Reinhold-Schneider-Preis: Murat Coşkun

 Fotos: Patrick Seeger

 

Laudatio auf Murat Coşkun
Festakt anlässlich der Verleihung des Reinhold-Schneider-Preises 2024

Kaisersaal, Historisches Kaufhaus Freiburg
Freitag, 22.11.2024

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr von Kirchbach, liebe Jury, liebe Preisträgerinnen und Preisträger!

13/8, 5/4, 9/8: Diese komischen Zahlenkombinationen auf meinem Shirt sind keine Ergebnisse aus einer – zugegeben – sehr torreichen Fußball-Liga, sondern sie haben etwas zu tun mit meiner ersten Begegnung mit dem heutigen Preisträger. Lassen Sie uns gemeinsam in eine Zeitmaschine steigen, es geht ins Jahr 1996. Stellen Sie sich einen jungen Studenten vor, dem die Musikwissenschaft an der Uni zu trocken geworden ist und der sich deshalb im Jazzhaus engagiert. Leicht gealtert steht er vor Ihnen. Jeden Dienstag gibt es dort eine open stage, bei der sich mal eher folkige, mal eher bluesige Newcomer ausprobieren. An diesem einen Abend im Jahr ‘96 aber passiert Denkwürdiges:

Ein Trio erklimmt die Bühne, mit Klarinette, Perkussion und E-Bass, ihren Fanclub haben die drei auch gleich dabei – und innerhalb von Minuten entfachen sie im Gewölbe eine türkische Tanzparty. Annette Maye, Ayhan Coşkun und Murat Coşkun heißen die Akteure.

Die besondere Würze dieses Auftritts: Murats Bruder Ayhan, der eben backstage noch ein Nickerchen gehalten hat, spielt schlaftrunken einen 10/8-Rhythmus, während die anderen beiden eisern den vereinbarten 9/8-Takt durchziehen. Eine würdige Feuertaufe für das Ensemble FisFüz, das am nächsten Morgen in Freiburg Stadtgespräch ist.

Murat Coşkun: Schon damals also ein Meister der ungeraden Taktarten. Das von ihm und Annette Maye gegründete Ensemble FisFüz erhält bald den Weltmusikpreis des SWR, das Goethe-Institut schickt die Musiker in so entfernte Gefilde wie den Iran und Nordafrika. Während der nun 28 Jahre ihres Bestehens haben die FisFüzler in verschiedenen Besetzungen den Oriental Jazz pionierhaft belebt und an anderen Stilen angedockt. Das Freiburger Barockorchester, Giora Feidman, Gianluigi Trovesi, Michel Godard – nur einige der Prominenten, mit denen Murat Çoşkuns Trio gespielt hat. Das ensemble FisFüz ist aber nur eine der Heimaten für den 2004 mit dem ZMF-Preis ausgezeichneten Murat Coşkun.

Auf seinem Hang und seinen verschiedensten Rahmentrommeln, mögen sie Daf, Bendir, Riqq, Tamburello oder Kanjira heißen, erschafft er mit oft innovativen Fingertechniken auch solo eine eigene Welt, sein „Groovistan“. Ein Rattern und Klappern, ein Tickern und Tacken, Keckern und Ploppen – manchmal auch ein Farzen, majestätisch schreitend, furios galoppierend, sanft liebkosend, hitzig mitreißend. Er beschwört so den Ostwind über dem anatolischen Hochland herauf, porträtiert eine zischende Klapperschlange, kreiert einen „Maulwurf-Rhythmus“, vertont sogar den Geschmack einer süßen orientalischen Suppe. Sein magisches Schlagwerk-Arsenal von Holzlöffeln bis zu Klangschalen breitet er gerne auch mal überkonfessionell auf einem Kirchenaltar aus. Und dank seiner Stimme hat er auch dafür gesorgt, dass der Mystiker Yunus Emre und der polnisch-osmanische Musiksammler Ali Ufki fest verankert sind im Allgemeinwissen der Freiburgerinnen und Freiburger.

Das ist der Perkussionist und Sänger Murat Coşkun, der sich von Meistern wie Hakim Ludin oder Glen Velez schulen ließ, den Schlagzeug-Professor Bernhard Wulff als seinen großen Mentor nennt.

Und der schließlich selbst seine ganz eigene Klangfarbe und Klangsprache weitergibt. Denn im Perkussionisten Murat Çoşkun wohnt auch ein unermüdlicher, erfindungsreicher Pädagoge. An der Popakademie in Mannheim gleiste er einen neuartigen, dreijährigen Studiengang der World Percussion auf. Füllte ihn pionierhaft mit Lehrinhalten, strukturierte die Rhythmus-Theorie neu, holte für die verschiedenen Fachrichtungen weitere namhafte Dozenten ins Boot. Und als Gastdozent vermittelt er an der Musikhochschule Freiburg seine eigene Lehrmethode für Rahmentrommeln und Rhythmustraining. Längst hat er all diese Expertise natürlich auch schon an seinen Nachwuchs, an Malika und Yaschar, weitergegeben – mit welch wunderbarem Ergebnis werden, Sie gleich hören können.

Aus seiner Tätigkeit als Pädagoge schält sich 2006 auch das schönste globale Aushängeschild seiner Arbeit heraus: das Festival Tamburi Mundi. Als Journalist, der viele Festivals in Europa und Übersee besucht hat, kann ich sagen: eine einmalige Erfolgsstory und Visitenkarte für Freiburgs Weltoffenheit.

Viele Tausend Gäste konnten dort marokkanische Sufiklänge, koreanische Rituale, italienische, tadschikische, irische, brasilianische, persische und amerikanische Trommelvirtuosen in immer neuen, erfindungsreichen Konstellationen erleben – und für all diese Begegnungen baut die Rahmentrommel in Kursen und Konzerten immer neue Brücken.

Ganz besonders ist mir der Jahrgang 2015 in Erinnerung geblieben, er stand unter dem Motto „Eine Begegnung von Freunden“. Zwei Länder stellte dieser Jahrgang in den Fokus. Von ihren Regierungschefs wird ihnen Feindschaft verordnet, und das hat immer noch schmerzvolle Aktualität. Ich erinnere mich, wie ich in den Proben zulauschen durfte, als über politische Gräben hinweg Gemeinsames erarbeitet wurde zwischen iranischer Kastenzither und israelischer Rahmentrommel, zwischen sephardischen und persischen Melodien. Und wie mir schließlich die Sängerin Michal Elia Kamal aus Tel Aviv und die iranische Trommlerin Maryam Hatef aus Isfahan am Interviewtisch erzählten, dass sie MIT und AUF der ganzen Welt spielen können, während ihre Führer die Mauern immer höher ziehen. Dank Murat Coşkun reichten sich hier ganz konkret Menschen aus Freiburgs Partnerstädten an der Dreisam die Hände.

Das ist der Kern dieses Festivals: Ein familiäres Treffen, mit Herzblut gestemmt von einem Team um Murats Frau Ulli. Hier können die Künstler durch Austausch über Jahre musikalisch und menschlich wachsen. Hier wird nicht jedes Mal eine neue Sensation über die Bühne gejagt, vielmehr geht es um Kontinuität. Ein Festival wie ein stetig wachsender, sich verzweigender und verfeinernder Weinberg. Ganz bewusst will Murat Coşkun nicht explizit politisch sein, und leistet dennoch einen beherzten Beitrag zur Feier der Gegensätze und der Vielfalt.

„‘Vielfalt ist unsere Stärke‘: Das ist der dümmste Satz, den ich kenne“, tönte vor kurzem der künftige US-Verteidigungsminister. „Verlieren wir unsere Vielfalt, geben wir unsere Menschenwürde auf“, sagt dagegen die beninische Sängerin Angélique Kidjo.

Für welche Seite sich eine Gesellschaft entscheidet, das hängt oft an einem seidenen Faden.

Auch bei uns erleben wir derzeit Tendenzen gegen die Vielfalt, politisch gewollt, gesellschaftlich oft zumindest geduldet, auch unter Kostendruck erzwungen. Rundfunksender werden schleichend fusioniert, Tageszeitungen kürzen ihre kulturelle Berichterstattung. Globale Farben verschwinden in vielen Festivalprogrammen, Comedy und Deutschpop treten an ihre Stelle. Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch im Deutschpop gibt es wichtige und kreative Stimmen. Doch „der Kettfaden der Welt wird lebendiger durch alle Besonderheiten“, wie es der martinikanische Vordenker der Créolité, Édouard Glissant, formulierte. Tamburi Mundi und Murat Coşkun leisten für diese Besonderheiten, für die Vielfalt und die Würde eine Grassroots-Arbeit, die in der aktuellen Gemengelage nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, mitten in unserer Stadt, mit Signalwirkung in die Ferne.

Lieber Murat, unter den vielen Musikerinnen und Musikern, die ich im Laufe der letzten 30 Jahre kennenlernen durfte, bist du einer von den wenigen, die immer auf dem Teppich geblieben sind. Deine Offenheit und Warmherzigkeit, dein kompletter Mangel an Eitelkeit, nicht zuletzt deine humorvollen Ansagen, machen dich zu einem, über den man im Jiddischen den schönen, schlichten Satz sagen würde: „Er is a Mentsh.“

In diesem Sinne freue ich mich auf weitere spannende Teamworks und Brücken zwischen den Musikkulturen der Welt und viele unfreiwillige und freiwillige Begegnungen von 10/8- und 9/8-Takten. Denn die Antworten auf schwierige Zeiten geben nicht einfache Botschaften, sondern schräge, unbequeme Rhythmen. Herzlichen Glückwunsch zum Reinhold-Schneider-Preis, Murat Coşkun.

© Stefan Franzen

Portugals neuer Aufbruch

A Cantadeira / Omiri
Burghof Lörrach 
15.11.2024

MARO
ZOOM Frankfurt
18.11.2024


 alle Fotos © Stefan Franzen

Als der Liedermacher José Afonso in den 1960ern loszog, um Portugals regionale Musikkulturen kennenzulernen, war er verblüfft über die Klangfülle seiner Heimat. Dass seine Lieder so einzigartig wurden, verdankt er auch den Einflüssen aus diesem Reichtum. Es ist beklagenswert, dass heute der Fado das Bild Portugals nach außen dominiert, denn diese Fülle ist auch bei der jungen Generation als Inspiration immer noch lebendig und verdient einen Export. 

Eine zentrale Gestalt der neuen, jungen Folkszene ist Joana Negrão. Die Frau aus Setúbal hat lange Jahre über die mündlich überlieferte Musik ihres Landes recherchiert und sie mit Bands wie Dazkarieh oder Seiva modernisiert. In ihrem Soloprogramm, das unter dem Namen „A Cantadeira“ (die Sängerin) läuft, verdichtete sich im Burghof Lörrach ihre bisherige Arbeit: Mit Solostimme, Laptop, der Gaita (Portugals Dudeldack) und der einzigartigen quadratischen Rahmentrommel Adufe entwirft sie übereinandergeschichtete Klanglandschaften. „Ich möchte die Tradition der Vorfahren mit dem verschmelzen, was ich in meinem Alltag als Frau, Mutter und Künstlerin an Herausforderungen und Dilemmata erfahre“, sagt Negrão über ihr aktuelles Programm „Tecelã“ (Webstuhl). Ihre ausdrucksstarke Stimme steht im Brennpunkt  dieser Soundscapes, die genauso in der südlichen Region Beira-Baixa wie im nördlichen Bergland von Trás-os-Montes wurzeln. Das Ergebnis ist tanzbar, seelenvoll und archaisch zugleich. Manchmal wirken ihre langen Ansagen ein wenig wie eine  – dabei sehr unterhaltsame – musikethnologische Vorlesung, doch legt sie damit nur offen, wie ernst es ihr um das Anliegen ist, die Roots Portugals sichtbar und international bekannt zu machen.

Negrãos ehemaliger Dazkarieh-Bandkollege Vasco Ribeiro Casais geht mit seinem langjährig angelegten Projekt Omiri noch einen Schritt weiter: Er kartographiert seine Feldaufnahmen von Sängern und Musikern aus allen portugiesischen Regionen regelrecht und macht sie zur Grundlage seiner durchgängig Dancefloor-tauglichen Arrangements. Während seiner Show sind die traditionellen Akteure auf einer Videoleinwand zu sehen: Trommler in Tracht, seelenvolle Sängerinnen vor ihrem Haus, aber auch etwa Feldarbeiter oder Straßenpflasterer. Ribeiro Casais bettet das folklorische Grundmaterial in wuchtige Perkussion, spielt dazu schnurrende Schlüsselfiedel, das zehnsaitige Zupfinstrument Viola Braguesa, die brasilianische Ukulele Cavaquinho, Dudelsack und Bouzouki. Die reizvoll synchronisierte Interaktion zwischen dem Archivmaterial und den live gespielten Instrumenten hat technoide und zugleich zutiefst rustikale Züge. Es ist ein ergreifendes und genauso tanzbares Seelenbild einer Nation zwischen Vergangenheit und Moderne.

Drei Tage später, Spielort ZOOM Frankfurt. Der ehemalige Techno-Club im östlichen Industriegebiet der Stadt ist nach dem Umbau ein Spielort auch für ruhigere Konzerte geworden. An diesem Abend ist die junge Portugiesin MARO zu Gast, die in Los Angeles in Quincy Jones‘ Kaderschmiede ausgebildet wurde und seit etlichen Jahren vor allem ein Social Media-Phänomen ist. Während der Pandemie hat sie mit Hunderten von Home Video-Duetten von sich reden gemacht, bei denen auch Prominenz bis hin zu Eric Clapton vertreten war. Und, ja, sie hat Portugal mit „Saudade, Saudade“ beim ESC 2022 vertreten (Platz 8!) Die Dichte von 20-30-Jährigen im Publikum ist durchmischt  mit Musikliebhabern älteren Semesters, denn die Klangsprache ihres aktuellen Albums Hortelã ist zeit- und alterslos.

Darío Barroso

MAROs Kennzeichen, die hauchige, „minzige“ Stimme, ist hier gestützt von lediglich zwei Gitarren, die aber in den Händen von den sicherlich derzeit größten Koryphäen Kataloniens liegen: Darío Barroso und Pau Figueres. Wie sie um die schlichten, manchmal ohrwurmpoppigen, dann wieder im Open Tuning-Folk beheimateten Songs ein Netzwerk weben, ist zum Niederknien. Mal geht es eher in vom Flamenco oder von der Rumba Gitán angetupfte Gefilde mit verblüffendem Interlocking von Schlageffekten, dann wieder in pure Melodieseligkeit mit kurz eingeflochtenen Solopassagen in hohen Lagen. „Lifeline“ ist so eine Miniatur, die sich von der Dancefloor-Version im Original mit Barroso und Figueres zum verzückten Sonnenstrahl gewandelt hat.

Von MAROs stimmlicher Unpässlichkeit, von der sie erst am Ende des Abends erzählt, merkt man nichts. Im Gegenteil: Für ihre 30 Jahre besitzt sie eine unglaubliche Bühnensouveränität, ihr Charisma ist pure Leutseligkeit mit Saal-Ansprache ohne Allüren. Ihr bewegendes Heil-Lied „Há-de-sarar“ geht mit melancholischer Grundstimmung unter die Haut. Bei „Ouvi Dizer“ animiert sie das Publikum zum Mitsingen des ausgelassenen „Ta-ri-di“-Refrains, in „We Could Be“ bringt sie ihrem Auditorium gar einen ganzen schleifenreichen Vierzeiler bei. Höhepunkt ist die ruhige, fast feierliche Liebeshymne „Juro Que Vi Flores“, in der die Gefühlsregungen wie feines Espenlaub zittern. Zwischendurch holt sie die beiden Niederländerinnen von Lumi auf die Bühne, die ein für meinen Geschmack etwas zu zuckersüßes Opening für sie gegeben hatten. Eine wirbelnde Solo-Einlage der Gitarreros lässt in der Schlusskurve den Atem stocken. Und zum Ende: „Saudade, Saudade“, ihr wiegender ESC-Beitrag: Feuerzeuge im Techno-Club.

© Stefan Franzen

MARO feat. Darío Barroso & Pau Figueres: „Lifeline“
Quelle: youtube

Konzerttipp: Intime Promenade


Es ist eine der spannendsten und rührendsten Lebensgeschichten, die ein afrikanischer Musiker zu bieten hat: Mit einem Savannen-Twist wurde er 1960 zum akustischen Symbol des unabhängigen Mali, geriet aber später völlig in Vergessenheit. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, hatte den Tod einiger Familienmitglieder zu verkraften, darunter den seiner Frau Pierette, die er abgöttisch geliebt hatte. Boubacar Traore, Afro-Blueser der ersten Stunde, wurde erst in den 1990ern wiederentdeckt, als der rührige Festival-Leiter und Labelchef Christian Mousset eines seiner alten Alben reeditierte.

„Boubacar kann melancholisch und verschlossen klingen“, sagte Mousset einmal über den Malier. „Aber seine Musik ist einzigartig auf der Welt, sie besitzt eine ungeheure poetische Dimension. Er betrügt dich nicht.“ Diese nackte Kombination von Stimme und Gitarre – das ist eine Schlichtheit, die man eigentlich nur mit dem Blues von Robert Johnson vergleichen kann. Gleichzeitig sind Traorés Melodien, die neben dem Blues auch von der Tradition der Kassonké-Ethnie geprägt sind, absolut einprägsam, sie gehen nie in die Härte eines Wüstenblues hinein, wie ihn sein Landsmann Ali Farka Touré pflegte. Es ist eine Musik, die außerhalb der Zeitläufte steht.

Nun geht die Legende mit 82 Jahren nochmals auf Europatournee, mit dem Mundharmonikaspieler Vincent Bucher und dem Perkussionisten Jeremie Diarra, und hat ein neues Live-Album im Gepäck. Im Jazzhaus Freiburg ist das Trio am kommenden Montag, den 11.11. ab 20h zu erleben.

Boubacar Traoré: „Hona“
Quelle: youtube

Kreolische Würde

Foto: Stefan Franzen

Leyla McCalla
Le PréO, Oberhausbergen (F)
6.11.2024

Avantgardistisch mutet es an, was der weiße Abolitionist Frederick Douglass 1857 formulierte, im Vergleich zu der jetzigen Situation Amerikas, wo sich nun mehr als die Hälfte eines Volkes sehenden Auges in die Steinzeit nicht etwa zurückgebombt, sondern demokratisch „zurück-gewählt“ hat. Douglass forderte, dass Befreiung und Gleichberechtigung nicht durchs bloße Darüber-Sprechen realisiert werden, sondern dass man sich zu transformativen Maßnahmen verpflichten muss. Von Befreiung und Gleichberechtigung ist das amerikanische Volk seit gestern wieder viele Tausend Meilen entfernt. Leyla McCalla zitiert Douglass im Titelsong ihres neuen Werks Sun Without The Heat.

An so einem Abend auf die Bühne zu gehen, muss für die US-Haitianerin, deren Eltern als Bürgerrechtler vor dem Gewaltregime Haitis geflohen waren, eine zentnerschwere Last gewesen sein. Die man ihr anfangs auch anmerkt. Die Show im PreÓ von Oberhausbergen im Strasbourger Vorland kommt nur schleppend in Gang, was aber auch am nicht ganz so starken Songmaterial des neuen Albums Sun Without The Heat liegt. Mit einer Widmung an die schwarze Bevölkerung der Atlantik-Inseln vor Georgia, die bis heute vom Leben in den USA abgehängt sind, eröffnet sie den Abend. Durch ihre Begleitgitarre schickt sie einen Filter, der die Akkorde herumeiern lässt. Ihr geradezu zierlicher Sologitarrist Nahum Zdybel steuert Schwelltöne, Rückwärtsschleifen und pointierte Kracher ein, während  ihr Drummer mit feinem Mallett-Zwirbeln und federnder Latin-Gestaltung die Rhythmen zwischen kreolischem Walzer, Samba-Anleihen und zupackendem Rockgestus entfaltet. Bassist Pete Olynciw bleibt eher unauffällig und relaxt.

McCalla spielt sich auch dank ihrer Band frei. Stark sind die auf Kreyol gesungenen Songs, die sie aus der Tradition Haitis bezieht, begeisternd ihrer Einschübe auf dem Cello, ihrem Herzensinstrument, dem sie seit der Ausbildung an der Juilliard School verbunden ist. Ihre rustikale, von aller Schönfärberei weit entfernte und doch so empfindsame Stimme im Verbund mit den Pizzicati und dem wunderbar volltönenden Bogenführung: vielleicht der Höhepunkt des Abends. Oder doch die Zugabe „Capitalist Blues“? Ein behäbiger, geschlurfter und bitter-ironischer New Orleans-Ton zieht sich durch dieses Stück, das eine charmante Verweigerung der Marktgesetze in dieser kalten Welt ist, die sie nicht „inspirieren“. „Ich schwimme im Haifischbecken und habe nichts mehr zu verlieren.“

„Wir brauchen den Humor an diesem Abend“, sagt sie, der sei nun überlebenswichtig. Und stößt einen Laut aus, der zwischen Stöhnen, Ekelbekundung und trotzigem Lachen liegt. Dass genau zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Markt-Höriger Nummer Eins vor die Tür gesetzt wird, kann sie nicht wissen. Leyla McCalla hat diesem absurden Tag mehr als einen Hauch humaner Würde zurückgegeben.

© Stefan Franzen

Leyla McCalla: „Crown“
Quelle: youtube

Über Religionsgrenzen hinweg

Gerne mache ich hier auf eine Konzertfolge aufmerksam, die in meiner Stadt Freiburg über 3 Bühnen geht:

Das Arqavaneh Ensemble um die Sängerin Saeid Salehi wurde 2016 von Mostafa Ahmadi gegründet mit dem Ziel Musik für den Frieden und die Völkerverständigung zu spielen, über Beschränkungen und Grenzen hinweg. Die Musiker*innen und Sänger*innen des Arqavaneh Folklore Ensemble gehören verschiedenen Religionen des Iran an: Islam, Christentum, Judentum, Bahai.

Das Ensemble ist unabhängig u. spielt ohne externe finanzielle Unterstützung. In ihrem vielfältigen Repertoire führen sie Musik und Lieder der unterschiedlichen Volksgruppen des Iran auf.

Die Termine:
– 7.11.2024 um 19 Uhr in der Maria Magdalena Kirche, Ökumenische Kirche im Rieselfeld, Maria-von-Rudloff-Platz 1, 79111 Freiburg
– 8.11.2024 um 20 Uhr im Peterhofkeller der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Peterhofkeller, Niemensstraße 10, 79098 Freiburg
– 10.11.2024, Matinee-Konzert um 11 Uhr in der Kulturscheune im Schloss Ebnet, Kulturscheune, Schwarzwaldstr. 278, 79117 Freiburg

Arqavaneh Ensemble: „Deybalal“
Quelle: youtube

Orchester für den Engelsschrei – R.I.P. Quincy

70 Jahre feinste Musizier- und Produzenten-Genialität, eine Karriere für mindestens sieben Leben: Quincy Jones hat das Raumschiff Erde verlassen. Unter seinen vielen Großtaten ist für mich eine herausragend gewesen.

1972 unterbrach er in der Karriere von Aretha Franklin die lange Serie von Alben mit Produzent Jerry Wexler und ermöglichte der Queen of Soul für ihr 19. Album eine ganz andere, jazzorchestral getönte Klangsprache. Neben der ergreifenden, gospelgetönten Sichtweise auf „Somewhere“ von Lenny Bernstein ist es auf Hey Now Hey vor allem ein Song, der diese Gemeinschaftsarbeit von Aretha und Quincy zum Überflieger machte: In der waidwunden Ballade „Angel“ aus der Feder von Schwester Carolyn Franklin gehen Symphonieorchester und Stimme eine Symbiose ein, die mich jedes Mal zu Tränen rührt. Und nicht zuletzt kann dieser Jahrhundertsong nach der Halbton-Rückung mit einem der brausendsten Aretha-Momente ever aufwarten, um das Elend der Einsamkeit in einen markerschütternden Seelenschrei zu fassen.

Danke dafür Quincy, und für viele andere unvergessliche Momente, die mein Hörerleben reich gemacht haben.

Aretha Franklin: „Angel“
Quelle: youtube

Seiltanzende Hoffnung

    Fotos: Stefan Franzen

João Bosco & Jacques Morelenbaum
Volkshaus Basel
22.10.2024

Sogar Polizisten haben geweint, als sie sein „O Bêbado E A Equilbrista“ auf Protestkundgebungen hörten, so ist überliefert. Mit diesem versonnenen Samba hat João Bosco seinem Volk Ende der 1970er  eine hoffnungsvolle Hymne geschenkt, als die Dämmerung der brasilianischen Diktatur heraufzog. „Die Hoffnung tanzt mit einem Schirm auf dem Drahtseil, und mit jedem Schritt kann sie sich verletzen“, heißt es da. Als Bosco, der heute 78-jährige, dieses Lied am Ende seines Auftritts im Basler Volkshaus anstimmt, ist es andächtig ruhig. Viele wissen, es könnte das letzte Mal sein, dass sie den 78-Jährigen auf der Bühne erleben.

Man höre drei bis vier beliebige Platten von João Bosco aus verschiedenen Phasen seiner Karriere – und man erhält ein umfassendes Bild der modernen brasilianischen Musik. Mehr als alle seine gleichaltrigen Landsleute hat der Gitarrenpoet mit dem markanten Gesicht – Kennzeichen Vollbart und Barett – das ganze Kaleidoskop Brasiliens im Laufe von 50 Jahren beeindruckend gebündelt. Den Samba erhob er zu hochstehender lyrischer Kunst, integrierte Afrikanisches und Arabisches, Jazz und Soul in seine Kompositionen. Private Liebe genauso wie die große Politik fasst er in Vierminutengeschichten, kreiert meisterhafte Lautmalerei. Neben Gilberto Gil, Caetano Veloso und Milton Nascimento ist er ohne Zweifel die vierte männliche Säule der Música Popular Brasileira.

Eine Säule, die sich auf der Bühne noch hochlebendig und viril zeigt. Boscos Gitarrenspiel ist noch immer ausgefuchst, rhythmisch vielgestaltig, komplex und präzise. Seine Gesangsstimme ist ruppiger geworden, die Ecken und Kanten, die er vokal immer schon hatte, treten noch mehr zutage, er bellt besonders die afro-brasilianischen Anrufungstöne, die Verweise auf die Musik der indigenen Yanomami auch mal heraus, spielt geradezu rotzig und trotzig mit dem Klang des Portugiesischen, das nicht weich und rund, sondern fordernden Charakter annimmt. Eine ganz eigene Form von lusophonem Scat hat er da geformt.


Als lyrischer Gegenpol agiert sein Partner: Jacques Morelenbaum, noch Mitglied der letzten Band von Antônio Carlos Jobim, hat auch mit 70 wenig von seinem vollmundigen, empfindsamen Gesang auf dem Cello verloren. Große Gestaltungskunst ist es, wie er über die Ausgangsmelodien improvisiert, sei es bei einem Bossa-Klassiker wie „Desafinado“, oder in einem Intro, das aus dem „Concierto de Aranjuez“ von Joaquín Rodrigo gebaut wird. 90 Minuten mit zwei alten weißen Brasilianern, die doch die ganze Welt in ihrer Duokunst fassen – ein nicht nur nostalgisches, sondern aktuelles, kurzweiliges Ereignis.

© Stefan Franzen

João Bosco, Vanessa Moreno Jacques Morelenbaum, Mestrinho: „O Bêbado E A Equilibrista“
Quelle: youtube

 

Regentschaft der Nacht

Fotos: Stefan Franzen

 

Arooj Aftab
Karlstorbahnhof Heidelberg
21.10.2024

Sie ist eine selbsterklärte Nachteule. Die Sängerin und Songwriterin Arooj Aftab (sprich: aruudsch), erste Grammy-Preisträgerin mit pakistanischen Wurzeln, verbeugt sich auf ihrem neuen Album Night Reign (Verve) vor der inspirierenden Kraft der Nacht. Ihr vorangegangenes Album Vulture Prince habe ich auf diesem Blog bereits in höchsten Tönen gepriesen. Und so war es Pflicht, sie endlich einmal auf der Bühne zu erleben, auch wenn der Weg zu dieser Bühne 200 km betrug.

Aftab schreitet vorsichtig, mit dunkler Brille ans Mikro des bestens besuchten Karlstorbahnhofs (ihre Augen, so entschuldigt sie sich, seien noch völlig verquollen von der nächtlichen Feier nach der Show in Berlin). Sie und ihre Band sind eingehüllt in majestätisches Dunkelblau. Sofort schafft diese Stimme eine fantastische Atmosphäre: Die Fülle ihres Timbres, gepaart mit den ornamentalen Schleifen, die zarte Diktion im Idiom Urdu, all das minimalistisch vorgetragen mit kaum einer körperlichen Regung und nur scheinbar halb geöffnetem Mund, greifen tief in meine Seele.

Arooj Aftab hat ihre Musik früher einmal als „Neo Sufi“ bezeichnet, davon ist sie abgerückt, das Etikett passt auch lange nicht mehr. Zwar beziehen sich einige ihrer Verse tatsächlich auf die mystische Poesie eines Rumi, wie in ihrem rhythmisch freien Remake von „Last Night“ (auf Vulture Prince noch ein Reggae), in dem der Mystiker die Schönheit des/der irdischen oder himmlischen Geliebten mit dem Mond vergleicht. Andere Verse aber sind deutlich jüngeren Datums, etwa aus der Feder der Urdu-Poetin Mah Laqa Bai Chanda, oder sie drehen sich um zeitgenössische Themen, wie etwa die unterbrochene Liebesanbahnung bei einer Party.

Singt sie auf Englisch, wie etwa in „Whiskey“, stößt sie auch mal angenehm an die Grenzlinie zum folkigen Pop. Doch in ihrem Gesang werden all diese Themen, banal oder nicht, zu etwas Erhabenem geläutert. Es mag verwirren, dass der Humor und das Selbstbewusstsein dieser Frau in den Ansagen dann so durch und durch down to earth sind  – etwa, wenn sie kritisiert, dass auf ihren Postern nur ihre „exotischen, nahöstlichen“ Augen zu sehen sind. Das sei ja schließlich rassistisch.

Aftabs Mitmusiker schaffen zugleich ein spannungsreiches Miteinander und ein homogenes Bett für die Sängerin: Petros Klampanis (auch er ein Blog-Liebling) fundiert satt mit lebendiger, sehr kantabler Tiefregister-Melodik und markiert nur mit einer Fuß-Schelle sanft, aber  fast überflüssig die Beats. An der Akustikgitarre steuert Gyan Riley (Sohn des Minimal Music-Pioniers Terry) leichtfüßig fliegende Improvisationen bei, die ab und an auch mal an der Flamenco-Pforte anklopfen. Und der Geiger Darian Donovan Thomas, mit der Optik eines Herrschers über ein vergessenes Afro-Fantasiereich, schweift mit seelenvollen Linien um die Stimme, verblüfft aber vor allem mit erfindungsreicher Pizzicato-Ausgestaltung, die sich mal mit Riley, mal mit Klampanis verbündet.

Am Ende, ohne Gesichtsverdunklung, intoniert diese sagenhafte Frau dann noch „Mohabbat“, ihre Vertonung eines berühmten Gedichts des Poeten Hafeez Hoshiarpuri (1912-1973). So etwas wie ihr Hit, der von den nicht wenigen Landsleuten im Auditorium mehrfach seufzend eingefordert wurde. Schon jetzt eines der überragenden Konzerte des Jahres 2024.

© Stefan Franzen

Arooj Aftab: „Aey Nehin“
Quelle: youtube

Schatzkiste #40: Spottlied auf die Spekulanten

Adriano Celentano
I Mali Del Secolo
(Dischi Clan, 1972)

gefunden bei: Vinylone, Trieste

Eine neue Stadtentdeckung, die mich umgehauen hat: Trieste, Italiens in den äußersten Nordosten eingezwängte Enklave, hat den Charme von Wien, mitsamt entsprechenden Caféhäusern, und die Adria direkt vor der Haustür. Eine offensichtlich etwas gemächlichere Lebensweise, eine eigentümliche Sprachmelodie, grandiose Aussichtspunkte von der Burg über die Bucht, eine Mole, von der aus man die Front des größten europäischen Platzes mit Öffnung zum Meer erblickt. Und zudem ein reiches literarisches Erbe, mit dem dort lehrenden James Joyce und dem von ihm inspirierten Italo Svevo nur als die Spitze des Eisberges.

Und wie sieht es mit Platten aus? Angeblich gibt es nur noch einen Laden, doch der öffnet bereits um eine für Vinylomanen unchristliche Tageszeit, um 9h! Das Vinylone (man liest das wohl als die italienische Vergrößerungsform) ist vor allem reich bestückt an italienischer Popmusik, mit der ich trotz der Gebrauchsanweisung meines Kollegen Eric Pfeil („Azzurro“) auch in jüngerer Zeit einfach nie warm geworden bin. Das liegt sicherlich nicht nur an der Musik, sondern auch daran, dass ich als Ignorant der Sprache die oft bissigen bis politischen Texte einfach nicht kapiere.

Nachdem der überaus freundliche und geduldige Verkäufer mir einiges vorgespielt hat, entscheide ich mich dann doch für ein Werk des ganz Großen, aber für eines aus seiner besten Phase: I Mali Del Secolo erschien 1972, nach den großen Hits „Azzurro“ und „Una Festa Sui Prati“, als Celentano anfing, mit seiner nach Englisch klingenden Fantasiesprache, der „lingua Celentano“ zu hantieren. Dafür gibt es auf dem Album mit „Quel Signore Del Piano Di Sopra“ auch ein schönes Beispiel. Als wilden Rock’n’Roll-Einstieg tischt er Little Richards „Ready Teddy“ auf, zum pumpenden Walzerrhythmus erzählt er die Geschichte des Pirelli-Wolkenkratzers von Mailand und schenkt es den Bauspekulanten ordentlich ein.

Die epische „Balata Di Pinocchio“ präsentiert schreiende Bläser, eine wimmernde Orgel und ein eingeschobenes Sprechtheater samt Lachkrampf. Dramatisch geht es weiter: Celentano hält als Gott persönlich eine strafende Ansprache an die Menschheit, kommt dann auf die Themen Umweltverschmutzung und Drogen zu sprechen, letzteres in der kleinen Rockoper „La Siringhetta“ mit Mellotron, Garagengitarren und sirenenartigen Frauenchören. Eine Themenvielfalt, die alle erstaunen wird, die diesen integren Geist nur von den Komödien wie „Gib dem Affen Zucker“ kennen!

© Stefan Franzen

Adriano Celentano: „Quel Signore Del Piano Di Sopra“
Quelle: youtube