Wenn nach wochenlanger Konzertdürre urplötzlich an allen Orten Deutschlands gleichzeitig hörenswerte Shows über die Bühne gehen, von denen man dann zwangsläufig die Hälfte verpassen muss, kann das nur eines heißen: Der Juli steht vor der Tür. Das Stimmen-Festival Lörrach hat sich unter seinem neuen künstlerischen Leiter Markus Muffler erkennbar von der Musik aus aller Welt abgewandt. Trotzdem präsentiert man im Dreiländereck einige Programmpunkte, die sich wohltuend vom üblichen Festivalbetrieb abheben.
Dazu gehört in allererster Linie der Auftakt am 2.7. mit Ivan Lins, einem der größten Songwriter der Welt (sorry, schon wieder so ein Superlativ, aber ich bin mit dieser Meinung nicht allein). Der Lokalkolorit-Clou: Lins hat auf seiner CD „Cornucopia“ mit dem brasilophilen Freiburger Musikprofessor Ralf Schmid und der SWR Big Band kollaboriert. Was es damit auf sich hat, im nachfolgenden Interview, das ich mit Lins geführt habe, als der völlig überraschend 2011 in Freiburg eintrudelte.
Und an dieser Stelle noch etwas verspätet:
Bom aniversário, Ivan!
Der Mann ist vorgestern unfassbare 70 geworden.
Guten Tag, Ivan Lins, offen gestanden bin ich sehr über Ihre tiefe Sprechstimme überrascht. Wenn Sie singen, setzen Sie ja immer zu Höhenflügen an…
Lins: Ich verrate Ihnen was: Es war nie geplant, dass ich ein Sänger werde, ich wollte nur Songwriter und Pianist sein. Am Anfang meiner Karriere war ich beeinflusst vom frühen Elton John, von Elis Regina und Milton Nascimento, die alle sehr hoch sangen, völlig außerhalb meines Tonumfangs. Ich versuchte damals immer, den Interpreten vorzuspielen, wie der Song klingen sollte und sie sagten meistens: „Wow, das klingt besonders, warum singst du’s nicht selbst?“ Nur: Das war ja nicht meine eigentliche Stimme!
Wie haben Sie es dann geschafft, über all die Jahre Ihre Stimmbänder nicht zu ruinieren?
Lins: Ab meinem dritten Album habe ich nicht mehr ganz so hoch gesungen, ich habe gemerkt, dass es wirklich die Stimme kaputt macht. Aber da ich rauchte, hatte ich trotzdem Probleme: Ich erinnere mich an das erste Rock in Rio-Festival, 1985: Eine wunderbare und zugleich schreckliche Erfahrung. 200.000 Leute sah ich da vor mir, im dritten Stück verlor ich schon die Stimme. Also spielte ich nur noch meine Hits und bat das Publikum, mir zu helfen. Ich weiß noch, wie Al Jarreau da saß und weinte, als diese riesige Menschenmenge sang. Und meine Songs sind ja nicht gerade einfach.
Im Gegensatz zu etlichen Ihrer Kollegen haben Sie Brasilien auch in der Zeit der Militärdiktatur nie verlassen. Mit welchen Schwierigkeiten musste man als Songwriter damals kämpfen?
Lins: Jede einzelne Show musste ich vor einer dreiköpfigen Kommission von Anfang bis Ende vorspielen. Sie achteten auf Texte und vor allem auch auf verräterische Gesten, die rebellische Stimmung gegen die Diktatur machen könnten. Ebenso musste ich die Texte vorlegen. Es gab Tricks: Man schrieb absichtlich sehr harte, kritische Texte und versteckte einen leichteren darunter, um genau diesen durchzumogeln. Die Kulturzensur war von Bürokraten durchsetzt, die keinerlei Feinsinn besaßen, deshalb war es leicht, sie mit Metaphern zu täuschen, die sie nicht verstanden.
Ivan Lins: „Depois Dos Temporais“
Quelle: youtube
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie unter allen brasilianischen Künstler derjenige sind, der in den USA am populärsten ist?
Lins: Ich habe selbst sehr lange darüber nachgedacht. Ein britischer Journalist machte mich mal darauf aufmerksam, dass meine ersten musikalischen Erinnerungen Steve Foster- und Walt Disney-Songs waren. Im Alter von zwei bis fünf bin ich ja in Boston aufgewachsen. Er meinte, dass sei wohl ein Leben lang in mir drin geblieben. Dazu kam später meine Vorliebe für Jimmy Webb und seine großartigen orchestralen Arrangements. Für die Amerikaner klingt meine Musik also vertraut. Ich habe Quincy Jones von dieser Theorie erzählt, aber er sagte: „Glaube ich nicht! Ihr Brasilianer schämt euch doch auch nicht vor diesen komplexen Harmonien. Ihr verwendet doch auch nach einem blanken C-Dur plötzlich als nächsten Akkord irgendeinen mit verminderter Sept und None!“
Apropos komplexe Harmonien: Wissen Sie, dass der Zwölftonkomponist Hans Joachim Koellreutter, einer der ersten Lehrer von Antônio Carlos Jobim, in Freiburg an der Universität gelehrt hat, bevor er nach Brasilien ging?
Lins: Wirklich? Wow, kein Wunder, dass ich mich hier so wohl fühle. (er skandiert „Freiburg, Freiburg“)
Was gefällt Ihnen an Freiburg?
Lins: Ich bin ein Workaholic, und das Hauptziel war, hier mit Ralf Schmid zu arbeiten. Aber er hat jeden Tag einen anderen Anfahrtsweg vom Hotel zum Studio gewählt, um mir die Kirchen, Plätze und alten Häuser zu zeigen. Eine brasilianische Journalistin hat mich durch die Uni geführt. Mich fasziniert die alte Architektur und die Energie hier. Meine Frau liebt den Strand und die Sonne, ich allerdings könnte mich hier ohne weiteres niederlassen. Ich bin ganz sicher, ich werde oft hierher zurückkommen!
Wie kam denn der Kontakt zwischen Ihnen und Ralf Schmid zustande?
Lins: Durch meine europäische Agentin. Wir haben uns zum Mittagessen in Lissabon getroffen, wo Ralf mir das Konzept mit der SWR Bigband vorgestellt hat. Ich habe sofort zugesagt, denn ich liebe Bigbands! Ich kannte schon eine Adaption meines Songs „Setembro“ von Ralf, dem Trompeter Joo Kraus und der Band. Ich mochte, wie Ralf an die brasilianischen Sachen rangeht, es ist gewagter als die üblichen Aufnahmen, hat Electronics drin. Wir haben uns also verabredet, in Freiburg einen ganzen Koffer mit unveröffentlichten Songs von mir durchzuforsten und auszuwählen.
Ivan Lins: „Choro Das Águas“ (1977)
Quelle: youtube
Sie haben in der Vergangenheit oft mit Symphonieorchestern gearbeitet, ab und an auch schon mit Bigbands. Warum funktionieren Ihre Lieder so gut in diesen beiden Kontexten mit vielen Musikern?
Lins: Orchester-Texturen sind tief in meinem Geist drin, Henry Mancini ist einer meiner Helden. Die SWR Bigband arbeitet mit ganz ähnlichen Textur wie Mancini, gerade im Arrangement der Balladen. Ich bin ein „ballad guy“, kein Typ für schnelle Stücke, auch wenn ich sehr gerne die Welt der brasilianischen Rhythmen in meiner Musik erkunde. Und in der Tradition der SWR Bigband scheint es immer so gewesen zu sein, dass man die Persönlichkeit des Arrangeurs spürt, das war auch schon so bei Kurt Edelhagen, den ich sehr schätze.
Welches Repertoire bringen Sie mit „Cornucopia“ auf die Bühne?
Lins: Es sind sozusagen die “B-Seiten” aus meinem Archiv, aber auch brandneue Sachen. Einige davon haben wir in Freiburg erst fertig geschrieben. Denn ich erfinde den Song während des Singens und Pianospielens, die Rekorder laufen mit, und während ich erfinde, vergesse ich auch schon wieder einige Phrasen, die Melodie verändert sich. Die endgültige Auswahl habe ich dann Ralf überlassen, er hört schon bei einer Demo-Version, wie die Bigband dann mit der Melodie, der Harmonie und dem Rhythmus umgehen kann.
© Stefan Franzen