Dass sie überhaupt Eingang in die Musikgeschichte gefunden hat, ist ihrer eigenen Beharrlichkeit zum richtigen Zeitpunkt zu verdanken. Am 19. März 1963 sitzen ihr Ehemann Joāo Gilberto und Antônio Carlos Jobim in den New Yorker A&R Studios und kämpfen mit den Aufnahmen zu einem Album. Knapp fünf Jahre zuvor hatten der Gitarrist und der Komponist zusammen die Bossa Nova aus der Taufe gehoben, als frische, freche und schlanke Gegenbewegung zum pathetischen Orchestersamba. Die Bossa ist seit einem Konzert in der Carnegie Hall nun Exportschlager in die USA geworden. Jazzsaxophonist Stan Getz wittert den Erfolg, hängt sich an die beiden dran. Doch im Studio will der Funke zum Amerikaner nicht so recht überspringen.
Als die Mikrophone João Gilbertos näselnde Stimme für das Stück „Garota de Ipanema“ einfangen, besteht seine Frau Astrud darauf, eine Strophe auf Englisch beizusteuern. Übers heimische Wohnzimmer hinaus hat die als Astrud Weinert geborene Tochter eines deutschen Immigranten und einer Brasilianerin bislang kaum Gesangserfahrungen aufzuweisen. Doch Produzent Creed Taylor unterstützt die Idee, denn so könnte sich das Album nicht nur unter Jazzfreaks, sondern breit in der englischsprachigen Welt verkaufen. „Tall and tan and young and lovely the girl from Ipanema goes walking…“ haucht sie ins Mikro. Der Rest ist Legende.
„The Girl From Ipanema“ wird – nachdem Taylor die portugiesische Strophe rausgeschnitten hat – ein Millionenseller, macht die Bossa Nova und Astrud Gilberto weltberühmt. Doch wäre es zu kurz gegriffen, die am Montag Verstorbene nur auf dieses Lied und das Album „Getz/Gilberto“ zu reduzieren. Nach der Scheidung von João 1964 nimmt sie bis Ende der 1970er einige feine Scheiben auf, in denen ihre verhangene, schmollmündige – und nie so ganz treffsichere – Stimme in großartige Easy Listening-Texturen gebettet ist. Das Repertoire reicht dabei von Brasil-Klassikern bis zu Burt Bacharach. Herausragend etwa „The Shadow Of Your Smile“, an dem sich auch der deutschstämmige Arrangeur Claus Ogerman beteiligt, oder „Look To The Rainbow“ mit dem Orchester von Gil Evans. Ab den Achtzigern macht sie sich schon rar. Doch bevor sie sich aufs Kunstmalen und den Tierschutz verlagert, überrascht sie nochmals – mit einem James Last-Teamwork und einem Duett mit George Michael.
Joyce & Mauricio Maestro in den Columbia Studios, New York 1977 (credits: Raymond Ross)
Angehender Brasil-Star trifft weltberühmten deutschen Produzenten in New York. Das Resultat: Eine legendäre Session in den Columbia-Studios. Doch die Aufnahmen erscheinen nie, gewinnen mythische Züge. Stoff für eine hochspannende Unterhaltung mit Joyce Moreno – zumal diese Sessions nun endlich, nach 45 Jahren (Natureza, Far Out) veröffentlicht worden sind.
Am 10.1.2023 wird Joyce zu ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag gewürdigt in der Jazz Collection von SRF 2 Kultur, wo ich ab 21h Gast beim Moderator Jodok Hess sein darf.
Wer 1977 auf der New Yorker East Street im total angesagten Disco-Schuppen „Hippopotamus“ tanzen ging, konnte gleiche nebenan einen neueröffneten Chill Out-Club namens „Cachaça“ entdecken. Stolperte man da rein, stand vielleicht gerade eine junge Brasilianerin auf der Bühne, flankiert von ein paar Landsleuten, zu denen der damals schon recht bekannte Perkussionist Naná Vasconcelos zählte. „Das war ein todschicker Club, und wir, ein Haufen wilder Youngsters, waren gleich für ein paar Monate gebucht“, erinnert sich Joyce Moreno, die damals freilich noch schlicht unter „Joyce“ firmierte. 1968 hatte sie mit ihrem Debütalbum in Rio das Zeitalter der Bossa Nova-Musen beendet, die nur das sangen, was ihnen die Männer auf den Leib schneiderten.
Ein Skandal, dass da plötzlich eine junge Frau aus weiblicher Perspektive selbst textete, und ihre Protesthaltung gegenüber dem Militärregime machte ihr das Leben als Musikerin nicht leichter. Jede Verpflichtung im Ausland kam da als Befreiung. In ihrer NY-Band trommelt João Palma, unter anderem Session-Mann von Frank Sinatra und Antônio Carlos Jobim – und als der die Songs hört, die Moreno im Jahr zuvor mit dem Sänger und Multiinstrumentalisten Maurício Maestro aufgenommen hatte, hat er einen Geistesblitz: „Das sollte unbedingt mal Claus hören.“ Claus? Will heißen: der Deutsche Claus Ogerman, jener legendäre, 2016 verstorbene Produzent, Arrangeur und Dirigent, der etliche Alben von Jobim mit dezenter, orchestraler Räumlichkeit veredelt hatte, darüber hinaus mit einer Starriege von Billie Holiday bis Bill Evans arbeitete.
Ogerman erwärmt sich sofort für das Material von Joyce Moreno und beraumt in den ehrwürdigen Columbia-Studios eine Session an. „Ich starb dafür mit Claus zu arbeiten, er war für mich eine Art Held!“, so Joyce. Kein Wunder, dass sie die Warnung ihres Freundes João Gilberto in den Wind schlägt. „Er war der Ansicht, Claus hätte sein gerade erschienenes Album ‚Amoroso‘ ruiniert, da die tiefen Frequenzen seiner Stimme nicht zu hören seien, er bezeichnete ihn gar als ‚Taugenichts‘. Aber so war João eben, ein schwieriger, aber lustiger Charakter. Ich denke, er war einfach eifersüchtig, dass Claus jetzt mit mir arbeiten wollte. Er schlug sogar vor, dass er selbst mein Album produzieren wolle. João Gilberto als Produzent, kannst du dir das vorstellen? Nie im Leben!“
Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. In der Band, die Joyce zu Columbia mitbringt, spielt neben Gitarrist und Co-Autor Maestro, Vasconcelos und Palma auch ihr zukünftiger Gatte, der Drummer Tutty Moreno, den sie gerade kennengelernt hat. Die Amerikaner Buster Williams (b) und Jeremy Steig (fl) werden hinzugebucht. Was dann passiert, ist recht überraschend: „Claus griff überhaupt nicht ein“, erzählt Joyce. „Er war super respektvoll gegenüber uns und gab uns völlige Freiheit. Der Beweis dafür ist die elfeinhalbminütige Version von ‚Feminina‘. Wir wussten im zweiten Teil, der Jam-Sektion nicht, wie wir zum Ende kommen sollten, und er ließ es einfach laufen. Was du heute hörst, ist das Ergebnis eines einzigen Takes, live, ohne Overdubs, so, wie ich bis heute gerne aufnehme.“ Genau wie beim Stück „Pega Leve“ verspricht er Joyce, das Resultat sei ja perfekt, er habe nichts mehr daran zu ändern. Doch Ogerman wäre nicht Ogerman, hätte er nicht noch hier wie in den anderen Stücken allerhand Zutaten eingebracht: Nachdem die Brasilianer das Studio geräumt haben, bestellt er Michael Brecker, Mike Manieri und Urbie Green für Tenorsax, Vibes und Posaune ein, ersetzt Steigs Flötensoli durch Joe Farrell, und er textiert in einigen Tracks dann mit dem für ihn so typisch pastellfarbenen Streichorchester.
Nicht bei all diesen Eingriffen wird Joyce um ihr Einverständnis gefragt. Sie ist aus familiären Gründen mittlerweile nach Rio zurückgekehrt, bleibt mit Ogerman aber in Verbindung. Der aber will vor einer Veröffentlichung weitere Veränderungen durchsetzen. Zwei der sieben Stücken stammen aus der Feder von Maurício Maestro, melancholische Balladen im Stil der Clube da Esquina-Bewegung um Milton Nascimento. Joyce soll Maestros Leadgesang ersetzen. Und überhaupt: alle Gesangsspuren noch einmal neu auf Englisch einsingen. Eine rote Linie. „Er schlug mir als Übersetzer Michael Franks vor“, erklärt Joyce. „Aber was wäre von meinen Texten dann noch übriggeblieben? In ‚Feminina‘ geht es schließlich um den Dialog von Tochter und Mutter, die sich darüber unterhalten, was ‚Weiblichkeit‘ heißt. Ein Mann hätte das Thema völlig verändert.“ Und dann verweist sie darauf, was ihrem guten Freund Jobim passierte, der seine Bossa-Hits von Ray Gilbert und Norman Gimbel anglisieren ließ. „Auf eine Art war Jobim klüger, denn so konnte seine Musik um die ganze Welt reisen. Aber irgendwann sagte er zu mir: ‚Hätte ich das Geld, würde ich ‚The Girl From Ipanema‘ zurückkaufen.‘ Denn Gimbel, ein Typ, der übrigens nie in Ipanema war, verdiente vielmehr dran als der Urheber selbst.“
Als unüberbrückbar erweisen sich die Differenzen zwischen Ogerman und Moreno, die Sessions bleiben in der Schublade. Doch die Prima Materia aus NY, großartige Kompositionen wie „Feminina“, „Misterios“ oder „Moreno“, nimmt Joyce Anfang der Achtziger in Rio neu auf, sie begründen ihren Ruhm bei der Rare Groove-Gemeinde der 1990er. Unterdessen gelingt es selbst Verve, wo Moreno später unter Vertrag steht, nicht, einen Deal mit Ogerman hinzubekommen, der irrsinnige Summen für eine Veröffentlichung verlangt. Nur Christian Kellersmann von Universal kann sich die Rechte zweier Songs (das hymnische, im 7/4-Takt kreisende „Descompassadamente“ und „Feminina“) für die Kompilationen The Man And The Music und Trip To Brazil sichern.
„Dass diese Aufnahmen jemals komplett rauskommen, daran habe ich große Zweifel!“, sagte Joyce noch 2005, als wir sie für die Jazz thing-Homestory besuchten. Jetzt, siebzehn Jahre später, kann sie auf dem gleichen Sofa sitzend den Release verkünden. „Es ist der Beharrlichkeit von Joe Davis meines englischen Labels Far Out zu verdanken. Joe hat immer dafür gekämpft.“ Unter idealen Umständen erblicken die Natureza-Sessions das Licht der Öffentlichkeit nicht. Far Out hat die Musik von einem Cassetten-Mitschnitt runtergezogen, der in Morenos Besitz war, eine Feinabmischung war unmöglich, wohl aber ein Remastering mit den Optionen des Jahres 2022. Das reicht, um beim Anhören eine Frische und Lebendigkeit rüberzubringen, bei der man das Fehlen einer klaren Spurentrennung gerne in Kauf nimmt. Welche Alternativen ihrer Songs gefallen nun Joyce selbst besser? Ihre Antwort ist diplomatisch: „Die Versionen aus Rio klingen klarer, keine Frage. Aber die New Yorker Aufnahmen fangen einen ganz besonderen Moment in meiner Karriere ein.“ Der Mythos, er wurde endlich zum zweiten Leben erweckt.
am 10.1.2023 wird Joyce zu ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag von mir gewürdigt in der Jazz Collection von SRF 2 Kultur, wo ich ab 21h Gast beim Moderator Jodok Hess sein darf.
Eine Statue wird heute 90: Der gigantische Erlöser aus Speckstein thront seit 1931 über dem Granitfelsen namens „der Bucklige“ (Corcovado). Rios Hausberg steht, obwohl mit über 700 Metern viel höher, oft im Schatten des Zuckerhuts („Pão de Açúcar“), mit dem er außerdem oft verwechselt wird, vor allem von deutschen Touristen. Auf den Pão führt eine spektakuläre Seilbahn, die auch schon bei James Bond zu Ehren kam, auf den Corcovado dagegen eine mit gediegener Schweizer Technik gefertigte Zahnradbahn.
Eines aber hat der Corcovado dem Pão – neben der gewaltigen Aussicht – voraus: Über ihn wurde eine unsterbliche Bossa Nova komponiert. Antônio Carlos Jobim hat seine Liebesballade unter dem nächtlichen Blick auf die Christusstatue angesiedelt: Que lindo! Das Stück ist nun allerdings in Hunderten von Versionen vor allem auf dem Saxophon (Stan Getz sei Undank!) so totgenudelt, dass es schwierig ist, unbelastete Klangexemplare zu finden.
Drei habe ich zum Jubiläum ausgesucht: die Urversion von 1960, eine meisterhaft orchestral chromatisierte mit Miles Davis und Gil Evans (1962), sowie eine wunderbar unkitschige von 1987 mit Gal Costa und dem Komponisten. Die Fotos stammen von Markus Kurz und mir, aufgenommen während unserer Rio-Reise 2005, mal von ganz nah, mal der Blick vom Hut hinüber.
Es war im Juli 2003, ein glühend heißer Sonntag am Genfer See, und das Montreux Jazz Festival hatte einen fast unwirklichen Gast. Wenig bis nichts hatte man von ihm gehört seit etlichen Jahren, doch da saß er tatsächlich auf der Bühne des Auditorium Stravinski, mit dicker Brille, Anzug und seiner Gitarre, die nur er so spielen konnte. Und uns war klar, dass wir zu den wenigen Auserwählten gehörten, die ihn in seiner zweiten Lebenshälfte hören durften mit seiner näselnden Stimme, die wie das Säuseln des Windes an einem ruhigen Strandabend in Ipanema klang, ein Abend, wie es ihn noch gab, als er seine Sechssaitige nach Rio brachte.
Vielleicht ist es die sanfteste Revolution der Musikgeschichte, die João Gilberto Prado Pereira de Oliveira 1958 losgetreten hat. Als erfolgloser Bohèmien lebt der krausköpfige Bursche mit den treuherzigen Augen in Rio zunächst jahrelang in den Tag hinein, mit seiner Gitarre war er aus Bahia gekommen, um am Zuckerhut das Glück zu suchen. Doch er verschwindet zunächst wieder ins Hinterland, nach Diamantina zu seiner Schwester, wo er an einer neuen Erfindung tüftelt. Und diese Erfindung macht ihn zum Tagesgespräch: In besessenen Monaten des Gitarrenübens auf einem winzigen Klo – des guten Echos wegen – entwickelt er eine verzögerte Phrasierung zwischen Instrument und Stimme, komplexe Harmonien und zarte, fast gesprochene Lautmalerei wie in seinen frühen Songs „Hô-bá-lá-lá“ und „Bim Bom“. Und irgendwie gelingt es ihm, das perkussive, erdige Flechtwerk des Sambas auf sechs Saiten zu einem Swing der mühelosen Schönheit zu bündeln. Die er seitdem immer weiter perfektioniert.
Sie wird die Formel der Jugend: Seinem neuen Gitarrenbeat, der bald Bossa Nova genannt wird (wörtlich etwa: „neue Flause“), verfallen in Rio die Söhne und Töchter der Bourgeoisie, musikalische Vordenker werden aufmerksam, unter ihnen der Komponist Antônio Carlos Jobim. Der hat ein Lied in der Schublade, mit Gilbertos intimer Stimme und dem neuen Zupfmuster würde sich das toll anhören, denkt er. „Chega de Saudade“ verändert Brasilien: Hinweggefegt der schwülstige Muff, der traurige Herzschmerz des alten Samba Canção. Von „peixinhos“ und „beijinhos“ künden nun wortspielerische Verse, „so viele Fischlein schwimmen nicht im Meer wie ich dir Küsschen auf den Mund drücken werde, wenn du zurückkommst.“ Drei LPs nimmt das Erfolgsduo Gilberto/Jobim bis 1961 auf, die rund 40 Stückchen begründen den Kanon der Bossa Nova mit späteren Welthits wie „Corcovado“, „Desafinado“ und „Samba De Uma Nota Só“. Leichtfüßigkeit mit Flöte, ein wenig Percussion, Pianotupfer und dieser unglaublich wendigen Stimme – eine raffinierte Schablone, die auch die USA besitzen wollen. Nach einem Carnegie Hall-Konzert wird Gilberto von der Bühnenkante hinweg verpflichtet. Das aufdringliche Saxofon von Stan Getz drückt seine Gitarrenkunst an die Wand, mit dem Ipanema-Girl und Gilbertos Frau Astrud wird die Bossa Nova amerikanisch und schmollmundig. Und in Deutschland singt Manuela den Twist: „Schuld war nur der Bossa Nova“. Der Geschlechterirrtum hat sich bis heute in der Presse hierzulande hartnäckig gehalten.
Musikalisch schließt man die Akte João Gilberto hier schon allzu oft. Zu Unrecht, denn er nahm weiterhin fabelhafte, immer reduziertere Alben auf, „João Voz e Violão“ etwa zur Jahrtausendwende, mit einem hauchenden, fagottgleichen Timbre. Doch die Medien pflegten lieber den Mythos vom einsamen Exzentriker. Je konsequenter er sich der Öffentlichkeit entzog seit den Siebzigern, zuerst im Ausland, dann in seinem Apartment im Süden Rios, in dem er seit vielen Jahren nachts lebte und tags schlief, desto arabesker sprossen Gerüchte. Er rede mit Katzen, kommuniziere mit der Welt nur über seine hundert Handys und spiele ununterbrochen Gitarre. Der deutsche Autor Marc Fischer hat ein ganzes Buch über die Suche nach dem Musiker veröffentlicht, ohne ihm begegnen zu können. Ob er tatsächlich von seiner eigenen Tochter Bebel entmündigt wurde, ob er zum Ende hin in Armut leben musste – diese Tragik tritt zurück hinter seinen Tönen. Wer nur zwei Minuten Musik von João Gilberto gehört hat – sofern er nicht „krank im Kopf oder fußlahm“ ist, wie es in dem von ihm interpretierten „Samba Da Minha Terra“ heißt – dessen Leben wurde für immer bereichert. Obrigado, João.
Der Brasilianer Ed Motta ist einer der originellsten Soul- und Funkmusiker unserer Tage. Als verrückter Plattensammler, Comic-Freak, Film-Liebhaber, Kompiler des letzten Kapitels von Too Slow To Disco und überhaupt Genussmensch verfügt er über unzählige Inspirationsquellen für seine eklektische Musik. Dabei ist er strikter Traditionalist und schert sich nicht um aktuelle Trends. Nach einem Intermezzo in Berlin ist Motta in die Heimat zurückgekehrt, wo er sein neues Album „Criterion Of The Senses“ einspielte. Vor seiner Deutschlandtournee habe ich ihn Interview getroffen.
Ed, jemand hat bei der Erstellung des Pressezettels dein neues Album aus Versehen „Centurion Of The Senses“ genannt. Das wäre doch auch ein schöner Titel für dich: „Der Zenturio der Sinne“…
Ed Motta: Hahaha! Nein, es heißt wirklich „Criterion“. Der Titel bezieht sich auf die Art und Weise, wie ich Dinge auswähle, die Kriterien für die richtigen Akkorde, Stimmen und Noten, die Sounds und die Arrangements. Diese Detailarbeit, die für die acht neuen Songs ein ganzes Jahr verschlungen hat. Harte Arbeit für die Sinne, aber auch für das Hirn. Ich habe viele Sachen, die ich über Produktion gelernt habe, da reingesteckt. Der Sound mit den beiden Pianos und der Gitarre lässt die Akkorde fett klingen, größer als der Schwarzwald.
Dein letztes Album hast du in Pasadena mit einer US-Band eingespielt, auf Criterion Of The Senses sind es wieder brasilianische Musiker, die mit dir in Rio gearbeitet haben. Es klingt mal nach Marvin Gaye, mal nach nach Steely Dan und auch mal nach funky Disco. Aber klingt es auch brasilianisch?
Motta: Nein, gar nicht. Die Jungs sind alle Imitatoren wie ich. Du kannst unsere Herangehensweise mit der einer indischen Bluesband vergleichen: Auch wenn es Inder sind, wird es sich bei ihnen irgendwie nach Blues anhören. Es steckt nichts Brasilianisches in dem Album, vielleicht ein Hauch davon in der besonderen Harmonik. Aber unterm Strich ist es viel mehr Steely Dan als Brasilien, die Akkorde klingen mehr nach Donald Fagen als nach Tom Jobim. Das ist eben mein Leben, meine musikalische Realität.
Auf Perpetual Gateways hast du strikt Gitarren vermieden, jetzt sind sie wieder da, ein Track hört sich sogar fast nach Nile Rodgers, dem Rhythmusgitarristen von Chic an.
Motta: Ja, dieses Album ist fast eine Ode an die Gitarren, ein Gitarren-Manifest. Und es ist schade, dass man heute nicht mehr viel Gitarre hört, verglichen mit der Musik aus der Zeit vor meiner Generation, die ja so auf Turntables und Electronics steht. Das wirst du nie in meiner Musik hören. Niemals! Es wird bei mir immer organisch sein, Musik, wie sie vor der Punk -und der HipHop-Bewegung der 1980er war.
Dabei hast du mit „Shoulder Pads“ ein Stück auf dem Album, in dem du den Achtzigern nachtrauerst…
Motta: Ja, aber nicht der Musik! Damals waren britische Indie-Bands wie The Cure in Brasilien ganz groß, gar nicht meine Sache. Doch ich vermisse die Schulterpolster, die Vokuhila-Frisuren, die coolen Fernsehserien. Wenn ich aus der Schule zurückkam, habe ich mir angeguckt, wie „Magnum“ ein Schinken-Käse-Sandwich verdrückt hat. Deshalb verwenden wir seine Titelmelodie auch als Intro zu meinen Shows.
Seit zwei Alben textest du auch selbst, und du bist von Science Fiction, Agentenstories und auch Literatur beeinflusst. Genießt du deine neue Rolle als dein eigener Textschreiber?
Motta: Total, denn endlich kann ich meine Vorliebe für diese Sachen mit der Musik verbinden. Es sind Film Noir-Atmos mit Verschwörungen, Spielern und Gaunern, Geschichten wie in Don Siegel- oder John Cassevetes-Filmen, die ich erzähle. Und einmal kommt auch Kafka in einem Text vor, den ich wirklich in Prag geschrieben habe, als mal wieder ein Flug gestrichen wurde. Das passiert mir in Europa andauernd: Mein Gepäck geht verloren oder mein Flug wird gecancelt. Eine wirklich kafkaeske Situation.
Im Januar 1958 kam es zu einem denkwürdigen Gipfeltreffen in den Odeon-Studios von Rio de Janeiro: Antônio Carlos Jobim, der mit seinem Lyriker Vinicius de Moraes einen ganzen Zyklus neuer Songs ausgearbeitet hat, gewinnt die Sängerin Elizeth Cardoso, um mit ihr das Album Canção Do Amor Demais einzuspielen. Auf dieser Scheibe ist ein Gitarrist zu hören, der in wochenlanger Detailarbeit auf seinem heimischen Klo (der halligen Akustik wegen!) ein neues Schlagmuster ausgearbeitet hat.
Elizeth Cardoso allerdings stammt noch aus der alten Schule des Samba Canção. Im Studio kommt es über einem der Stücke, „Chega de Saudade“, deshalb zur Auseinandersetzung: Gilberto will das Orchester weglassen, kritisiert die klassische Manier, in der Cardoso das Stück einsingt, mäkelt am Text herum, der ihm zu dramatisch ist. Wenige Monate später spielt er es daher selbst ein, nach seinen eigenen Vorstellungen. Tom Jobim ist auch dieses Mal Gilbertos Studiopartner, und er muss in nervenzerfetzenden Aufnahmebedingungen Einiges aushalten.
Der Gitarrist stellt Sonderforderungen: Er benötigt zwei Mikrophone, um Stimme und Saitenkunst zu trennen, er besteht auf eine vierköpfige Percussion-Sektion und zwingt das Orchester zur penibelsten Reinheit. Einige Musiker verlassen wutschnaubend das Studio und Jobim muss wieder Frieden herstellen. Doch Jobim und Gilberto selbst bekommen sich wegen der Harmonien in die Haare. Die Fertigstellung der Single mit Arrangieren, Proben und Aufnahmen dauert schließlich einen Monat. Doch es hat sich gelohnt: Diese eine Minute und 58 Sekunden haben das Gesicht der brasilianischen Popmusik für immer verändert.
Diese Veränderung geschieht allerdings mit Verzögerung: Als die Single „Chega De Saudade“ heute genau vor 60 Jahren erscheint, nimmt niemand Notiz, da der einzige Titel, der im Radio gespielt wird, die Siegeshymne der brasilianischen Seleção ist, die gerade die WM in Schweden gewonnen hatte. Erst im Dezember bekommt der Titel Airplay über den Umweg São Paulo und bahnt sich den Weg an die Spitze der Charts. Anfänglich hatten Marketingbosse auch dort die Platte ignoriert – mit Argumenten wie „Warum nehmen die in Rio mit Sängern auf, die erkältet sind?“
Doch gerade mit seinem damals eigentümlich empfundenen, nasalen, non-chalanten Timbre vollzog João Gilberto eine völlige Abkehr vom pathetischen Samba, transferierte zugleich dessen ganze Perkussionsabteilung auf ein einziges Instrument, seine Gitarre. Und er führte den espritgeladenen Wortwitz ein, der fortan bezeichnend in einem Genre werden wird, für das mit dieser kurzen Single die Keimzelle gelegt ist: die Bossa Nova. Da reimt sich „beijinhos“ auf „peixinhos“ – so viele Küsschen werden bei der Rückkehr der Geliebten ausgetauscht wie Fischlein im Meer schwimmen. Nur im brasilianischen Portugiesisch hört sich das nicht kitschig an. Bom aniversário, „Chega de Saudade“ – auch nach 60 Jahren ist die Faszination dieser Miniatur aus Rio ungebrochen.
„Das brasilianische Ideal des Gesangs ist, dass du so sprichst wie du singst“, sagt Viviane de Farias. „Meine Stimmführung muss die Schönheit der Linie, des Klanges, der Phrasierung haben.“ Vielleicht ist es dieses Bekenntnis, dass ihre Stimme unter den in Deutschland lebenden brasilianischen Vokalistinnen so einzigartig macht. Viviane de Farias kam einst aus Rio de Janeiro nach Karlsruhe und bereichert seit zwei Jahrzehnten die hiesige Szene mit ihrer außergewöhnlichen Arbeit. Denn sie hängt sich weder an Bossa Nova oder Samba, sondern hat einen individuellen Stil entwickelt, in dem Einflüsse aus ihrem klassischen Operntraining und vor allem aus dem Vokabular eines komplexen Brasil-Jazz deutlich hörbar werden.
Verantwortlich dafür ist auch die befeuernde Arbeit ihres Quintetts unter der Leitung des Brasil-verrückten Gitarristen Paulo Morello, der ihr zu ihren Texten die Kompositionen auf den Leib schneidert. Der Regensburger brach zusammen mit dem Flötisten Kim Barth schon vor fünfzehn Jahren nach Rio auf, die beiden tourten mit Bossa-Legenden wie Pery Ribeiro und Johnny Alf, sind jenseits des Atlantiks anerkannte Brasil-Experten. Auf Farias‘ neuem Werk Vivi regieren viele brasilianische Rhythmen von Partido Alto bis Baião, es gibt Anspielungen auf ihr Idol Maurice Ravel in einem strauchelnden Walzer und eine grandiose Hommage an Hermeto Pascoals „Ginga Carioca“. „Ich höre in diesem Stück die Gewalt und die Korruption, die Kanten von Rio, auf der anderen Seite die Schönheit der Stadt mit den Hügeln, dem atlantischen Regenwald, die Lagune von Ipanema, die Strände.
„Ich musste einfach einen Text dazu schreiben“, bekennt de Farias, die den verrückten Multi-Instrumentalisten Pascoal in jungen Jahren zufällig im Flugzeug traf. „Er hat mir damals über den Wolken spontan eine Gesangslinie auf ein Blatt Papier geschrieben, das ich leider verloren habe“, bedauert sie. Vivi ist voll von solchen Anekdoten aus der Vergangenheit, von denen viele auf ihre Kindheit und Jugend in der Cidade Maravilhosa am Zuckerhut verweisen. Zum Beispiel die ruhige Widmung „Domingo“, eine Erinnerung an die Nachmittage mit den „Goal“-Schreien im Transistrorradio und dem Lärm der Zikaden. „Quero Cantar“ ist eine unverhohlene Widmung an den Karneval und den Samba, der gerade 100 Jahre alt wird, doch sämtliche Klischees werden mit einer hibbeligen Melodieführung im Bebop-Stil geschickt umgangen.
Ein weiterer Meisterstreich ist das „Soneto Da Boneca Apática“, geschrieben in einem Moment der Starre und Ermüdung: Hier lebt sie ihr ganzes vokales Spektrum von Sprech- bis Operngesang aus, unterfüttert von den raffinierten Querrhythmen ihres Partners Mauro Martins an den Drums. Schließlich lauert noch eine dicke Überraschung auf Vivi: Der Posaunist Raul de Souza steuert ein wunderbares Solo im Stück „Luminosa“ bei, er ist eine echte Legende: „Raul hat mit allen Brasilianern gespielt, später mit Duke Ellington und Herbie Hancock. Er ist jetzt über 80 und immer noch fit. Wenn du zuhörst, wie er improvisiert und phrasiert, sein Zeitgefühl, dann ist das eine große Schule“, schwärmt de Farias.
Apropos Zeit: „Die Zeit als Thema – das ist die Klammer, die das Album durchzieht, ohne dass ich das wollte“, sagt sie. Am schönsten kristallisiert sich das in „Aéroporto“ heraus: Eine wahre Zeitreise zwischen den Himmelskörpern, in der sich eine weitere Erinnerung verbirgt – an die Tage, als sie der inzwischen erwachsenen Tochter Schlaflieder vorsang. „Vivi“ ist nicht nur die Koseform für Viviane, es heißt übersetzt auch „ich habe gelebt“. Und so umspannt dieses ganz besondere brasilianisch-deutsche Co-Projekt bewegte Jahre aus dem bisherigen Leben der Sängerin und übersetzt diese Rückschau in eine frische Sprache ohne melancholische Wehmut. Unterdessen hat Viviane de Farias schon neue Pläne zwischen den Kontinenten: Ihre brasilianischen Wurzeln wird sie demnächst mit den orchestralen Klängen des WDR-Sinfonieorchester vereinen.
Antônio Carlos Jobim / Manuel Bandeira: „Trem De Ferro“ (aus Antônio Brasileiro, 1994)
Wie letztes Jahr zum 8.12. auch 2015 eine kleine Hommage zu Jobims Todestag, dieses Mal in der Eisenbahnabteilung, die ich ja gerade insbesondere brasilianisch aufarbeite.
Dass „Antônio Brasileiro“ so viel mehr war als der Bossa-Vater, zeigt sich in seinen Spätwerken. Das hier ist der allerletzte Track aus seinem allerletzten Album. Ed Motta, den ich vor kurzem zum Interview getroffen habe (2016 mehr dazu), hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Jobim nicht nur seine Debussy- und Ravel-Einflüsse immer wieder verarbeitet hat, sondern ab und an auch wohl sein früher Lehrer Hans-Joachim Koellreutter (ein Zwölftonkomponist, der 1937 nach seinem Musikstudium in Freiburg nach Rio emigrierte) abgefärbt hat.
Hätte Jobim noch ein paar Jahre länger gelebt, wäre er dann auf den atonalen Pfad eingeschwenkt? „Trem De Ferro“ jedenfalls, sein spätester Meisterstreich scheint sich in den Schlusstakten tatsächlich aus der Funktionsharmonik zu lösen. Darüber hinaus ist es eines der grandiosesten, lautmalerischesten Eisenbahnlieder, die ich kenne, und knüpft damit natürlich auch an “ O Trenzinho De Caipira“ aus der Bachiana Brasileira No.2 von Heitor Villa-Lobos an. Die Verse stammen vom Poeten Manuel Bandeira.
Antônio Carlos Jobim & Banda Nova: „Trem De Ferro“
Quelle: youtube
Wenn nach wochenlanger Konzertdürre urplötzlich an allen Orten Deutschlands gleichzeitig hörenswerte Shows über die Bühne gehen, von denen man dann zwangsläufig die Hälfte verpassen muss, kann das nur eines heißen: Der Juli steht vor der Tür. Das Stimmen-Festival Lörrach hat sich unter seinem neuen künstlerischen Leiter Markus Muffler erkennbar von der Musik aus aller Welt abgewandt. Trotzdem präsentiert man im Dreiländereck einige Programmpunkte, die sich wohltuend vom üblichen Festivalbetrieb abheben.
Dazu gehört in allererster Linie der Auftakt am 2.7. mit Ivan Lins, einem der größten Songwriter der Welt (sorry, schon wieder so ein Superlativ, aber ich bin mit dieser Meinung nicht allein). Der Lokalkolorit-Clou: Lins hat auf seiner CD „Cornucopia“ mit dem brasilophilen Freiburger Musikprofessor Ralf Schmid und der SWR Big Band kollaboriert. Was es damit auf sich hat, im nachfolgenden Interview, das ich mit Lins geführt habe, als der völlig überraschend 2011 in Freiburg eintrudelte.
Und an dieser Stelle noch etwas verspätet:
Bom aniversário, Ivan!
Der Mann ist vorgestern unfassbare 70 geworden. Weiterlesen →