Jeff 75

Jeff Lynne, Hyde Park London 14.9.2014 (Foto: Stefan Franzen)

Azurblau schimmerte das Vinyl der kleinen Schallplatte, die Tante hatte sie dem Neunjährigen mitgebracht. Vom Cover blickte etwas grimmig ein bärtiger Lockenkopf, der auch die „himmlische“ Musik der Single „Mr. Blue Sky“ geschrieben hatte. Ein kurzer Wetterbericht, gefolgt von hämmernden Rhythmen, einem triumphalen Ohrwurm-Refrain, und alles mündete in hymnisches Streichorchester und Chorgesang. So etwas Großartiges hatte der Autor dieser Zeilen zuvor noch nie gehört. Und er wurde Fan des Electric Light Orchestras (ELO) mit seinem Chef Jeff Lynne, so hieß der geniale Songschreiber mit der grimmigen Miene, der heute 75 Jahre alt wird.

Damals, 1978, hatte ebenjener Lynne schon eine erstaunliche Laufbahn hinter sich. In Birmingham wuchs er auf mit den Klängen der Beatles, aber auch mit den US-Idolen Del Shannon und Roy Orbison. Er durchlief in den Sechzigern eine Reihe experimenteller Rock-Combos, der Sound der letzten, The Idle Race, trug schon seine Handschrift mit der bissig-melancholischen Stimme nahe der Falsettlage und ungewöhnlichen Akkordfolgen. Mit der Nachfolgeband The Move kamen an der Seite des exzentrischen Roy Wood die ersten Erfolge. Immer bestimmender wurden im psychedelischen Rockgewand die orchestralen Elemente. Mit dem Ziel, dort weiterzumachen, wo die Beatles mit „I Am The Walrus“ aufgehört hatten, gründeten Lynne und Wood 1970 schließlich das Electric Light Orchestra. Schräge Holzbläser, wuchtige Celli, Anleihen bei Bach und Edvard Grieg: Die frühen ELO-Jahre klingen auch heute noch abenteuerlich.

Nach dem Ausstieg von Wood trieb Lynne den Sound ins Breitwandformat: Das Orchester nahm symphonische Dimensionen an, und in diesem Klangbad erzählte Lynne Geschichten, die er zu Konzeptalben weitete, beginnend 1974 mit Eldorado. Lynnes Songwriting pendelte nun zwischen pompös und verspielt mit grandiosen Dur-Moll-Schattierungen und überraschenden harmonischen Rückungen. Keyboarder Richard Tandy prägte mit seinem Fuhrpark von Synthesizern und Vocodern den ELO-Sound genauso wie die wuchtig-matschigen Drums von Bev Bevan, Lynne selbst würzte bluesige Soli auf der Gitarre bei. Als Emblem erfand man ein quietschbuntes Raumschiff, das als Pappmodell 1977 dem Doppelalbum Out Of The Blue beilag und auf den Welttourneen die Bühne beherrschte. Songs wie „Telephone Line“, „Livin‘ Thing“ oder „Turn To Stone“ wurden vor allem Hits in Deutschland, wo Lynne – in den Münchner Musicland Studios – mit dem Toningenieur Reinhold Mack aufnahm. An der Schwelle zu den Achtzigern setzte Lynne eine verspiegelte Sonnenbrille auf, die er – genau wie Bart und Mähne – nie mehr abnahm, was ihm später den Beinamen „Jesus Of The Uncool“ einbrachte. ELO versuchten es jetzt mit Disco, schufen die zornig schlurfende Hymne „Don’t Bring Me Down“, erzählten auf Time die Geschichte einer sagenhaften Zeitreise im futuristischen Sound. Dann plätscherte die Band aus.

Doch Jeff Lynne startete eine zweite Karriere, produzierte seine Idole, die ihn jetzt selbst verehrten: George Harrison, Roy Orbison, Tom Petty, Bob Dylan (zusammen die Traveling Wilburys), sowie seine gealterten Rock’n’Roll-Helden Duane Eddy und Del Shannon. Er veredelte gar zwei John Lennon-Demos. Im sonnigen Beverley Hills residierte er jetzt, England hatte er den Rücken gekehrt. Bis zum denkwürdigen 14. September 2014, der seinen bis heute anhaltenden dritten Frühling mit neuen Platten und Tourneen einläutete: Die BBC hatte ihn in einer Frühstücksshow in das Versprechen hineingequatscht, nach 25 Jahren wieder in England aufzutreten. Lynne hielt Wort, brachte seinen alten Bandkumpel Richard Tandy mit, ließ den Raumschiff-Sound im Londoner Hyde Park auferstehen. 50.000 waren aus dem Häuschen. Und am Bühnenrand erinnerte sich der Autor an die kleine azurblaue Platte, mit der für ihn alles begonnen hatte.

Electric Light Orchestra: Live At Brunel University, 1973
Quelle: youtube

Goodbye UK, it’s hard to die

Es ist ein Tag zum Heulen.
Wenn ihr musikalisch mit mir trauern wollt:

Today is a day of mourning.
If you wanna do some grief work with me:

John Smith: „England Rolls Away“
Quelle: youtube

Genesis: „Dancing With The Moonlit Knight“ (Selling England By The Pound, live 1973)
Quelle: youtube

Transglobal Underground: „London’s Calling“
Quelle: youtube

Kate Bush: „Oh England, My Lionheart“ (live 1979)
Quelle: youtube

Sam Lee: „The Garden Of England“
Quelle: youtube

Ralph Vaughan Williams: „Norfolk  Rhapsody“
Quelle: youtube

ELO: „Last Train To London“
Quelle: youtube
Fairport Convention: „Farewell, Farewell“
Quelle: youtube

(he)artstrings #22: Orchestraler Ohrwurm

„Can’t Get It Out Of My Head“ (Jeff Lynne)
aus: Electric Light Orchestra – Eldorado (1974)

Der zweite Song für die (he)artstrings aus der Feder von Jeff Lynne, zu Ehren seines heutigen 70. Geburtstages – und eines jener Lieder, welches im Text genau das beschreibt, was mit dem Hörer passiert: Man kriegt es einfach nicht mehr aus dem Kopf, es beisst sich fest, ob man will oder nicht.

Als Jeff Lynne dieses Lied schrieb, hatte er 1973 mit On The Third Day gerade die experimentelle Phase des Electric Light Orchestra hinter sich gelassen und mit „Ma-Ma-Ma-Belle“ einen frühen Radiohit gelandet. Eldorado im Folgejahr allerdings wurde zum ersten Konzeptalbum von ELO, die Geschichte eines unbekannten Helden auf der Suche nach dem sagenhaften Goldparadies, umgesetzt in romantischen, traumgleichen Klangtableaus, die den Rock- und Blues-Aspekt etwas in den Hintergrund treten lassen. Erstmals ist auch ein komplettes Symphonieorchester mitsamt Chor konsequent in die Arrangements integriert – angeblich wollte sich der damals 26-jährige Lynne damit von seinem Vater, einem Klassikliebhaber, die Legitimation für sein Dasein als Rockmusiker abholen.

„Can’t Get It Out Of My Head“ ist die erste Station dieser Symphonie, nachdem die pompöse Ouvertüre verklungen ist. Eine unspektakuläre Melodie aus wenigen Tönen, umschlungen von schillernden Orchesterfarben, wie sie nur Jeff Lynne schreiben konnte. Was er mit seiner aktuellen ELO-Verkörperung (die teils aus den Musikern der Take That-Band besteht) aus der Träumerhymne gemacht hat, ist leider nur ein müder Abklatsch und kann den Patinazauber von 1974 nicht wiedergeben.

Ich habe den Song glatte zehn Jahre nach Erscheinen von Eldorado kennengelernt, als ich mir zwischen 1982 und 1984 sämtliche ELO-LPs gekauft habe – ausgelöst wurde mein Fieber durch das Album Time. Und dann ging es mir eben wie vielen anderen: Ich bekam den Song über Monate nicht mehr aus dem Kopf. Also Vorsicht beim Anklicken des unfreiwillig komischen Clips mit seinem ruralen Siebziger-Charme…

Herzlichen Glückwunsch an das Songschreiber-Genie Jeff Lynne zum 70.!

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ELO: „Can’t Get It Out Of My Head“
Quelle: youtube

 

(he)artstrings #20: Symphonische Wetter-Ode


Mr. Blue Sky“ (Jeff Lynne)
aus: Electric Light Orchestra – Out Of The Blue (1977)

Heute wird nicht nur das Album Out Of The Blue des Electric Light Orchestras auf den Tag genau 40 Jahre jung, auch dieser Blog feiert seinen 3. Geburtstag. Die unvergleichliche Truppe um Mastermind Jeff Lynne zum Jahrestag hier zu platzieren, passt umso besser, als ich diesen Blog 2014 u.a. mit der Besprechung des Konzerts im Hyde Park gestartet habe.

Ich weiß nicht, ob mich irgendein Stück Popmusik als Neunjähriger mehr begeistert hat als „Mr. Blue Sky“. Es kam wohl erstmals als blau-transparente Vinylsingle meiner nur wenig älteren Tante zu mir, und es beherrschte Anfang 1978 über Wochen die Hitparaden. Für einen Jungen, der vom Elternhaus mit Klassik geprägt wurde, selbst Geige spielte und trotzdem in seinem Jugendzimmer das Ohr an den aktuellen Hits aus UK hatte, gab es wohl keine idealere Stilkombination.

Die Ode an den blauen Himmel, die als Finale des viersätzigen „Concerto For A Rainy Day“ gesetzt war, ist einer der größten Meisterstreiche von Mr. Lynne, mit einer triumphalen Melodie, einem pointierten, bluesig angehauchten E-Gitarren-Soli und einer gewaltigen symphonischen und choralen Schlussformel mit Anklängen von Barock bis Spätromantik.
Das dazugehörige Doppelalbum Out Of The Blue habe ich in seiner Gänze erst Anfang der 1980er gekauft – da waren die Exemplare mit dem beigelegten Falz-Raumschiff schon nicht mehr auf dem Markt.

Es gibt viele grässliche, aber auch ein paar schöne Coverversionen von „Mr. Blue Sky“, z.B. vom Neo-Soulmann Mayer Hawthorne. Auch die Live-Versionen von Lynne und seinen Mannen selbst kommen – wie so oft beim Klangbastler – nicht an die Studioversion heran.
Entstanden ist das Regenkonzert zu aller Überraschung nicht in einem verregneten englischen Herbst, sondern in einem ebensolchen Sommer in München, wo ELO ihre Platte damals in den Musicland Studios einspielten.

Leider existiert im Netz nur eine ziemlich miserable Fassung des Originals (die erst bei 0:13 einsetzt und mit Livebildern unterlegt wurde).

Electric Light Orchestra: „Mr. Blue Sky“
Quelle: youtube

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Klangreisen für Herbert George

Foto: George Charles Beresford, 1920

Ob er ein  Science Fiction-Autor war oder doch eher ein Meister der fantastischen Erzählung – darüber lässt sich trefflich debattieren: H.G.Wells wäre heute 150 Jahre alt geworden.

Sieben Reisen durch die Zeit zu Ehren seines bekanntesten Buches! Weiterlesen

Die Rückkehr des Raumschiffs

jeff lynnes elo - alone in the universe
Er ist eines der unbestrittenen Genies der Popgeschichte: Jeff Lynne, Mastermind des Electric Light Orchestras (ELO), Produzent für George Harrison, Roy Orbison und die Beatles, veröffentlicht das erste als „ELO“-Produktion betitelte Album seit 2001. Aus diesem Anlass blicke ich auf 45 Jahre Karriere zurück. 

Das britische Musikblog The Quietus nannte ihn „Jesus of the Uncool“. Man kann es aber auch so herum sehen: Jeff Lynnes Frisur und Styling sind genauso zeitlos wie seine Musik. Der Sänger, Gitarrist, Songwriter und Produzent aus Birmingham hat seit Ende der 1960er einen unverwechselbaren Sound aus Romantik und Rock’n’Roll, aus Science Fiction und Symphonik geschaffen. Nach turbulenten frühen Experimentalrock-Jahren führt er das Electric Light Orchestra (ELO) zum Welterfolg, war Mitglied der Traveling Wilburys, produzierte George Harrison, Roy Orbison und Tom Petty, stand kürzlich gar am Pult für Bryan Adams. Im September 2014 betrat er nach einem Vierteljahrhundert erstmals wieder eine Bühne, und das gleich vor 50.000 Menschen im Londoner Hyde Park. Nach dem Live-Comeback gibt es mit „Alone In The Universe“ nun ein neues „ELO“-Album des 67-jährigen, der wie kaum ein anderer das Gespür für den perfekten Popsong hat.

1. Jeff Lynne’s ELO: „When I Was A Boy“ (2015)
Quelle: youtube

Es steht zwar ELO auf der Verpackung, und auch das Raumschiff als Erkennungsmerkmal der Band thront auf dem Coverhimmel. Doch drinnen ist nicht das Electric Light Orchestra, sondern nur Lynne, der als Perfektionist auf dem neuen Opus alle Instrumente selbst betätigt. Und einmal mehr trendfreie Dreiminuten-Miniaturen liefert, mit starken Anleihen bei den Beatles, bei den barocken SpielfIguren von Bach oder auch mal beim Schmelz eines Roy Orbinson. Die unverkennbaren harmonischen Wendungen sind da, die geschichteten Backgroundchöre, die schlurfigen Drums, die Streichereinwürfe, die sekundengenau getrimmten Gitarrensoli. In der Singleauskopplung erinnert er sich, wie seine Musikerträume begannen. Der Weltstar grüßt zurück zum kleinen Bub. Weiterlesen

ELO: Knusperraumschiff über London

stage moonalle Fotos: Stefan Franzen

Jeff Lynne’s ELO
Hyde Park London, 14/09/14

Surreales Poptheater: 13 Jahre nach einer gescheiterten Tournee ist Jeff Lynne mit den alten Hits seines Electric Light Orchestras auf die Bühne zurückgekehrt, mitsamt symphonischer Streicherriege. Die Kulisse: Ein Sommerabend im Hyde Park vor 50.000 Menschen.
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