Mahler trifft auf Art-Pop


Dirty Pr
ojectors, David Longstreth & stargaze
Song Of The Earth
(Transgressive/Nonesuch)

Stargaze, das multinational besetzte Kollektiv von Freiburgs GMD André de Ridder, spannt mit der US-Indierock-Band Dirty Projectors zusammen. Die Inspiration lieferte Gustav Mahler.

Welche Musik komponiert man im unmittelbaren Angesicht der Klimakatastrophe? Nachdem Waldbrände atemraubend bis an sein Haus in L.A. gezüngelt waren, schuf David Longstreth, Mastermind der Dirty Projectors, kein dystopisch lärmendes Klangszenario. Vielmehr ist sein Zyklus „Song Of The Earth“ ein Werk, in dem trotz ausufernder Besetzung Verletzlichkeit im Zentrum steht. Vor allem das Besingen der irdischen Naturwunder und der Verzweiflung, wie wir unser offensichtliches, selbstverschuldetes Ende verdrängen, entfaltet sich opulent in 24 Kapiteln. Um Longstreths empfindsame Vocals agieren die drei Frauenstimmen der Dirty Projectors plus Gäste von Steve Lacy bis Ayoni. Sie begegnen Stargaze: Quintette aus Streichern und Bläsern, die teils noch orchestral aufgestockt werden, dazu Klavier, Cembalo, opulentes Schlagwerk. Diesen vielköpfigen Zwitter aus Orchester und Band am Pult bündelnd und bändigend: Crossgenre-Spezialist André de Ridder, dessen Wunsch es ist, das Stück einmal in Freiburg auf die Bühne zu bringen.

Zugegeben, das 64-minütige Opus ist überambitioniert, überfordert Pop-Hörgewohnheiten. Auch wenn sich ein paar Leitmotive herausschälen, geht, wer herkömmliche Songstrukturen erwartet, fast leer aus. Es gibt sehr stille, folkige Momente zur Gitarre, lyrische Chorschichtungen, kristalline Streichersounds, pastorale Anmutungen. Besonders ausgearbeitet sind die Holzbläser-Texturen, oft loop-artig und an den Minimalisten Philip Glass erinnernd. Die verschrobenen Instrumentenkombinationen und Taktwechsel lassen an Beach Boy Brian Wilsons „Pet Sounds“-Phase denken. Doch um die Ecke lauert der Kipppunkt, immer wieder greifen drohende Blech-Fanfaren an. „Schönheit gespickt mit Zerstörung“, nennt Longstreth das.

In dieser Verwitterung der Grenzsteine zwischen Songwriting und Klassik liegt vielleicht die Zukunft der Musik. Die letzte Pop-Generation mit Bryce Dessner und Owen Pallett entwirft ja schon länger selbstbewusst Orchesterpartituren, und auch ein Longstreth bindet sich vielsagend an das Erbe der Spätromantik an: Seinen Werktitel hat er dem „Lied von der Erde“, Gustav Mahlers Vokalsymphonie von 1908 entlehnt. Auch wenn die musikalischen Parallelen allenfalls am Ende aufscheinen, in Longstreths Elegie „Blue Of Dreaming“, sind die beiden über Zeitalter hinweg Verwandte im Geiste: Beide erzählen ergreifend und melancholisch vom Zurücklassen-Müssen einer Erde, die sich immerfort zyklisch erneuert – auch nach unserer Selbstzerstörung.

© Stefan Franzen

Dirty Projectors, David Longstreth & stargaze: „Blue Of Dreaming“
Quelle: youtube

Segensspruch für Paris

Vor einem halben Jahrhundert gründete der französische Sänger, Songschreiber und Comédien Pierre Barouh das Label Saravah, benannt nach einem Segensspruch aus den brasilianischen Macumba-Ritualen. Saravah hat nicht nur französischen Größen wie Jacques Higelin oder Brigitte Fontaine Tür und Tor geöffnet, der Verlag mischte auch im Jazz mit Veröffentlichungen von Barney Wilen, Richard Galliano oder Steve Lacy mit. Schließlich war Saravah bereits in den 1970ern auch ein Vorreiter der Weltmusik und kümmerte sich um Naná Vasconcelos oder Pierre Akendengue. Saravah wird bis nach Japan als Kultabel geschätzt. Der runde Geburtstag wird am 20. November im Pariser Trianon gefeiert. Während dieses Abends präsentieren Pierre Barouh selbst, seine Tochter Maia, aber auch Jazz- und Singer/Songwriter-Größen von Séverin bis Jeanne Cherhal noch einmal die bekanntesten Chansons und Songs aus dem Katalog dieses einzigartigen Labels. Eine CD-Kompilation wird Anfang November unter dem Titel „50 ans Saravah“ auf den Markt kommen, zu hören hier unter anderem Olivia Ruiz, Maia Barouh und Yolande Moreau.

Bon anniversaire, Saravah!

Pierre Barouh: Ce N’est Que De L’Eau“
Quelle: youtube