Die Nächte reden mit mir

Der persische Santurspieler Kioomars Musayyebi baut auf seinem neuen Album  A Voice Keeps Calling Me Brücken vom Iran über den arabischen Raum bis zur Alten Musik Europas.

„Schon im Iran wollte ich so viele Kulturen wie möglich kennenlernen“, sagt Kioomars Musayyebi. „Denn ich bin überzeugt, dass Musik eine gemeinsame Sprache ist, in der wir ohne Worte miteinander reden können, auch wenn die Gesellschaften durch die jeweilige Kultur und verschiedenen Rituale ein wenig auseinandergegangen sind. Nur der Dialekte, die Akzente sind anders.“ Aufgewachsen ist Musayyebi im Teheran. Dass er zur Musik kam, ist seinem Vater zu verdanken, der selbst kurdische Lieder sang und aus seinem Sohn einen Künstler machen wollte. Er gab ihn in die Obhut des größten persischen Meister auf dem Hackbrett Santur, Faramarz Payvar, der den Jungen nicht nur für das Instrument begeisterte: „Bei Payvar Schüler zu sein, das hieß, auch eine Philosophie fürs Leben mitzubekommen. Er war ein ganz besonderer Pädagoge.“ Bis heute verdankt Musayyebi seinem Meister viel, hat aber natürlich den Spielstil weiterentwickelt, ihn auch mit Techniken des Payvar-Schülers Parviz Meshkatian bereichert.

Sein Bedürfnis, über die klassische persische Musik hinauszuschauen, konnte Musayyebi im Iran nur begrenzt umsetzen. Daher kam er 2011 nach Hildesheim, wo er an der Musikhochschule rege Aktivitäten entfaltete: „Dort gab es viele Möglichkeiten für mich, etwas auszuprobieren: Wie klingen meine persischen Wurzeln zusammen mit arabischer Musik, mit Jazz, Weltmusik und anderen Instrumenten?“ Seitdem spielt der heute in Essen lebende Komponist in einer Vielzahl von Ensembles, um diese Begegnungen auszuloten, etwa im Transorient Orchestra, im Nouruz Ensemble oder in der Band Beyond The Roots, die sich letztes Jahr als multinationales Kollektiv um die Kölner Klarinettistin Annette Maye gegründet hat. Um eine ganze Bandbreite von Facetten auf einem einzigen Album unterzubringen, hat Kioomars Musayyebi auf A Voice Keeps Calling Me (Pilgrims Of Sound) acht Stücke für verschiedene Besetzungen mit Streichern, Blas- und Zupfinstrumenten versammelt.

„Es sind die unterschiedlichen Melodien in meinem Kopf, die mich rufen“, erklärt Musayyebi seinen Kompositionsprozess. „Ich denke beim Schreiben überhaupt nicht unbedingt an die Santur. Manchmal komponiere ich am Klavier oder auf der Sitar, manchmal zieht es mich zur Alten Musik, nach Persien oder in den arabischen Raum. Es kann sein, dass die Klarinette in meinem Kopf sagt: Ich muss diese Melodie spielen, oder einmal die Geige, oder sie tun sich in meiner Vorstellung zusammen. Und langsam reift die Idee: OK, dieses Stück gehört diesem oder jenem Ensemble.“ Die Melodien seien wie Stimmen, die ihn rufen, daher auch der Albumtitel, den er zugleich einem Gedicht von Sohrab Sepehri entlehnt hat. Vom großen Poeten der iranischen Moderne empfängt er in allen Lebens- und Gemütslagen Einflüsse.

Auf A Voice Keeps Calling Me wird es gerade wegen des ständigen Wechsels der Besetzungen, der unterschiedlichen „Stimmen, die rufen“, nie langweilig: Im Eröffnungsstück „Entezar“ bringt Musayyebi seine Sehnsucht nach Indien zum Ausdruck, indem er seinem indischen, ebenfalls in Deutschland lebenden Kollegen Hindol Deb eine prominente Solorolle zugesteht. „Djozz“ ist eine Widmung an den Mitmusiker Bassem Hawar und seine irakische Stachelgeige „Djoze“, gleichzeitig ein Paradestück für eine Suite, die zwischen Europa, dem arabischen Raum und Persien vermittelt. „Als ich im Iran lebte, hatten wir diesen achtjährigen Krieg mit dem Irak“, erinnert sich Musayyebi. „Und hier in Deutschland war der Iraker Bassem Hawar einer der ersten Musiker, die ich kennengelernt habe. Wir haben viele Stunden geredet und gemerkt, dass wir beide die gleichen Gefühle haben, dass unsere gemeinsame Musik Frieden bringt.“

Im Titelstück hat Musayyebi eine Melodie reaktiviert, die aus einer Fernsehserie stammt, die er als Kind im Iran gesehen hat. Nach 30 Jahren in seinem Kopf kommt sie nun zu neuen Ehren. Mit Annette Maye und dem Beyond The Roots-Ensemble wurde die lange Improvisation „Igra“ als spannender Hybrid zwischen Jazz und eurasischer Musik kreiert. Schließlich zwei Nachtstückchen, die zum einen ganz in die persische Klassik zurückführen („Nächtliches Geflüster“), zum anderen mit dunkler Flöte und schnurrender Djoze wunderbar dunkle Klangfarben erzeugen („Letzte Nacht“): „Die Nächte reden mit mir, in den Nächten kann ich gut denken und mich wohlfühlen“, sagt Musayyebi. „Jede Nacht könnte auch die letzte sein: Vielleicht sehen wir uns morgen nicht mehr. Aber wir haben die Hoffnung, dass der Morgen kommt und alles wieder von Neuem beginnen kann.“ Bei all den Inspirationen, die Kioomars Musayyebi derzeit außerhalb seiner Heimat empfängt, zieht es ihn – auch wegen der problematischen politischen Situation – vorerst nicht zurück. „Ich möchte noch mehr von der Welt sehen. Da gibt es noch viele Stimmen in anderen Ecken, die mich rufen.“

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

Kioomars Musayyebi Quartet live
Quelle: youtube

Persische Miniaturen

Ein spannendes Künstlerpaar jenseits der Komfortzone. Sie: klassische Pianistin mit einem breiten Spektrum von Bach bis Anton Rubinstein. Er: Erneuerer der iranischen Stachelgeige Kamancheh, sozialisiert in zwei Welten. Gemeinsam haben sie in jahrelanger Arbeit ein Programm auf die Beine gestellt, das ein Netzwerk zwischen der Kunst- und Volksmusik Persiens, des Kaukasus, Anatoliens und des Abendlands vor Ohren führt. Die stets spürbare Durchlässigkeit geographischer Grenzmarken folgte dem humanistischen und pazifistischen Anspruch des Veranstalters, dem Haus der Kultur Freiburg.

Eine Entdeckung zu Beginn: Mit seinen „Persischen Miniaturen“ gibt der französisch-iranische Komponist Aminollah Hossein dem Abend den Titel. Die großorchestrale Anlage des Originals wandelte Schaghajegh Nosrati auf dem Flügel in eine konzentrierte Dramaturgie, mal nachsinnend, mal wuchtig, am Ende tänzerisch mitreißend. Mit Hossein teilt der Armenier Arno Babadjanian den bei uns geringen Bekanntheitsgrad. Zu Unrecht: Die Klaviersolo-Stücke des Khatachaturian-Schülers offenbarten eine farbenprächtige Ausharmonisierung der fast sakral anmutenden Volkstöne. Wie dem Flügel nun die kleine Stachelgeige begegnete, dieses obertonreiche Instrument mit dem kaum fasslichen, rauschhaften Klang, sorgte für verblüffende Wechselwirkungen.


Misagh Joolaee hat die Kamancheh mit neuen Zupf- und Schlagtechniken in seinen Eigenkompositionen aus dem herkömmlichen Gehege befreit. Etwa in „Nach einem Sommer / Tanz der Ahorne“: Schmerzliche Ekstase, anfangs noch verhalten, löst sich in eine rasante Abfolge von nie gehörten Springbogen-Passagen, „Im Auge des Windes“ trägt trotz wirbelnder Bogenführung melodische Wehmut in sich. Bei solch virtuosen Stücken stützt Nosrati am Klavier eher mit Bordunen. In „Marmara Sea“ dagegen durchdringen sich im beredten Dialog thematische Arbeit auf Tasten und Saiten, und in den Adaptionen aus der „Lyre Armenienne“ des Mönches Komitas begeistern die beiden Akteure mit fein abgestimmten Dynamikwellen. Verblüffende Nähe der Kamancheh zur menschlichen Stimme in einem der erstaunlichsten Momente: Als Nosrati und Joolaee ihre Übertragung von Ravels fünf populären griechischen Melodien vorstellen, zeichnet die Geige den Sopranpart nicht bloß nach, sondern erweitert die emotionalen Schattierungen enorm – dank der Rauchigkeit ihres Timbres.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung (Ausgabe 3.12.2021)

Schaghajegh Nosrati & Misagh Joolaee: „Marmara Sea“
Quelle: youtube

Holler love across the nation X: Wie sich ein Kokon öffnet

Am 24. Januar 1967 sitzt eine 24-jährige, erfolglose Sängerin in Muscle Shoals, Alabama am Studiopiano. Sie hämmert ein paar Gospelakkorde in die Tasten, bannt alle Blicke. Ihr neuer Produzent Jerry Wexler hat sie aus New York hierhergebracht. Er will ihrer Musik mit einer heimischen Sessionband etwas Besonderes einhauchen: den rauen Pulsschlag des Südens. Und dann passiert einer der Quantensprünge für die Musikgeschichte Amerikas: Hier öffnet sich der Kokon der Pastorentochter Franklin, die mit verschnulzten Arrangements von Standards bislang weit unter ihren Möglichkeiten blieb, und gebiert die Soulqueen Aretha. Liesl Tommy hat diesen Tag als Dreh- und Angelpunkt ihres Biopics „Respect“ so dicht und wahrheitsgetreu in Szene gesetzt, dass man sich im Studio wähnt. Wenn die Musiker das langatmige Blues-Riff des Demos geistesblitzend in gospelgetränkte Tastenarbeit, feuchten Bläsersatz und einen soghaften Dreier-Groove verwandeln, kapiert man: Das ist Soul Music.

Drei Jahre nach Aretha Franklins Tod widmet sich die Filmindustrie ihrer Vita gleich doppelt. Nur ein kleines Publikum erreichte die auf Disney+ ausgestrahlte Serie „Genius: Aretha“. Eine etwas zu affektierte Aretha gab da die Britin Cynthia Erivo. Mit hölzernen Dialogen und einem lauwarmen Soundtrack glomm das Feuer des Soul in detailverliebter Ausstattung auf Sparflamme. Aber jetzt:  großes – im wahrsten Sinne – Ohrenkino. Mit „Respect“ verfilmte die US-Südafrikanerin Liesl Tommy Franklins Lebensspanne vom 10. bis zum 30. Lebensjahr. R&B-Star Jennifer Hudson war von der Dargestellten noch persönlich zu dieser Rolle autorisiert worden.

Hudson wirkt allerdings zunächst noch blass. Als sie erstmals auftritt, ist man noch ganz gefesselt von der Kindheitsgeschichte, in der Skye Dakota Turner die kleine „Ree“ überragend warmherzig eingefangen hat: wie sie singen darf bei den nächtlichen Parties im Salon des Reverend-Vaters (fast ein wenig zahm-grummelig im Vergleich zum tatsächlichen C.L.Franklin: Forest Whitaker). Wie sie erstmals mit Spirit in der Stimme vor der Gemeinde steht. Vor allem aber, wie ihr der frühe Tod der Mutter tiefe Seelenschmerzen zufügt. Von ihr hat sie in einer berührenden, zärtlichen Szene Leitsätze fürs Leben mitbekommen: „Deine Stimme gehört nur Gott.“

Vorerst aber gehört ihre Stimme Columbia Records. Das Label versucht sie wechselweise mit Jazz und Streicherkitsch zu vermarkten, es ist dies die Strecke des Films, die zähflüssig wirkt, die sich auf die schon früh toxische Beziehung zum Ehemann und Manager Ted White fokussiert. Marlon Wayans verkörpert ihn als Prototyp eines Hustlers etwas holzschnittartig. Im Theater und Musical geschult hat Liesl dieses quälende Warten auf den Erfolg gezielt als Stilmittel eingesetzt, um das Platzen des Knotens umso effektvoller auftischen zu können. Produzent Jerry Wexler bringt Fahrtwind in den Film, den Spürhund von Atlantic Records spielt Marc Maron mit sarkastischer, knochentrockener Coolness.

Von nun an gibt‘s viel Musik, endlich, und Hudson kann sich dank ihrer vokalen Trümpfe ganz in die Figur hineingießen. Am Klavier mit den Schwestern Carolyn und Erma, wo sie nachts Otis Reddings „Respect“ zur Hymne weiblicher Selbstbestimmung knetet – in zwei fulminanten Kamerablenden wird diese neue Hymne einer ganzen Generation zuerst ins Studio, dann auf die Bühne des Madison Square gehievt. Am Set für eine TV-Doku, wo sie „Ain’t No Way“ zu brennender Liebesverzweiflung formt. Und auf den Brettern des „Olympia“ in Paris, wo sie sich mit dem brausenden „Freedom“-Refrain von Ted White löst: Lyrics werden zu Biographie. Jennifer Hudson hat Aretha Franklin gut studiert, vom Südstaaten-Singsang beim Sprechen bis zu den zusammengekniffenen Lippen. Sie weiß, dass sie an Franklins Jahrhundertstimme nicht heranreichen kann. Und verkörpert ihre Vokalkunst dennoch mehr als würdig: weil sie ebenso vom heiligen Feuereifer für die Musik durchdrungen ist.

Weniger plastisch wirkt Hudson, wenn sie die Civil Rights-Engagierte mimt. Man nimmt ihr die Begeisterung für die Sache am ehesten in einem Streitgespräch mit dem Vater ab, er will die Bewegung in der Kirche halten, während die Tochter sich lieber mit der Aktivistin Angela Davis verbündet. Ganz nah ist Hudson Aretha dann wieder im tiefen Tal von Alkoholmissbrauch und Depression. Die erschütterndste Szene von „Respect“, mit einem wunderbaren Bogenschlag zurück: Es erscheint die „Amazing Grace“ summende Mutter, in deren Schoß Aretha Zuflucht findet. Wiederum ein schöner Dramaturgie-Kniff Liesl Tommys, mit dem sie Franklins berühmtes Gospelkonzert von 1972 einläuten kann – als Rückkehr in den Schoß der Kirche, mit Hudsons glühendster Performance. Nicht nur für Franklin-Fans ist „Respect“ in dieser winterlichen Wirrnis ein seelenvolles, tröstendes Geschenk.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 25.11.2021

Jennifer Hudson becomes Aretha Franklin
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Joni & Amelia


Happy Birthday, Joni Mitchell – mit einem ihrer großartigsten Songs ever, inspiriert durch die Flugpionierin Amelia Earhart.
Er stammt vom Album Hejira, mit dessen Gitarrenakkorden der weiten Landschaften ich mich spät, dann aber umso heftiger angefreundet habe.

Joni Mitchell: „Amelia“ (live 1979)
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Klänge für den Solarplexus

200 Jahre Unabhängigkeit ihrer Heimat, 50 Jahre Bühnenjubiläum Susana Baca: Über die runden Zahlen hinaus haben Peru und seine ikonische Sängerin eine enge musikalische und politische Beziehung. Mit „Palabras Urgentes“ setzt die einstige Kulturministerin ihr gesellschaftliches Engagement fort – und am Produktionspult stand Michael League von Snarky Puppy.

„Tocosh“ heißt eine natürliche antibiotische Medizin aus den Anden. Susana Baca beteuert, dass sie sich und ihre Stimme dank dieses „Inka-Puddings“ fit hält. Und in der Tat: Wer die neue Scheibe der 76-Jährigen, Palabras Urgentes (RealWorld) anhört, kann kaum einen Unterschied feststellen zu der klaren, kräftigen, resoluten Vokalkraft auf den Alben von vor zwanzig Jahren. Doch sonst ist eine Menge anders. „Das Album ist eine Meditation über das, was gerade in diesem Land passiert“, erzählt Baca in einer Live-Schalte aus Lima. „Das gesellschaftliche Klima hat sich wegen massiver Korruption drastisch verschlechtert, Politiker haben sich bereichert, Richter haben Freunde begünstigt. Im Volk hat sich eine Mischung aus Scham und Zorn breitgemacht. Ich konnte nicht mehr nur Poesie singen oder Liebeslieder. Zugleich wollte ich die Frauen ehren, die vor 200 Jahren eine so wichtige Rolle im Freiheitskampf gespielt haben.“

Namentlich sind das Micaela Bastidas, die Gefährtin des Rebellen Túpac Amaru II, die sie im Song „La Herida Oscura“ anspricht, und Juana Azurduy, die gegen die Spanier eine ganze Armee anführte. „Zum Jahrestag der Unabhängigkeit gab es eine Ausstellung, die mir gezeigt hat, dass Frauen sich organisieren müssen, um Beachtung zu finden,“ sagt Baca, und sie berichtet auch, dass sie bei den diesjährigen Wahlen Teil einer Ethik-Kommission war, die über faire Behandlung aller Bevölkerungsgruppen und Geschlechter wachte. Dabei sei viel Gewalt und Diskriminierung ans Tageslicht gekommen, selbst gegenüber Frauen, die schon in Machtpositionen waren.

All diese Schieflagen, dazu die dramatisch hohe Covid-19-Todesrate: Gibt es denn überhaupt etwas zu feiern zum Geburtstag von Peru? „Ja, ich habe Hoffnung“, so Baca. „Während der Pandemie haben die jungen Leute gesehen, wie unser Gesundheitssystem zusammengebrochen ist. Daraus ist ihr Wille entstanden, ein neues Land aufzubauen, sie entschließen sich jetzt vermehrt, nicht ins Ausland zu gehen, sondern hier vor Ort ihre Anstrengungen zu bündeln.“ Das wird in einem Land geschehen, das seit Juni von einem sozialistischen Lehrer aus der Sierra angeführt wird, Pedro Castillo.

Bacas Album Palabras Urgentes könnte der Soundtrack für dieses neue Peru werden. Seine Entstehung geht eigentlich auf das Jahr 2015 zurück, als die Band Snarky Puppy Lima besuchte, und Michael League Baca zur Teilnahme auf dem Album „Family Dinner II“ einlud. „Damals haben wir schon verabredet, dass er der musikalische Leiter für meine neue Scheibe werden sollte“, erinnert sich Baca, die internationale Kooperationen liebt, hat sie doch auf vergangenen Werken schon mit David Byrne, John Medeski, Marc Ribot oder Greg Cohen musiziert.

League hat den Sound des Albums, dessen Gros noch kurz vor der Pandemie eingefangen wurde, sehr vielfältig gestaltet: In „Negra Del Alma“ explodiert über dem Marimbaphon eine fulminante Blechblaskapelle, unter die sich das Saxophon des US-Amerikaners Jeff Coffin mischt, das Stück feiert ein Anden-Frühlingsfest. „Mein Lieblingssong, der geht direkt in den Solarplexus“, lacht Baca. In „Cambalache“ hat sie einen argentinischen Tango der 1930er mit afro-peruanischen Rhythmen adaptiert und den Text auf die jetzige Peru-Politik umgemünzt. Und in „Vestida De Vida“ singt sie mit großem Chor gegen die Klimakatastrophe an.

Am überraschendsten aber eine kurze Ballade namens „Dämmerung“: „Ich habe ein Gedicht von Luís Hernández Camarero, einem Dichter und Wissenschaftler vertont, der perfekt Deutsch sprach. Möglich, dass ich da auch Einflüsse von romantischen deutschen Komponisten verarbeitet habe, denn ich war ja oft auf Tour bei euch und habe eine Menge deutscher Musik gehört. Ihr wart das erste Land, in dem ich außerhalb Perus so richtig Anerkennung gefunden habe.“

Anerkennung ist auch das Stichwort, das Susana Baca verwendet, wenn sie über die Kultur der Afro-Peruaner spricht, für deren Sichtbarmachung sie Jahrzehnte gekämpft hat. „Ich dachte, wir hätten in puncto Rassismus Fortschritte gemacht. Aber es gibt immer noch Verachtung gegenüber den aus Afrika stammenden Küstenbewohnern, genau wie gegenüber den Indigenen aus Amazonien. Dabei ist der Reichtum dieser Gemeinschaft, die sich ‚Peru‘ nennt, gerade die Vielfalt in der Kultur. Damit sich diese Ansicht durchsetzt, müssen wir immer noch viel in unser Bildungssystem investieren.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #141

Susana Baca: „Sorongo“
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Diese Stimmen trotzen dem Trauma

Sadiqa Madadgar, alle Fotos © Zeitgenössische Oper Berlin

Das Streaming-Festival „Female Voice of Afghanistan” gibt afghanischen Musikerinnen eine globale Plattform – zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Situation für sie dramatisch verschärft hat.

„Ich bin Muslima, OK. Aber ich bin auch Sängerin!“ Sadiqa Madadgar schaut selbstbewusst in die Kamera. Was ist in die Biographie der erst 24-Jährigen schon alles eingeschrieben: Ihre Familie entrinnt dem Krieg in der südafghanischen Provinz durch den Gang ins pakistanische Exil. Aber da Sadiqa ihrer Leidenschaft, der Musik folgen will, verlässt sie die konservativen Eltern, geht allein nach Kabul. Dort wird sie mit smart auf Popformat gebrachten Volksmusik zum TV- und Youtube-Star, begeistert sich für Kampf- und Radsport. Als die Taliban wieder die Macht übernehmen, ist sie in akuter Lebensgefahr. Ende September gelingt ihr die notgedrungene Flucht aus dem Land, das sie so liebt. Fast erschütternd ist ihr lebensbejahendes „Trotzdem“: „Wenn wir die Herausforderungen nicht akzeptieren, warum leben wir dann überhaupt?“

Unerschrocken den Traumata zu trotzen, eine tägliche Herausforderung für Sadiqa. So wie für acht weitere Sängerinnen, deren Geschichten die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin, Andreas Rochholl, in sehr persönlichen Porträts vor Ort in Kabul und in Berlin eingefangen haben. Porträts, die durch die aktuellen Ereignisse kurz nach den Dreharbeiten im Juli eine zusätzlich dramatische Dimension bekommen haben.

Andreas Rochholl & Yalda Yazdani

Fünf Jahre lang hatte Yazdani über Frauenstimmen im Iran gearbeitet, mit Rochholl einen Dokumentarfilm er und zwei Bühnenfestivals in Berlin organisiert. „Dann kam der Punkt, wo ich den Blick über meine Heimat hinaus richtete. Afghanistan ist das Nachbarland, aber ich war nie dort“, erzählt sie. „Ich wurde neugierig auf die Frauen dort: Wer sind sie? Wie klingt ihre Musik? Alles, was uns seit Kindheit im Iran eingebläut wurde, war: Das ist kein sicheres Land, geht da nicht hin.“ Ähnlich die Vorgabe des Auswärtigen Amtes, durch die eine Recherche vor Ort und Reisen von afghanischen Künstlerinnen hierher vom Förder-Etat ausgeschlossen war. „Von Anfang an hatten wir also zwei starke Limitierungen“, sagt Rochholl. „Die Unmöglichkeit eines realen Festivals und die Corona-Pandemie. Wir mussten auf eigenes Risiko nach Afghanistan reisen, um die Menschen dort kennenzulernen, und dann um eine neue mediale Form abseits des klassischen Kinofilms ringen, damit wir das Resultat präsentieren können.“

In den Regionen, die sie erkunden konnten – Kabul, die Provinzen Bamyan und Herat – trafen sie auf eine ungeheure kulturelle Vielfalt, bedingt durch die geographische Lage des Landes: In afghanischer Musik hört man neben den lokalen Eigenheiten indische genau wie persische Einflüsse, auch die Farben der Turkvölker sind präsent. Kontakte stellte Yazdani über viele Telefonate und die sozialen Medien her. Sie stieß auf Sängerinnen, die schon lange etabliert sind, Berühmtheit bei der älteren Generation genießen. „Aber da waren auch sehr junge Musikerinnen, in deren Stimme eine tiefe Leidenschaft liegt. Sie sind während der letzten 25 Jahre aufgewachsen, haben Afghanistan im Umbruch erlebt. Und vor allem diese Generation interessierte mich. Das Ziel unseres Projekts ist es, das Menschliche in den individuellen Lebensgeschichten zu zeigen, und dann erst kommt der Gesang, der sich darauf bezieht.“

Freshta Farokhi

Da ist etwa Freshta Farokhi aus der Provinz Bamyan, mit ihren 20 Jahren schon eine herausragende Sängerin der traditionellen Musik der Hazara, die bei großen Festivals in gemischten Ensembles sang. Diese Festivals sind nicht mehr möglich, früh haben die Taliban Bamyan zurückerobert. Freshta sorgt sich nun, dass alle Anstrengungen vergangener Jahre für die Frauen und für ihre Musiker umsonst waren, sie muss sich an wechselnden Orten verstecken.

Oder die fußballbegeisterte Folksängerin Sumaia Karimi, die wie Sadiqa Madadgar durch die Talent-Show „Afghan Star“ bekannt wurde. Musik ist für sie Bewältigungsstrategie in einem Alltag, der für sie immer von Verlust und Blutvergießen geprägt war. Ihr großer Traum ist es, ein Straßenkinderorchester zu gründen. „Durch Musik verliere ich nicht meine Würde, im Gegenteil: Ich gewinne Würde und bin stolz darauf“, sagt sie an die Adresse der traditionell Religiösen. Kürzlich gelang ihr die Ausreise nach Italien, mit einer ungewissen künstlerischen Zukunft.

Pendelnd zwischen Hamburg und Kabul gestaltete Popstar Rouya Doost ihre Karriere, bis zuletzt hat sie an Projekten in Afghanistan gearbeitet, bis sie von heute auf morgen einer Lebenshälfte beraubt wurde. Und da ist auch eine Frau, die nur vollverschleiert und ohne Klarnamen vor die Kamera tritt. Zweimal war sie verheiratet, beide Männer hat ihr der Krieg genommen, ein Emigrationsversuch scheiterte im Gebirge. Sie hat alles verloren, ihre unbegleiteten Wiegen- und Liebeslieder auf Pashto treffen wie ein Stich ins Herz.

Diese Künstlerinnen haben sich alles selbst errungen. Eine musikpädagogische Infrastruktur, eine organisch gewachsene Musikszene war nach 40 Jahren Krieg nur in Ansätzen vorhanden. Einige von ihnen hat der mit ausländischen Mitteln finanzierte Sender Tolo TV ins Rampenlicht katapultiert. Jede Aussicht auf eine Verstetigung ihrer Laufbahn nehmen ihnen nun vorerst die Taliban. Doch diese Retraumatisierung des Landes stellt nur das Ende einer geschichtlichen Ereigniskette dar. „Die Taliban sind eine ganz radikale Form einer Tendenz, die in einem Land mit einem extrem traditionellen Islam schon immer existierte und zu der bei Teilen der Bevölkerung auch die Überzeugung gehört: Musik ist Sünde“, sagt Rochholl.

Überlagert wurde diese Glaubenswelt durch zwei Jahrhunderte Fremdbestimmung, die das Misstrauen gegenüber allem Ausländischen tief eingebrannt hat: von der britischen Kolonialphase über den sowjetischen Einmarsch bis hin zur Invasion der NATO, die mit ihrem Drohnenkrieg viele Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hat. Laut der Menschenrechtsorganisation medico international gehen mindestens 100.000 zivile Tote  auf das Konto der westlichen „Befreier“. Rochholl: „Wir können und wollen mit unserem Festival keine politisch-historische Analyse von außen betreiben, das wäre überheblich. Aber wenn wir die persönlichen Geschichten dieser Frauen erzählen, dann hat das eine Wahrheit.“

Sumaia Karimi

Yazdanis und Rochholls Festival zeigt neben den Porträts auch gefilmte Konzerte und die Resultate eines Netzwerkens: Durch Begegnungen über Zoom konnten die Musikerinnen Teamworks mit westlichen Kolleginnen einfädeln, auch diese spannenden Fusionen werden auf You Tube zu sehen sein. Ein Medium, das alle Sängerinnen weiterhin täglich nutzen, um das zu protokollieren, was ihnen passiert, auch wenn sie sich damit großen Gefahren aussetzen. „Diese Frauen haben einen so starken Charakter. Sie können immer wieder neu anfangen, und sie wollen auch nicht als Opfer gesehen werden“ resümiert Yazdani. „Mehr denn je ist jetzt die Zeit, in der ihre Stimmen gehört werden müssen.“

© Stefan Franzen, erschienen auf Qantara.de – Dialog mit der islamischen Welt

Streaming-Festival „Female Voice Of Afghanistan“:
15.-18 Oktober, jeweils von 19h – 20h30,
CrossGeneration Media – YouTube

„Female Voice of Afghanistan“ – Trailer
Quelle: youtube

Global Irish Heartbeat

Die Band, die er vor fast 60 Jahren gegründet hatte, war viel mehr als eine Irish Folk Group. Mit den Chieftains hat er über Jahrzehnte Brückenschläge in Rock, Klassik und Americana gewagt. Am 11. Oktober ist der große Virtuose auf dem irischen Dudelsack Uilleann Pipes, Paddy Moloney, im Alter von 83 Jahren gestorben.

1960 schloss er sich bereits der Band Ceoltóirí Chualann an, die unter ihrem Leiter Seán Ó Riada als Pioniere des Irish Folk Revivals galten. Zwei Jahre später formte er The Chieftains, die zunächst in Irland reüssierten, ab Mitte der 1970er auch international. Die Chieftains, die irische Volksmusikthemen zu kammermusikalischen Suiten verbanden, stiegen schon früh in die Filmmusik ein, lieferten den Soundtrack für Stanley Kubricks Streifen „Barry Lyndon“, später für „Gangs Of New York“ und „Braveheart“.

Moloney war seit den Sechzigern parallel auch als Plattenproduzent für Claddagh Records tätig, 45 Alben erschienen auf diesem Label unter seiner Ägide. Mit den Chieftains gewann Moloney sechs Grammys, unter anderem für die LPs An Irish Evening und Another Country. Es sind vor allem die außergewöhnlichen Kollaborationen, mit denen sich die Band von ihren Kollegen abhob, etwa mit Van Morrison (Irish Heartbeat), mit dem galicischen Dudelsackspieler Carlos Nuñez oder dem kubanischen Flötisten Richard Egües. Die Chieftains spielten vor Papst Johannes Paul II. und vor der englischen Königin und musizierten als erste westliche Band an der Chinesischen Mauer. Bis in den März 2020 hinein war Paddy Moloney noch mit seinen Chieftains auf Tour.

Zum Abschied von Moloney ein ergreifender Brückenschlag zur Country-Stimme Allison Krauss.

The Chieftains & Allison Krauss: „Molly Ban“
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Erlöser aus Speckstein

Eine Statue wird heute 90: Der gigantische Erlöser aus Speckstein thront seit 1931 über dem Granitfelsen namens „der Bucklige“ (Corcovado). Rios Hausberg steht, obwohl mit über 700 Metern viel höher, oft im Schatten des Zuckerhuts („Pão de Açúcar“), mit dem er außerdem oft verwechselt wird, vor allem von deutschen Touristen. Auf den Pão führt eine spektakuläre Seilbahn, die auch schon bei James Bond zu Ehren kam, auf den Corcovado dagegen eine mit gediegener Schweizer Technik gefertigte Zahnradbahn.

Eines aber hat der Corcovado dem Pão – neben der gewaltigen Aussicht – voraus: Über ihn wurde eine unsterbliche Bossa Nova komponiert. Antônio Carlos Jobim hat seine Liebesballade unter dem nächtlichen Blick auf die Christusstatue angesiedelt: Que lindo! Das Stück ist nun allerdings in Hunderten von Versionen vor allem auf dem Saxophon (Stan Getz sei Undank!) so totgenudelt, dass es schwierig ist, unbelastete Klangexemplare zu finden.

Drei habe ich zum Jubiläum ausgesucht: die Urversion von 1960, eine meisterhaft orchestral chromatisierte mit Miles Davis und Gil Evans (1962), sowie eine wunderbar unkitschige von 1987 mit Gal Costa und dem Komponisten. Die Fotos stammen von Markus Kurz und mir, aufgenommen während unserer Rio-Reise 2005, mal von ganz nah, mal der Blick vom Hut hinüber.

1. Joāo Gilberto
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2. Miles Davis & Gil Evans
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3. Gal Costa & Antônio Carlos Jobim
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Synthese statt Exotik II

Purbayan Chatterjee
Abaad – Unbounded
(Sufiscore)

Die Dialoge zwischen Indien und dem Westen zeigen sich im Jahr 2021 gereift, haben die Stufe der exotischen Faszination, und auch die knallige Dancefloor-Philosophie des Asian Underground endgültig überwunden, wie gerade im letzten Beitrag zu Hindol Deb deutlich anklang. Auch der Sitarspieler Purbayan Chatterjee aus Mumbai versammelt auf Abaad – Unbounded eine internationale Riege von Bela Fleck über Snarky Puppy-Mitglied Michael League bis zum Landsmann Zakir Hussain. Chatterjee sieht sich in der Fusion-Anlage seiner brillant und weiträumig textierten Stücke in der Tradition von McLaughlins Shakti. Allerdings kredenzen die zahlreichen Auftritte prominenter indischer Vokalisten auch eine Süffigkeit („Firmament“), die weit weg vom Indo-Jazz siedelt. Für Zweifler sei „Lalitha“ als Anspieltipp genannt: Wie sich hier Flecks Banjo mit den rasanten Sitarlinien umwinden, ist grandios. Oder auch „Sukoon“ mit der Tabla von Zakir Hussain und der west-östlichen Vokalverwebung mit Thana Alexa und Gayatri Asokan.

Purbayan Chatterjee: „Sukoon“
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Synthese statt Exotik I


Der Klang der Langhalslaute Sitar ist für westliche Hörer geradezu ein Synonym für indische Musik. Das hat auch dazu geführt, dass die Sitar eine Art musikalisches Klischee geworden ist. Der in Köln lebende Inder Hindol Deb sucht nach neuen Wegen, das Instrument in den europäischen Jazz einzugliedern. Auf seinem Album Essence Of Duality hat er das ziemlich überzeugend geschafft – mit einem Jazzquartett, das sich zwischen europäischer Musiktradition und hindustanischem Raga-System ganz neue Wege bahnt.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag über Hindol Deb am Dienstag, den 05.10. in der Sendung Jazz & World aktuell ab 20h (Wiederholung am 08.10. ab 21h). Zu hören im Stream, oder in der Schweiz auch nach Ausstrahlung im Podcast:
Mentoring und Förderung – Jazz und World aktuell – SRF

Hindol Deb: „Journey To Kedarnath“
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