Dolores Vargas Lo Mejor de Dolores Vargas (Olympo, 1974)
gefunden bei: Discos Latimore, Sevilla
Zugegeben: Meine Vinylsuche war in Andalusien komplette Nebensache und erstreckte sich auf ein Stündchen an einem ausnahmsweise regnerischen Nachmittag im prächtig-eleganten Sevilla. Erste Anlaufadresse dort sind Discos Latimore, die mit einem guten Sortiment an Jazz, Soul und Rock aufwarten, aber bei Flamenco, Coplas und spanischer Popmusik nicht so herausragend bestückt sind.
Seit ich durch die Compilations Achilifunk (Love Monk, 2007) und Gipsy Rhumba (Soul Jazz, 2014) ihre Funk-Hits „Anana Hip“ und „A-Chi-Li-Pú“ kennengelernt hatte, war ich immer nebenbei auf der Suche nach einer Vinylscheibe von Dolores Vargas, fand immerhin zwischenzeitlich eine Single. Latimore hatten nun nur diese Best Of vorrätig. Ich bereue den Kauf trotzdem nicht, denn hier entpuppt sich die Sängerin aus Barcelona, die in Spanien aufgrund ihrer eruptiven Stimme landläufig als „La Terremoto“ (Erdbeben) bezeichnet wird, als stilistisch äußerst vielfältig.
Es gibt weniger Funkiges zu hören, vielmehr einen Querschnitt durchs Flamenco-Spektrum mit Bulerías, Sevillanas und Fandangos, oft begleitet durch die Gitarren von José Castellón und Pepe Pubill. Aber auch die Rumba Catalán lässt sich vernehmen, und zwischendurch scheppert eine Orgel und Bläsersätze schmettern, etwa im fantastischen „Cobarde“ oder „Tio, Tio, Tio“.
Um Dolores Vargas, die Schwester des legendären Gitarristen Sabicas, die bereits in den 1950ern ihre Karriere in Filmen begann und in den 1970ern in TV-Shows mit Salvador Dalí auftrat, war es in den letzten Jahren ruhig geworden, im Alter hat sie nur noch in der Kirche gesungen. Letztes Jahr ist sie mit 80 in Valencia gestorben.
Ein Geburtstagsgruß an den Mann der 1000 Töne: Milton Nascimento wird heute 75 Jahre alt.
Vor wenigen Tagen hat mich Jodok Hess vom Schweizer Radio SRF 2 Kultur eingeladen, um die Jazz Collection über den großen Brasilianer zu gestalten. Das Porträt der Ikone der Música Popular gibt es hier online zu hören.
44 Jahre nach Erscheinen des wegweisenden Albums Milagre Dos Peixes hat sich Nascimentos Landsmann Tiganá Santana derweil an eine Neuinterpretation gewagt. Am 10.11. wird er sie im Rahmen des No! Music-Festivals im Berliner Haus der Kulturen der Welt auf die Bühne bringen.
Milton Nascimento: „Nada Será Como Antes“ (live in Switzerland)
Quelle: youtube
Vielleicht gehört das eher zu den Randnotizen der globalen Eisenbahngeschichte: Island hatte vor 100 Jahren mal 2,5 Kilometer Schienennetz. Für den Musiker Högni allerdings, Island-Aficionados bekannt von den Indierock-Bands Gus Gus und Hjaltalín, ist das ein ganz zentrales Kapitel seiner aktuellen Karriere.
Die beiden Lokomotiven Minør und Pionér, die heute noch in Reykjavik zu sehen sind, haben 1913-17 Stein und Kies für den Bau des Hafens transportiert, nach kurzer Zeit aber wurden sie schon wieder ausrangiert. Die beiden Stahlrösser, so sagt Högni, seien für ihn Sinnbild seines Lebens geworden, während einer Phase, in der er unterschiedliche Persönlichkeiten in sich toben fühlte.
Minør im Hafen von Reykjavik, Foto: Manfed E. Fritsche
Die Musik auf Two Trains wird auch durch einen soundtechnischen Zweikampf faszinierend: auf der einen Seite die machtvollen, aber auch fast zärtlichen Männerchöre, die auf die lebendige Chortradition der Insel zurückgehen, auf der anderen lauern elektronische Rhythmen, die auf die Industrie-Ära während des Ersten Weltkriegs Bezug nehmen – jene Zeit, in der Minør und Pionér ihre Arbeit am Hafen verrichteten.
„Das brasilianische Ideal des Gesangs ist, dass du so sprichst wie du singst“, sagt Viviane de Farias. „Meine Stimmführung muss die Schönheit der Linie, des Klanges, der Phrasierung haben.“ Vielleicht ist es dieses Bekenntnis, dass ihre Stimme unter den in Deutschland lebenden brasilianischen Vokalistinnen so einzigartig macht. Viviane de Farias kam einst aus Rio de Janeiro nach Karlsruhe und bereichert seit zwei Jahrzehnten die hiesige Szene mit ihrer außergewöhnlichen Arbeit. Denn sie hängt sich weder an Bossa Nova oder Samba, sondern hat einen individuellen Stil entwickelt, in dem Einflüsse aus ihrem klassischen Operntraining und vor allem aus dem Vokabular eines komplexen Brasil-Jazz deutlich hörbar werden.
Verantwortlich dafür ist auch die befeuernde Arbeit ihres Quintetts unter der Leitung des Brasil-verrückten Gitarristen Paulo Morello, der ihr zu ihren Texten die Kompositionen auf den Leib schneidert. Der Regensburger brach zusammen mit dem Flötisten Kim Barth schon vor fünfzehn Jahren nach Rio auf, die beiden tourten mit Bossa-Legenden wie Pery Ribeiro und Johnny Alf, sind jenseits des Atlantiks anerkannte Brasil-Experten. Auf Farias‘ neuem Werk Vivi regieren viele brasilianische Rhythmen von Partido Alto bis Baião, es gibt Anspielungen auf ihr Idol Maurice Ravel in einem strauchelnden Walzer und eine grandiose Hommage an Hermeto Pascoals „Ginga Carioca“. „Ich höre in diesem Stück die Gewalt und die Korruption, die Kanten von Rio, auf der anderen Seite die Schönheit der Stadt mit den Hügeln, dem atlantischen Regenwald, die Lagune von Ipanema, die Strände.
„Ich musste einfach einen Text dazu schreiben“, bekennt de Farias, die den verrückten Multi-Instrumentalisten Pascoal in jungen Jahren zufällig im Flugzeug traf. „Er hat mir damals über den Wolken spontan eine Gesangslinie auf ein Blatt Papier geschrieben, das ich leider verloren habe“, bedauert sie. Vivi ist voll von solchen Anekdoten aus der Vergangenheit, von denen viele auf ihre Kindheit und Jugend in der Cidade Maravilhosa am Zuckerhut verweisen. Zum Beispiel die ruhige Widmung „Domingo“, eine Erinnerung an die Nachmittage mit den „Goal“-Schreien im Transistrorradio und dem Lärm der Zikaden. „Quero Cantar“ ist eine unverhohlene Widmung an den Karneval und den Samba, der gerade 100 Jahre alt wird, doch sämtliche Klischees werden mit einer hibbeligen Melodieführung im Bebop-Stil geschickt umgangen.
Ein weiterer Meisterstreich ist das „Soneto Da Boneca Apática“, geschrieben in einem Moment der Starre und Ermüdung: Hier lebt sie ihr ganzes vokales Spektrum von Sprech- bis Operngesang aus, unterfüttert von den raffinierten Querrhythmen ihres Partners Mauro Martins an den Drums. Schließlich lauert noch eine dicke Überraschung auf Vivi: Der Posaunist Raul de Souza steuert ein wunderbares Solo im Stück „Luminosa“ bei, er ist eine echte Legende: „Raul hat mit allen Brasilianern gespielt, später mit Duke Ellington und Herbie Hancock. Er ist jetzt über 80 und immer noch fit. Wenn du zuhörst, wie er improvisiert und phrasiert, sein Zeitgefühl, dann ist das eine große Schule“, schwärmt de Farias.
Apropos Zeit: „Die Zeit als Thema – das ist die Klammer, die das Album durchzieht, ohne dass ich das wollte“, sagt sie. Am schönsten kristallisiert sich das in „Aéroporto“ heraus: Eine wahre Zeitreise zwischen den Himmelskörpern, in der sich eine weitere Erinnerung verbirgt – an die Tage, als sie der inzwischen erwachsenen Tochter Schlaflieder vorsang. „Vivi“ ist nicht nur die Koseform für Viviane, es heißt übersetzt auch „ich habe gelebt“. Und so umspannt dieses ganz besondere brasilianisch-deutsche Co-Projekt bewegte Jahre aus dem bisherigen Leben der Sängerin und übersetzt diese Rückschau in eine frische Sprache ohne melancholische Wehmut. Unterdessen hat Viviane de Farias schon neue Pläne zwischen den Kontinenten: Ihre brasilianischen Wurzeln wird sie demnächst mit den orchestralen Klängen des WDR-Sinfonieorchester vereinen.
2015 habe ich an dieser Stelle einige neue arabische Frauenstimmen vorgestellt, darunter die Libanesin Tania Saleh – von ihr wird es demnächst ein neues Werk geben. Zu erkunden gibt es aktuell auch ihre Landsfrau Yasmine Hamdan. Ihr Nährboden war das Electro-Duo Soap Kills, vor 4 Jahren machte sie sich dann selbständig und hatte einen Auftritt im Jim Jarmusch-Film „Only Lovers Left Alive“. Das brachte ihr weltweite Aufmerksamkeit ein. Hamdan ist die einzige arabische Sängerin, die auch für ein internationales Publikum auf Arabisch singt. Ihr aktuelles, zweites Album Al Jamilat beschäftigt sich mit den Lebensbedingungen in einem Staat, der von Korruption und politischer Bigotterie geprägt ist. Es verleiht den Taxifahrern Beiruts eine Stimme, die die beißenden sozialen Kommentatoren des Libanon sind, und Yasmine Hamdan entwirft dabei ebenso starke, rebellische Frauengestalten, wie im unten zu sehenden Clip „Balad“. Die Musik dazu: arabesk angehauchter, atmosphörischer Indie-Pop, stellenweise sogar folkig, unter anderem von Musikern und Produzenten aus dem Umfeld von Depeche Mode, Brian Eno und Sonic Youth umgesetzt.
Yasmine Hamdan ist live zu erleben:
12.10. Kaserne, Basel/CH
13.10. Moods, Zürich/CH
17.10. La Laiterie, Strasbourg/F
28. + 29.11. Berghain, Berlin
Doch nach etlichen Handshakes und Selfies mit den Gästen stellt mich Eva Keller ihm vor, und er setzt überhaupt keine zeitliche Begrenzung. Er hat nur eine Bitte: Eine Tasse Tee möchte er gerne haben. Und so sitzen wir in gemütlichen Ledersesseln in einem hohen Raum mit einem bemalten Fries unter der Decke und starten. Vielmehr: Paddy startet, denn wie sich schnell herausstellt, kann man diesen unvergleichlichen Geschichtenerzähler wenig lenken und erst recht nicht stoppen. Aus dem befürchteten Viertelstündchen werden sagenhafte 70 Minuten, während derer ich meinen Fragezettel bald wegwerfe und einfach zuhöre.
Wie wir auf das Eingangsthema kommen, ist mir im Nachhinein schleierhaft: Weit holt Paddy aus über die Unterschiede des Musizierens zwischen den 1920ern und 1960ern. Die Uilleann pipes, der irische Dudelsack und die sardischen Launeddas klängen auf alten Aufnahmen sehr kantig, Staccato-haft, sagt er, in den Sechzigern sei dann plötzlich ein Flow in die traditionelle Musik hineingekommen, an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander. Ein Bewusstseinssprung, wie mit den Affen, die Kartoffeln waschen, werfe ich ein. Ja, oder wie mit den Schafen in Wales, die gemerkt haben, dass sie über das cattle grid rollen können und dann in die Gärten der Nachbarn eingedrungen sind, um sie zu verwüsten, meint Paddy. Das wird ein lustiges Gespräch, denke ich mir. Und nutze eine Sekunde, in der er am Tee nippt , um ihn zu fragen, wie er denn ursprünglich zur Musik gekommen ist.
Bush: Auf der Seite meiner Mutter gab es viele traditionelle Musiker aus Irland. Mein Großvater war auch ein Instrumentenbauer. Sie waren arm, um also Zugang zu bestimmten Dingen zu bekommen, mussten sie sie selbst herstellen. Und ich vertrete die gleiche Sichtweise: Einige Dinge, an die du nicht rankommst, musst du dir eben selbst bauen.
Keltische Musik war also der Startpunkt für dich?
Bush: Es war das Folkrevival der 1960er, das für mich den Ausgangspunkt bildete. Ich machte meine erste Feldaufnahme von traditioneller englischer Tanzmusik als ich dreizehn war. Ich hatte ein Tonbandgerät, das unglaublich viele Batterien verbrauchte, aber Aufnahmen von fantastischer Qualität machte. Das war noch das Zeitalter vor den Kassettenrekordern. Ich habe traditionelle Musik immer geliebt und hatte immer eine sehr fixierte Sicht auf Musik als die einzig wahre Religion. Aber es kamen eben immer wieder Dinge vorbei, die meinen Glauben komplett zerstört haben. Weiterlesen →
Paddy Bush
„The Beauty & Complexity of Malagasy Music“ Forum Schlossplatz Aarau, 21.09.2017
Bis in die letzte Stuhlreihe ist der kleine Saal im Forum Schlossplatz besetzt. Als ein „Ort der Reflexion und Debatte“ stellt sich die seit 1994 im schweizerischen Aarau bestehende Einrichtung dar. Das Publikum soll hier “zur Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart“ angeregt werden. Dafür haben die Macher aber auch wirklich eine schöne Stätte gefunden: eine Villa, die hoch über der Aare thront, am Eingang zur Altstadt der Aargau-Metropole mit ihren trutzigen Häusern. Was hier gleich passieren wird, darauf weisen in diesem schönen Saal mit seinen knarrenden Dielenböden und dem Kronleuchter zwei Dinge hin: Vorne, auf einem kleinen Podest, ruht ein länglicher Metallkasten mit Saiten, den man als Experte vielleicht als die Zither Marovany erkennt. Und an der Wand ist eine kleine Karte von Madagaskar festgepinnt.
Von hinten erschallt ein „Good Evening“ und ein Mann mit grauem Wuschelkopf nimmt im Schneidersitz an der Marovany Platz. Im nächsten Moment ist der Raum erfüllt von filigranen Tongirlanden, die nicht nur Weltmusikfreaks bekannt vorkommen. Auf Kate Bushs Alben The Sensual World und The Red Shoes kann man solche auch entdecken. Kein Wunder, denn besagter Herr mit dem grauen Wuschel und dem fast zarten Lächeln ist ihr Bruderherz Paddy Bush. Klar, er hat sich schon ein wenig verändert, seit er in der Fernsehfassung des Songs „The Wedding List“ den Bösewicht spielte oder auf den Werbefotos für The Red Shoes posierte, doch man erkennt ihn sofort. Was um Himmels willen tut er mitten in der Schweiz? Die Antwort ist denkbar einfach: Er möchte Begeisterung wecken für seine größte Leidenschaft seit Jahrzehnten, die Musik Madagaskars. Weiterlesen →
„Mr. Blue Sky“ (Jeff Lynne) aus: Electric Light Orchestra – Out Of The Blue (1977)
Heute wird nicht nur das Album Out Of The Blue des Electric Light Orchestras auf den Tag genau 40 Jahre jung, auch dieser Blog feiert seinen 3. Geburtstag. Die unvergleichliche Truppe um Mastermind Jeff Lynne zum Jahrestag hier zu platzieren, passt umso besser, als ich diesen Blog 2014 u.a. mit der Besprechung des Konzerts im Hyde Park gestartet habe.
Ich weiß nicht, ob mich irgendein Stück Popmusik als Neunjähriger mehr begeistert hat als „Mr. Blue Sky“. Es kam wohl erstmals als blau-transparente Vinylsingle meiner nur wenig älteren Tante zu mir, und es beherrschte Anfang 1978 über Wochen die Hitparaden. Für einen Jungen, der vom Elternhaus mit Klassik geprägt wurde, selbst Geige spielte und trotzdem in seinem Jugendzimmer das Ohr an den aktuellen Hits aus UK hatte, gab es wohl keine idealere Stilkombination.
Die Ode an den blauen Himmel, die als Finale des viersätzigen „Concerto For A Rainy Day“ gesetzt war, ist einer der größten Meisterstreiche von Mr. Lynne, mit einer triumphalen Melodie, einem pointierten, bluesig angehauchten E-Gitarren-Soli und einer gewaltigen symphonischen und choralen Schlussformel mit Anklängen von Barock bis Spätromantik.
Das dazugehörige Doppelalbum Out Of The Blue habe ich in seiner Gänze erst Anfang der 1980er gekauft – da waren die Exemplare mit dem beigelegten Falz-Raumschiff schon nicht mehr auf dem Markt.
Es gibt viele grässliche, aber auch ein paar schöne Coverversionen von „Mr. Blue Sky“, z.B. vom Neo-Soulmann Mayer Hawthorne. Auch die Live-Versionen von Lynne und seinen Mannen selbst kommen – wie so oft beim Klangbastler – nicht an die Studioversion heran.
Entstanden ist das Regenkonzert zu aller Überraschung nicht in einem verregneten englischen Herbst, sondern in einem ebensolchen Sommer in München, wo ELO ihre Platte damals in den Musicland Studios einspielten.
Leider existiert im Netz nur eine ziemlich miserable Fassung des Originals (die erst bei 0:13 einsetzt und mit Livebildern unterlegt wurde).
Electric Light Orchestra: „Mr. Blue Sky“
Quelle: youtube