Vom Hauch bis zum Gewittersturm

Mit multinationalem Team hat die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander ihr fünftes Album „The Wind“ (Jazzland Recordings/edel Kultur) eingespielt. Wie der Namensgeber fließt es grenzenlos zwischen Indien, Afghanistan, Europa und Amerika.

Es passiert etwa in der Mitte ihres neuen Werks: Für die stürmische Jagd einer Wolke über den Himmel greift Simin Tander zum Sprechgesang, rappt fast die Poesie des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. „Diese Dramatik mit den archaischen Bildern von Natur und Donner, das hat mich berührt, weil es so klar ist und eine unglaubliche Kraft hat“, sagt sie. „Nursling Of The Sky“ ist zugleich ein Schaukasten dafür, was mit ihrer erprobten Rhythmusgruppe möglich ist: Die funky groovenden Kletterlinien des schwedischen Bassisten Björn Meyer und die tribal galoppierende Kraft des Schlagwerkers Samuel Rohrer vereinigen sich hier zu elektrisierender Energie. Die hat so gar nichts Romantisches mehr an sich und konnte „nur mit diesen beiden, die eine starke individuelle musikalische Sprache auf ihrem Instrument entwickelt haben“ gezündet werden. Mit beiden hatte die Deutsch-Afghanin schon auf dem Vorgänger „Unfading“ gearbeitet. Komplettiert wurde das Quartett damals durch die Viola d’Amore des Tunesiers Jasser Haj Youssef, was insgesamt zu einem eher gedeckteren Klangspektrum führte – ihr damaliger Ausdruckswunsch mit einer Stimme, die sich schwangerschaftsbedingt tiefer gefärbt hatte.

Jetzt ist aber Harpreet Bansal neue Partnerin im Quartettgefüge: Die indische Geigerin, geschult im Raga-System, sorgt für helleres Kolorit: „Ihr Ton ist sehr warm und voller als das, was man von einer Geige normalerweise kennt, aber sie hat auch dieses endlos in die Höhe steigende. Und sie ist eine Meisterin darin, meinem Gesang zu folgen. Bei manchen Stücken ist sie wie ein verschnörkelter Schatten der Melodie, bei anderen spielt sie bewusst nur in die Pausen der Gesangsmelodie. Die Herausforderung war, dass ich auf meinem Pfad bleibe, obwohl da eine weitere ‚Stimme‘ ungefähr den gleichen Weg direkt hinter mir geht. Nur so ist das Gesamte wirklich stark.“ Man kann dieses faszinierende Miteinander von Bansal und Tander tatsächlich als Tanz einer Persönlichkeit wahrnehmen, die sich in verschiedene Nuancen auffächert. Gewissermaßen als „Windspiel“ gleitenden und suchenden Charakters.

Das Album „The Wind“ beherbergt denn auch die verschiedensten Ausprägungen, die die Bewegung der Luft haben kann, vom Säuseln und Hauchen bis zur ekstatischen Entladung. Verblüffend, wie das Quartett eine Synthese zwischen packender Körperlichkeit und der Sphäre des Ungreifbaren in Töne gefasst hat. „Ich scheine eine Vorliebe für die Elemente zu haben“, schmunzelt Tander, die in ihrem neuen Werk Bezüge an die Wasser-Hommage „Where Water Travels Home“ von 2013 entdeckt. „Der Wind hat für mich eine symbolische Bedeutung für etwas, das durch die verschiedenen Epochen und Sprachen zieht und alles miteinander verbindet.“ Das wird durch das denkbar breite Repertoire auf dem Werk belegt. Als Gegenpol zur virilen Shelley-Vertonung wirft Tander die Hörenden mitten hinein in die Ära des neapolitanischen Liedes mit „I‘te Vurria Vasà“ von Edoardo Di Capua („O Sole Mio“), befreit es aber von allem opernhaften Schmelz und Pathos, nur mit begleitendem Geigenhauch. Eine Bearbeitung eines norwegischen Kirchenliedes und ein spanisches Lullaby schaffen weitere Klangräume aus europäischen „Randzonen“. Der inspirative Geist des Windes, er lässt sich von keiner Grenze stoppen.

Simin Tander – „The Wind“ Album Trailer
Quelle: youtube

Linguistische Challenges sind fester Bestandteil in Tanders Repertoire-Auswahl. Schon vor zwölf Jahren setzte sie sich das ehrgeizige Ziel, im komplexen Paschtu zu singen. Näherte sich der Sprache ihres Vaters, indem sie eines seiner Gedichte vertonte, phonetischen Unterricht bei einem Freund der Familie nahm, der ihr auch viele Lieder der Region erschloss. Seitdem ist das paschtunische Idiom fester Bestandteil ihrer Alben geworden. Populäre Songs der Region, die oft aus Bollywood-artigen Streifen stammen, finden sich auf „The Wind“ gleich dreifach und haben eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. „Meena“ eröffnet das Album mit einem Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das Tander durch die populäre Sängerin Qamar Gula kennengelernt hatte. An „Jongarra“ zeigt sich, wie einfallsreich sie mit „jazzigen“ Reharmonisierungen arbeitet, das Original ist kaum noch zu erkennen: „Ich habe eine große Affinität zu Harmonien und Akkorden, die habe ich hier ausgelebt.“ Am lebhaftesten ist „Janana Sta Yama“, ein neckisches Stück der Schauspielerin Gulnar Begum.

Nie zuvor war Tanders Stimme ein so selbstsicheres, spielerisches Werkzeug. Vermehrt arbeitet sie nun mit Schichtungen. Eine der Eigenkompositionen, „Woken Dream“, zugleich einer der stärksten Momente des Werks überhaupt, zeigt, wie ein Song dadurch Zugänglichkeit auch für Hörende aus der Popkultur schaffen kann. „Natürlich ist es kein Pop-Album geworden“, stellt Tander klar. „Aber ich hatte schon den Wunsch, mich auf eine Art und Weise ganzheitlicher auszudrücken, weg von einer Nische zu gehen.“ Hier und da ist subtile, aber präsente Elektronik zu hören, getriggert von Rohrer am Schlagzeug. Überhaupt legt Simin Tander sehr viel Wert auf die Charakteristik des Sounds. Daher war es ihr wichtig, für den Mix und das Mastering Persönlichkeiten mit ausgeprägt „physischer Präsenz“ am Pult zu suchen. Gefunden hat sie sie im zweifach Grammy-nominierten Joshua Valleau und im Grammy-Gewinner Daddy Key, die mit der US-Pakistanerin Arooj Aftab, mit Kamasi Washington und Corinne Bailey Rae gearbeitet haben.

Ganz dem Wesen des Windes entsprechend schweift das Geschehen grenzenlos zwischen Indien und Afghanistan, dem Norden und Süden Europas und Amerika. Unser Interview findet in der heißen Phase vor der Bundestagswahl statt, die mit den bekannten Ereignissen die Selbstverständlichkeit solch schlagbaumloser Diversität künftig in Frage stellt. Mischt Simin Tander sich als kosmopolitische Künstlerin in politische Diskussionen ein? „Es geht heutzutage nicht mehr, dass man unpolitisch ist. Früher habe ich immer gesagt, dass mein Wunsch sehr persönlich ist, nämlich, den Reichtum der afghanischen und paschtunischen Kultur in die westliche Welt zu bringen. Das ist immer noch mein Hauptanliegen. Aber wenn es sich richtig anfühlt, mich nicht von der Musik zu sehr wegbringt, spreche ich jetzt auf der Bühne über Frauenrechte und die Situation in Afghanistan. Das ist auch eine Verantwortung, die ich als Künstlerin habe.“

Simin Tander: „Nursling Of The Sky“
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© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing, Ausgabe 159

Listenreich I: 24 Songs für 2024

Arooj Aftab (Pakistan/USA): „Aey Nehin“
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Bab L’Bluz (Marokko/Frankreich): „AmmA“
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Ana Lua Caiano (Portugal): „O Bicho Anda Por Aí“
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Córas Trio (Irland): „George White’s“
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Dal:um (Republik Südkorea): „Cracking“
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Danish String Quartet (Dänemark): „Once A Shoemaker“
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Dogo Du Togo (Togo): „Nyè Dzi“
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Zé Ibarra (Brasilien): „San Vicente“
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Joolaee Trio (Iran/Deutschland): „Sharar“
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MARO feat. Darío Barroso & Pau Figueres (Portugal/Katalonien): „Lifeline“
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Louis Matute (Schweiz/Honduras): „Marcovaldo
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Niall McCabe (Irland): „Stonemason“
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Hani Mojtahedi & Andi Toma (HJirok) (Kurdistan/Deutschland): „Yâhu“
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Orquestra de Musiques d’Arrel de Catalunya (Katalonien): „Arrel Transhumana“
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Sílvia Pérez Cruz & Juan Falú (Katalonien/Argentinien): „Oración Del Remanso“
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The Piyut Ensemble (Israel): „Hoshana“
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Zaho de Sagazan & Tom Odell (Frankreich/UK): „La Symphonie Des Éclairs“
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Camille & Matthieu Saglio (Spanien/Frankreich): „Alba“
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Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Sarabande, (aus J.S.Bachs Cello-Suite Nr.6)
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Sun Ra Arkestra (USA): „Lights On A Satellite“
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Waaju & Majid Bekkas (UK/MArokko): „Fangara“
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Lizz Wright (USA): „Sparrow“
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Feven Yoseph (Äthiopien): „Sewer Fiqir“
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Listenreich II: 24 Alben für 2024

272227– Àbáse (Ungarn/Deutschland): Awakening (Oshu Records)
– Aga Khan Master Musicians (Syrien/VR China/Tadschikistan/Tunesien/Usbekistan): Nowruz (Smithsonian Folkways)
– Arooj Aftab (Pakistan/USA): Night Reign (Verve/Universal)
– Bab L’Bluz (Marokko/Frankreich): Swaken (Real World Records/Harmonia Mundi)
– Adam Bałdych / Leszek Możdżer (Polen): Passacaglia (ACT/edel)
– Ana Lua Caiano (Portugal): Vou Ficar Neste Quadrado (Glitterbeat)
– Córas Trio (Irland): Córas Trio (Coracle Records/corastrio.bandcamp.com)
– Dal:um (Südkorea): Coexistence (Glitterbeat)
– Danish String Quartet (Dänemark): Keel Road (ECM)
– Rusan Filiztek (Kurdistan/Spanien): Exils (Accords Croisés/Harmonia Mundi)
– Iria Folgado (Galicien): Ecos De Breogán (Poliédrica)
– Joolaee Trio (Iran/Deutschland): Morgenwind (GWK Records/gwk-online.de/joolaee-trio-morgenwind)
– Bassekou Kouyaté & Amy Sacko (Mali): Djudjon (One World)
– Lusitanian Ghosts (Portugal): III (Mais Cinco)
– Mahler Academy Orchestra /Philip von Steinäcker (Verschiedene): Mahler Sinfonie Nr.9 (alpha)
– Louis Matute (Schweiz/Honduras): Small Variations From The Previous Day (Neuklang/in-akustik)
– Meretrio (Brasilien/Österreich): 20 Years (Session Work Records)
– Hani Mojtahedi & Andi Toma (Kurdistan/Deutschland): HJirok (Altin Village & Mine/hjirok.bandcamp.com)
– MOMO. (Brasilien): Gira (Batov Records/!K7 Music)
– Sílvia Pérez Cruz & Juan Falú (Katalonien/Argentinien): Lentamente (El Pez Producciones)
– Sun Ra Arkestra (USA): Lights On A Satellite (In & Out Records/in-akustik)
– Wishamalii (Palästina/Jordanien/Äthiopien/Finnland): Al-Bahr (Nordic Notes)
– Lizz Wright (USA): Shadow (Virgin/Universal)
– Feven Yoseph (Äthiopien): Gize (Blue Pearls/Indigo)

Listenreich III: 24 Konzerte für 2024

WINTER
– Hani Mojtahedi & Andi Toma, Theater Freiburg, 26.01.
– Sílvia Pérez Cruz, Théâtre Bouffes du Nord, Paris (F), 30.01.

– John Adams: „Harmonielehre“ (SWR Symphonieorchester, Robert Treviño), Konzerthaus Freiburg, 10.3.
– „Winterreise – Weltreise“, Theater Freiburg, 15.03.
– „Jewish Music Night“ (Reflektor André Heller), Elbphilharmonie Hamburg, 18.03.
FRÜHLING
– „The Joy Of Spring“ (Marco Ambrosini u.a.), Tamburi Mundi, E-Werk Freiburg, 01.04.
– „Ohren auf Weltreise“ (mit Matthieu Saglio), Jazzhaus Freiburg, 05.05.

– Zsofia Baros, Kloster Sankt Lioba, 11.05.
SOMMER
– Ayom, Rosenfelspark Lörrach, 18.07.
– Marisa Monte, Zeltmusikfestival Freiburg, 02.08.

– Wesli, Afrika Festival Emmendingen, 04.08.
– Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian: „In The Footsteps Of Rumi“, Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier (F), 10.09.

– Daniel Herskedal, Gasthaus Schützen Freiburg, 17.09.
HERBST
– Anton Bruckner: Sinfonie Nr.9 (Les Siècles), Brucknerhaus Linz (A), 09.10.
– Arooj Aftab, Karlstorbahnhof Heidelberg, 21.10.

– João Bosco & Jacques Morelenbaum, Volkshaus Basel (CH), 22.10.

– Joolaee Trio, Stubenhaus Staufen, 27.10.
– Leyla McCalla, Le PréO Oberhausbergen (F), 06.11.
– „Musica Baltica“ (John Sheppard Ensemble), Dreifaltigkeitskirche Freiburg-Littenweiler 09.11.
– A Cantadeira & Omiri, Burghof Lörrach, 15.11.

– MARO Trio, ZOOM Frankfurt, 18.11.

– „A Tribute To John Adams“ (Holst Sinfonietta), E-Werk Freiburg, 04.12.
– Preisträgerkonzert Murat Coskun, E-Werk Freiburg, 08.12.

dieses Foto: Heinz-Peter Mosebach, Matthieu Saglio: Matthias Hilpert, alle anderen: Stefan Franzen
– „Ohren auf Weltreise“ (mit Misagh Joolaee & Bakr Khleifi), Kommunales Kino Freiburg, 20.12.

 

 

Regentschaft der Nacht

Fotos: Stefan Franzen

 

Arooj Aftab
Karlstorbahnhof Heidelberg
21.10.2024

Sie ist eine selbsterklärte Nachteule. Die Sängerin und Songwriterin Arooj Aftab (sprich: aruudsch), erste Grammy-Preisträgerin mit pakistanischen Wurzeln, verbeugt sich auf ihrem neuen Album Night Reign (Verve) vor der inspirierenden Kraft der Nacht. Ihr vorangegangenes Album Vulture Prince habe ich auf diesem Blog bereits in höchsten Tönen gepriesen. Und so war es Pflicht, sie endlich einmal auf der Bühne zu erleben, auch wenn der Weg zu dieser Bühne 200 km betrug.

Aftab schreitet vorsichtig, mit dunkler Brille ans Mikro des bestens besuchten Karlstorbahnhofs (ihre Augen, so entschuldigt sie sich, seien noch völlig verquollen von der nächtlichen Feier nach der Show in Berlin). Sie und ihre Band sind eingehüllt in majestätisches Dunkelblau. Sofort schafft diese Stimme eine fantastische Atmosphäre: Die Fülle ihres Timbres, gepaart mit den ornamentalen Schleifen, die zarte Diktion im Idiom Urdu, all das minimalistisch vorgetragen mit kaum einer körperlichen Regung und nur scheinbar halb geöffnetem Mund, greifen tief in meine Seele.

Arooj Aftab hat ihre Musik früher einmal als „Neo Sufi“ bezeichnet, davon ist sie abgerückt, das Etikett passt auch lange nicht mehr. Zwar beziehen sich einige ihrer Verse tatsächlich auf die mystische Poesie eines Rumi, wie in ihrem rhythmisch freien Remake von „Last Night“ (auf Vulture Prince noch ein Reggae), in dem der Mystiker die Schönheit des/der irdischen oder himmlischen Geliebten mit dem Mond vergleicht. Andere Verse aber sind deutlich jüngeren Datums, etwa aus der Feder der Urdu-Poetin Mah Laqa Bai Chanda, oder sie drehen sich um zeitgenössische Themen, wie etwa die unterbrochene Liebesanbahnung bei einer Party.

Singt sie auf Englisch, wie etwa in „Whiskey“, stößt sie auch mal angenehm an die Grenzlinie zum folkigen Pop. Doch in ihrem Gesang werden all diese Themen, banal oder nicht, zu etwas Erhabenem geläutert. Es mag verwirren, dass der Humor und das Selbstbewusstsein dieser Frau in den Ansagen dann so durch und durch down to earth sind  – etwa, wenn sie kritisiert, dass auf ihren Postern nur ihre „exotischen, nahöstlichen“ Augen zu sehen sind. Das sei ja schließlich rassistisch.

Aftabs Mitmusiker schaffen zugleich ein spannungsreiches Miteinander und ein homogenes Bett für die Sängerin: Petros Klampanis (auch er ein Blog-Liebling) fundiert satt mit lebendiger, sehr kantabler Tiefregister-Melodik und markiert nur mit einer Fuß-Schelle sanft, aber  fast überflüssig die Beats. An der Akustikgitarre steuert Gyan Riley (Sohn des Minimal Music-Pioniers Terry) leichtfüßig fliegende Improvisationen bei, die ab und an auch mal an der Flamenco-Pforte anklopfen. Und der Geiger Darian Donovan Thomas, mit der Optik eines Herrschers über ein vergessenes Afro-Fantasiereich, schweift mit seelenvollen Linien um die Stimme, verblüfft aber vor allem mit erfindungsreicher Pizzicato-Ausgestaltung, die sich mal mit Riley, mal mit Klampanis verbündet.

Am Ende, ohne Gesichtsverdunklung, intoniert diese sagenhafte Frau dann noch „Mohabbat“, ihre Vertonung eines berühmten Gedichts des Poeten Hafeez Hoshiarpuri (1912-1973). So etwas wie ihr Hit, der von den nicht wenigen Landsleuten im Auditorium mehrfach seufzend eingefordert wurde. Schon jetzt eines der überragenden Konzerte des Jahres 2024.

© Stefan Franzen

Arooj Aftab: „Aey Nehin“
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Listenreich I: 22 Songs für 2022

Arooj Aftab (USA/Pakistan): „Saans Lo“
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Tim Bernardes: „Mistificar“
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Georg Breinschmid & Caro Athanasiadis (Österreich): „Wer ist der Tod?“
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CATT (Deutschland): „How Can I Become“
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Constantinople & Ghalia Benali (Iran/Kanada/Tunesien): „Mawlay“
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Niels Frevert (Deutschland): „Weite Landschaft“
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Kevin Johansen feat. Natalie Lafoucarde (Argentinien/Mexiko): „Tú Ve“
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Joolaee Trio (Iran/Deutschland): „Be Hich Diyar“
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Lady Blackbird (USA): „It’ll Never Happen Again“
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Liraz (Israel/Iran): „Roya“
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Marala (Katalonien): „A La Vora Del Rio Mare“
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Orquestra de Músiques d’Arrel de Catalunya feat. Anna Ferrer: „L’Occult Natural“ (Katalonien):
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Marialy Pacheco feat. Nils Wülker (Kuba/Deutschland): „Cartagena Bliss“
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Pulsar Trio (Deutschland): „Bacheweich“
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Abe Rábade (Galicien): „Menciñeira Núa“
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Julio Resende (Portugal): „Vira Mais Cinco“
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Oumou Sangaré: „Wassulu Dun“
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Lucas Santtana (Brasilien): „Vamos Ficar Na Terra“
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Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Zawose“
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Thee Sacred Souls (USA): „Can I Call You Rose?“
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Trio SR9 feat. Blick Bassy (Frankreich/Kamerun): „One Last Time“
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Vieux Farka Touré & Khruangbin (Mali/USA): „Diarabi“
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Listenreich II: 22 Platten für 2022

Arooj Aftab (USA/Pakistan): „Vulture Prince“ (Verve)
Ghalia Benali / Constantinople / Kiya Tabassian (Tunesien/Iran/Kanada): „In The Footsteps Of Rumi“ (Glossa/Note 1)
Tim Bernardes (Brasilien): „Mil Coisas Invisíveis“ (Psychic Hotline/Cargo)

Georg Breinschmid (Österreich): „Classical Brein“ (Preiser)
Sona Jobarteh (Gambia): „Badinyaa Kumoo“ (Eigenverlag)
Misagh Joolaee & Sebastian Flaig (Iran/Deutschland): „Qanat“ (Pilgrims Of Sound)

Eva Kess (Deutschland): „Inter-Musical Love Letter“ (SRF 2)
Kolinga (Frankreich/Republik Kongo): „Legacy“ (Underdog Records/Broken Silence)
Lady Blackbird (USA): „Black Acid Soul“ (Foundation Music/BMG)

Leyla McCalla (USA/Haiti) „Breaking The Thermometer“ (Anti-)
Orquestra de Músiques d’Arrel de Catalunya (Katalonien): „Trencadís“ (Propaganda Pel Fet)
Marialy Pacheco (Kuba/Deutschland): „Reload“ (Wanderlust Recordings/Zebralution)

Abe Rábade (Galicien): „Botánica“ (Karonte/Galileo)

Júlio Resende (Portugal): „Fado Jazz“ (ACT(edel)
Emiliano Sampaio Jazz Symphonic Orchestra (Brasilien/Österreich): „We Have A Dream“ (Alessa Records)

Oumou Sangaré (Mali): „Timbuktu“ (World Circuit/BMG)
Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Hae Ke Kae – Where Is Home“ (Warner)
Somi (USA/Ruanda/Uganda): „Zenzile – The Reimagination of Miriam Makeba“ (Salon Africana)

Thee Sacred Souls (USA): „Thee Sacred Souls“ (Daptone)

Vieux Farka Touré & Khruangbin (Mali/USA): „Ali“ (Dead Oceans/Cargo)
Trio SR 9 (Frankreich): „Déjà Vu“ (NøFormat/Indigo)

Maya Youssef (Syrien/Großbritannien): „Finding Home“ (Seven Gates)

Schmerzbewältigung auf Urdu

Foto: Blythe Thomas

Sie ist die erste Musikerin mit pakistanischen Wurzeln, die einen Grammy erhalten hat. Ausgezeichnet wurde Arooj Aftab für ihr drittes Album Vulture Prince, ein meditativer, bewegender Songzyklus, in dem sie Verlust und Schmerz mit Poesie auf Urdu und mit Gästen aus aller Welt einfängt.

Wer sich für eine Stunde in Ruhe begibt, und Aftabs neues Werk Vulture Prince auf sich wirken lässt, erfährt: Klang ist mehr als Worte und lässt eine Welt jenseits von intellektuellem Sinnverständnis zu. Die acht Songs sind immer bewegend und können an bestimmten Stellen des Albums zu Tränen rühren. Im April erhielt dieses Album mit einem Grammy höchste internationale Musikweihen, und das, obwohl kaum jemand der Hörenden im Westen Urdu verstehen wird.

Urdu ist nicht nur die Amtssprache Pakistans, es ist auch von jeher die Sprache der Sufis aus diesem Kulturkreis, die mit ihrer Poesie die Sehnsucht nach dem Göttlichen in romantische Metaphern gefasst haben. „Es hat sich immer gut angefühlt, auf Urdu zu singen“, bekennt Arooj Aftab. „Die Urdu-Poeten sagen komplizierte Dinge in schönen, einfachen, minimalistischen Bildern. Ich bin eine minimalistische Komponistin, und ich mag es nicht, wenn es eine Menge Worte gibt und eine lange Geschichte. Wenn dagegen viel mit wenigen Worten gesagt wird, ist das für mich perfekt. Eigentlich lasse ich den Sound die Geschichte erzählen.“

Arooj (sprich: aruudsch) Aftab kam zwar schon als Teenagerin aus der pakistanischen Metropole Lahore in die USA, ist aber tief geprägt von der Musikkultur ihrer ersten Heimat. In Europa kennt man die vielen starken Frauenstimmen Pakistans kaum: Abida Parveen, Iqbal Bano oder Begum Akhtar standen immer im Schatten des großen Nusrat Fateh Ali Khan, der den Qawwali, den leidenschaftlichen Gesang der Sufis dominierte. Für Aftab sind diese Frauen aber „powerhouses“, Kraftwerke, die sie bei der Suche nach ihrem eigenen Timbre immer begleitet haben. Am renommierten Berklee College of Music in Boston absolvierte sie dann ein Jazzstudium, interessierte sich dabei besonders für die freieren, elektronischen Formen der Sparte. Eines ihrer Alben hat sie lediglich auf Synthesizer- und Gitarren-Klangflächen sowie Stimmenschichtungen aufgebaut, und erzählt damit die Geschichte der betörenden Sirenen der Antike.

Mit „Vulture Prince“ nun fasst Aftab ihr pakistanisches Erbe, ihr Jazzvokabular und ihre experimentelle Seite zusammen. Als “post-minimalistisch, jazzig und semi-klassisch“ bezeichnet sie diesen Songzyklus, der in einer Phase von weltpolitischem und privatem Verlust und Schmerz entstand: „Es ist der Spiegel meines persönlichen Lebens, der Spiegel der Pandemie, von Genoziden, die überall auf der Welt passieren, es geht um Depressionen und Krankheiten. Dann aber auch um die Welt, die dich überrascht, die dich dazu auffordert, weiterzumachen, dir sagt, dass du immer noch wunderbare Dinge machen, Menschen inspirieren kannst. Es ist eine Platte, die nicht losgelöst von den Ereignissen in ihrem eigenen La-La-Land schwebt.“

„Vulture“, der Geier aus dem Titel, hat für sie als mythologisches Tier eine ambivalente Symbolkraft. Er ist in den alten Geschichten königlich, wird bejubelt, aber auch gefürchtet, da er Andere seiner Art frisst. Genau wie ein Prinz, der parallel zu seiner Royalität oft Bösartigkeit, Abweichlerisches ausstrahlen kann. „Da meine Musik auch die dunklen Dinge umfasst, fühlte sich dieses kombinierte Bild als Überschrift für das Album gut an“, sagt Aftab.

Von der Produktionsweise ist es ein typisches Pandemie-Album: Niemals standen zwei Musiker gleichzeitig im Aufnahmeraum. Dass „Vulture Prince“ trotzdem nicht nach Patchwork sondern nach Homogenität klingt, führt Arooj Aftab auf den weiten Horizont der Mitwirkenden zurück: Die Harfenistin Maeve Gilchrist hat zwar einen keltischen Hintergrund, ist aber denkbar weit von jedem Irish Folk-Klischee entfernt. Badi Assad hat das Brasil-Idiom längst abgelegt und konnte auf ihrer Gitarre die richtigen Phrasen finden, um zusammen mit einem Streichquartett in „Diya Hai“ den Worten des indisch-türkischen Dichters Mirza Ghalib zu begegnen. Immer Weltbürgerin von Beginn ihrer Karriere an war Anoushka Shankar, die die Sitar zu einem globalen Instrument erhoben hat – ihr Spiel bereichert das Finalstück „Udhero Na“. „Für mich war wichtig, dass die Persönlichkeiten der Musiker ihre Instrumente übersteigen. Dass sie ihre Farbe einbringen, aber davon ausgehend wie Wasser agieren können.“

Welchen freien Umgang sie mit der Sufi-Poesie pflegt, lässt sich schön in „Last Night“ ablauschen: Die Verse des Mystikers Rumi sind hier in einen trabenden Reggae gekleidet, dessen Rhythmus sich zeitweise aber fast verflüchtigt. Am intensivsten wird das Album in einem Text der Frauenrechtlerin und engen Freundin Annie Ali Khan, die über Misogynie und Unterdrückung der Frauen in Pakistan recherchierte und sich 2018 das Leben nahm. Unterm Eindruck ihres Todes schrieb Arooj Aftab „Saans Lo“ zu einem Gedicht, das ihr Khan hinterlassen hatte. „Im Text heißt es: ‚Die Welt kann dich vor äußerst harte Herausforderungen stellen, kann dir Menschen wegnehmen, die du liebst und bewunderst. Atme, atme, atme – und versuche, dich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen.‘“ Am Ende klingt das Stück in einem friedlichen, orgelartigen Hauchen aus. Arooj Aftabs Album ist wie ein langer, tiefer Atemzug gegen diesen großen Schmerz.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 1.7.2022

Arooj Aftab: „Saans Lo“
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Von Rilke zu Rumi


Das neue Jahr beginnt mit starken Frauenstimmen.
Sie stammen alle von Alben, die bereits 2021 veröffentlicht wurden, aber zeitlose Musik beherbergen und eine Brücke vom Balkan und Bosporus über Persien bis nach Pakistan bauen. Und sie setzen alle außergewöhnliche Poesie zu Tönen.

Die US-Songwriterin Becca Stevens hat sich mit dem türkisch-armenisch-mazedonischen Secret Trio zusammengetan und in einer gemeinsamen Session, das fürs Label Ground Up von Snarky Puppys Michael League mitgeschnitten wurde, einen becircenden Sound zwischen Anglo-Folk und Nahost gefunden. Ihr „Pathways“ beruht auf Rilkes kurzem Gedicht „Weißt du, ich will mich schleichen“.

Die US-iranische Sängerin Katayoun Goudarzi verleiht mit Poesie des Sufi-Dichters Rumi den langen Stücken auf This Pale (Lycopod Records) des nordindischen Sitaristen Shujaat Husain Khan spirituelle Tiefe. Khan hatte schon auf vorangegangenen Alben seiner Liebe zum indisch-persischen Klangbogen gehuldigt.

Und die dritte im Bunde ist die US-Pakistani Arooj Aftab: Auf Vulture Prince (New Amsterdam) hat sie neue Wege gefunden, ebenfalls Verse aus der Sufi-Dichtung ins 21. Jahrhundert zu übersetzen – mit Akustikgitarre (Gyan Riley, der Sohn des Minimal Music-Pioniers Terry Riley) und keltischer Harfe (Maeve Gilchrist).

Ich hoffe, dass diese friedliche Musik die Stimmungsmarke für ein Jahr setzt, in dem es für uns alle ein bisschen leichter und lichtvoller wird.

Arooj Aftab: „Baghon Main“ (live at KEXP)
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Shujaat Husain Khan & Katayoun Goudarzi: „Wild“
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Becca Stevens & The Secret Trio: „Pathways“
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