moment, strahlt adoleszentes Falsett. Dann wendet sich Veloso ans Publikum, erzählt, wie er wiederholt junge Musiker um sich scharte, um die Flamme der brasilianischen Popmusik mit neuer Nahrung zu versorgen. Beleg ist das packende Final-Stück aus jüngerer Zeit, „A Bossa Nova É Foda“:  ein Preis der Bossa in fast mythischen Bildern und frechem Noise-Sound bündelt nochmals alles Kräfte. Man will ihn nicht ziehen lassen: drei Zugaben, Dutzende eilen an den Bühnenrand, zum Erhaschen seines Händedrucks. Dann geht er durchs Tosen des ausverkauften Hauses ab – aber ein wenig geht er mit der Aura eines Unsterblichen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 6.10.2023