Von ihren letzten beiden Alben Stardust Crystals und Ekual (mit dem Gitarristen Szymon Mika) ist es ein großer Schritt zu diesem neuen Opus der Basler Sängerin und Songwriterin. Ja, ich schreibe ganz bewusst Songwriterin und nicht Jazzmusikerin, denn das ist eindeutig die Richtung, die Yumi Ito auf Ysla einschlägt. Bewusst und selbstbewusst schlägt sie mit ihrem Trio (Iago Fernández, dr / Kuba Dvorak, b) die Brücke zum Pop-Appeal, wirft aber nicht alles Bisherige über Bord, baut weiterhin strukturbildend das ein, was sie sich im Jazz erarbeitet hat.
Das macht sich vor allem in Itos Vokalkunst bemerkbar: Ihr Range hat in den freien Flügen der Scat-Passagen an Umfang nochmals zugelegt, in den betexteten Parts dagegen sind die tieferen Register körperlicher und gefestigter („Seagull“). Viele der Songs auf den Piano-Patterns aufzubauen, funktioniert toll, fast fällt einem bei „Is It You“ und „Love Is Here To Stay“ die Passacaglia-Technik aus dem Barock ein. Spannend auch die Klangästhetik. Heutzutage, wo gerade im Pop alles auf Kompression produziert ist und auf eine eher einheitliche Hall-Ästhetik, arbeitet Ito mit ihrem Team geschichteter: Hier gibt es mal Kathedralen-Hall, dann aber auch ab und zu Passagen, wo die Stimme plötzlich trocken und unmittelbar vor den Hörenden steht (wie in der aufgekratzten „Drama Queen“). Ein Relief statt einer langweiligen Ebene.
Das gilt auch für die Instrumente: Das Klavier ist manchmal so unmittelbar und nah wie in der Mikrofonierung der Oscar Peterson-Aufnahmen von MPS, der Bass richtig physisch erlebbar („Rebirth“ / „After The End“). Die Drums gestalten immer wieder überraschend mit „Extrasystolen“, und sie öffnen einen eigenen Bezirk (am Ende von „Rebirth“). Ito greift außerdem auf eine weitere tiefe Streicher-Rolle zurück. Das Cello kommt dem Kontrabass dabei nicht in die Quere: Es schafft eine ganz eigene Klangfarbe, fast wie eine Gambe, und fügt sich homogen ins Sounddesign. Als architektonisches Element nimmt man die Synthesizer von Chris Hyson wahr, sie färben fast unmerklich, wie eine Herznote in einem Parfum.
Und der besondere Kniff: Durch die offene, unerbittlich wiederholte Frage am Schluss („Does the seagull think it’s lonely?“) bleibt die Platte auch ein Stück weit „unversöhnlich“ und nicht „schön abgerundet“, so wie Yumi Ito das auch auf „Stardust Crystals“ schon mit ihrem experimentellen Prag-Stück praktizierte. Eine 35minütige Konzept-Suite, ja, aber kein abgeschlossener Zyklus, sondern ein Finale mit einer „unanswered question“. Durch diese „Wunde“ am Ende gewinnt Ysla auf der Zielgeraden nochmal richtig hinzu.
Zuerst gehört habe ich eines seiner Lieder in der deutschen Version von Daliah Lavi („Wär‘ ich ein Buch“). Danach wurde es während der Olympischen Sommerspiele von München und Montréal von der ARD als Begleitmusik zur Wahl der schönsten Sportlerin verwendet. Der Name Gordon Lightfoot sagte mir damals natürlich gar nichts, erst viel später habe ich mich mit der Biographie des Mannes befasst, dem dieser empfindsame Bariton gehört. Aber die melancholisch fließende, in sich ruhende Melodie von „If You Could Read My Mind“, hat mich damals so in Beschlag genommen, dass dieser Song tatsächlich zu einem der ersten Ohrwürmer meines Lebens wurde.
Gordon Lightfoot hat in Kanada den Status einer nationalen Legende. Die meisten seiner singenden Landsleute mussten in den 1960ern aus wirtschaftlichen Gründen in die Staaten gehen, und es gerät zu ihrem Stigma, dass viele von ihnen bis heute für Amerikaner gehalten werden. Lightfoot dagegen kehrt nach kurzem US-Intermezzo bald in die Heimat zurück. Mit seiner Lesart von Country und Folk formt er einen sehr persönlichen Ton – ein Ton, der sich nie patriotisch gibt, aber das Publikum glaubt, in ihm typisch kanadische Mythen zu entdecken: Starke Naturbilder tauchen in seinen Songs auf, sie handeln vom Unterwegssein in der weiten Landschaft, von der Geschichte der Eisenbahn, dem Untergang von Schiffen, den Arbeitern auf den Wolkenkratzern. Lightfoot, der privat mit vielen Dämonen von Alkoholismus bis zu notorischer Untreue kämpft, singt auch oft über die Liebe, manchmal zynisch, nie sentimental, aber durchaus philosophisch, wie eben in „If You Could Read My Mind“.
Nun ist die Nationalikone im Alter von 84 Jahren gegangen. Erinnern möchte ich an ihn mit der für mich überragenden Liebesballade „Softly“.
Rabih Lahoud von Masaa (Foto vom Künstler zur Verfügung gestellt)
Drei deutsche Jazzmusiker und ein deutsch-libanesischer Sänger-Poet: Aus dieser Kombination entsteht bei Masaa eine einzigartige Klangwelt. Die Stimme der Band, Rabih Lahoud, reflektiert im Interview über das Ankommen in Deutschland, sein Verhältnis zu einer sich verändernden arabischen Sprache und über die Kategorisierungen in Weltmusik und Jazz.
aktuell: SRF 2 Kultur strahlt meinen Beitrag mit Masaa am Dienstag, den 2.5. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell aus: Radio SRF 2 Kultur – SRF
Rabih Lahoud, wenn man das neue Masaa-Album Beit (Veröffentlichung: 28.4.) hört, hat man den Eindruck, dass die Musiker sehr direkt die Hörer ansprechen, der Sound ist nah und warm. „Beit“ bedeutet ja auch „Haus“, „Heim“. Heißt das, Masaa sind nach Jahren der Wanderschaft zuhause angekommen?
Lahoud: Das würde ich bejahen, zumindest ist auch das mein eigenes Gefühl. Nach 20 Jahren bin ich jetzt hier ein bisschen mehr angekommen. Die Hälfte meines Lebens bin ich jetzt hier, mitgestaltend, nicht als Gast. Ich sage nicht mehr: „Hier bin ich woanders“. Sondern: „Jetzt bin ich hier“. Und diese Musik, diese meine Ideen tragen dazu bei, wie die Klanglandschaft hier ist.
Was bedeutet Beit als Albumthema genau, in einer Zeit, in der immer mehr Menschen gezwungen sind, ihren Schutzraum zu verlassen, in der viele Häuser zerstört werden, durch die gewaltige Explosion im Hafen von Libanon, durch den Krieg in der Ukraine? Haben diese Ereignisse Einfluss gehabt auf die Entstehung der Platte?
Lahoud: Ja, absolut. Das ist eine Überlegung, die sich intensiviert hat nach diesen Ereignissen. Ich sehe das Konzept von „Haus und Heim“ als ein doppeltes. Zum einen, das historische Sesshaftwerden der Menschheit. Zum anderen aber auch etwas Internes: Was bedeutet das wirklich, sich zuhause zu fühlen? Was für viele Menschen normal ist, jst heute für viele, viele nicht mehr selbstverständlich, sondern ein Privileg geworden. Am Ende des Titelstücks singe ich immer wieder: „Keine Häuser zerstören, Häuser bauen!“ Das kann man auch metaphorisch verstehen. „Hatdem“ heißt zerstören, „dammara“ aufbauen. Die arabische Sprache ist da sehr rhythmisch in ihrer Struktur, und daher hört sich das fast an wie ein Spiel mit Rap.
Daheim kann man sich ja auch in einer Sprache fühlen. Auf früheren Alben haben Sie auch auf Deutsch gesungen, das ist jetzt weggefallen, die meisten Ihrer Texte sind auf Arabisch, und die sind länger geworden als früher. Ist das Arabische trotz der langen Abwesenheit vom Libanon immer mehr Ihr Zuhause?
Lahoud: Ich glaube schon. Meine Beziehung zum Arabischen hat sich verändert. Ich fühle mich wohler im Sprechen, deshalb verwende ich vielleicht auch mehr Wörter. In meinem Alltag als Jugendlicher war vor allem der Klang der Sprache etwas Schönes, nicht die Bedeutung der Worte. Jetzt langsam haben für mich die Wörter neue Bedeutungen, neue Erfahrungen, ich habe das Gefühl, ich kann das zulassen. Es klingt jetzt mehr nach Rabih als nur nach Arabisch.
Wo steht die arabische Sprache heute als künstlerisches Ausdrucksmedium?
Mein Gefühl ist, dass die arabische Sprache etwas durch die osmanischen und europäischen Einflüsse eingebüßt hatte. Besonders im Libanon war dieser Einfluss ja groß und wir haben dort heute eine Mischung von Sprachen. Das ist einerseits wunderbar, denn der Mensch ist ein Wesen, das sich anpassen kann, um der Kommunikation willen Dinge transformieren kann. Das ist insbesondere ein libanesischer Wesenszug: Man verlässt Identitäten, um in Kommunikation zu bleiben, es geht darum, dass man sich versteht. Andererseits hat diese wunderbare Sprache dadurch auch ein bisschen ihr Herz verloren, indem sie sich vielleicht minderwertig oder nicht up to date fühlt. Denn es gibt viele Wörter der modernen Welt, für die das Arabische heute keine Entsprechungen hat. Das Arabische braucht meiner Meinung nach eine künstlerische Unterstützung. Es darf nicht die Fähigkeit verlieren, dass man Schönheit und Zärtlichkeit und Kraft ausdrücken kann.
Verändert sich die arabische Sprache auch durch die Umwälzungen seit dem „Arabischen Frühling“?
Lahoud: Ja, total. Ich fühle einen Umbruch, eine Wende, eine Veränderung im Bewusstsein der jungen Menschen, vor allem der Generation, die jetzt nachkommt, nach dem „Arabischen Frühling“. Die Sprache wird als etwas behandelt, das wiedergeboren werden muss. Ich habe den Eindruck, junge Leute verwenden in den Social Media Dialektausdrücke aus den einzelnen Regionen jetzt pan-arabisch, und dadurch entsteht eine neue Hochsprache, eine neue Ausdruckskraft. Das wird in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren auch in den Strukturen der arabischen Gesellschaft sichtbar werden.
Haben Sie nur zur arabischen Sprache eine neue Einstellung gewonnen, oder auch zur Musik Ihrer ersten Heimat?
Lahoud: Früher habe ich nicht mit arabischen Skalen gearbeitet, war eher auf Distanz. Inzwischen fasziniert mich die klassische arabische Musik und ich recherchiere über sie. Ich merke jetzt, wie wertvoll das ist, wenn wir diese Schatzkiste in den Masaa-Sound hineinnehmen. Ein Stück auf „Beit“, eine Widmung an den Musiker „Zeryab“ aus dem Córdoba des 8./9. Jahrhunderts, steht zum Beispiel im Nahawand-Modus. Das ist eine Skala, die mit dem europäischen Moll verwandt ist. Aber es gibt in der arabischen Musik eben viele Molls: In Aleppo hört sich Moll durch andere Mikrointervalle ganz anders an als in Kairo. Durch diese feinen Unterschiede öffnen sich ganz verschiedene Welten.
Im Stück „Nabad“ gibt es die schöne Zeile: „Nimm das Gewicht der Vorfahren weg“. Ist das ein Plädoyer dafür, dass wir uns als bloße Menschen begegnen sollten, unbelastet von politischen Altlasten der Vergangenheit?
Aufgewachsen ist sie im Iran, studiert hat sie in Kanada und zu musikalischer Reife gelangte sie in Wien, wo sie seit 2008 lebt. Die Sängerin, Songschreiberin und Multiinstrumentalistin Golnar Shahyar hat mit ihren Prägungen aus drei Erdteilen eine außergewöhnliche Musik zwischen Jazz, Songwriting und persischen Roots mit starken Texten geschaffen. Ein Gespräch über ihr Album Tear Drop (Klaeng Records) und ihr Verhältnis zur Bewegung „Frau – Leben – Freiheit“.
Golnar Shahyar, wenn man Ihrer Stimme zuhört, hat man den Eindruck, dass Sie oft innerhalb ein- und desselben Stückes in verschiedene Persönlichkeiten schlüpfen, so unterschiedlich sind die Färbungen.
Ich sehe meine Stimme als Spiegel meines Charakters, ich habe eine große Neugier, unterschiedliche Menschen kennenzulernen. Außerdem bin ich in drei verschiedenen Kontinenten aufgewachsen, mit drei verschiedenen Kulturen, Sprachen, Verständnissen vom Leben. Meine Stimme ist daher eine Mischung von allen musikalischen Welten, die ich entdeckt habe, in denen ich mich finden konnte. Ich bin nicht nur beeinflusst von den vielen Musiktraditionen aus verschiedenen Folk-Regionen im Iran, auch von nordwestafrikanischer Musik, von Jazzvokalistinnen, von Vokalkünstlerinnen, die experimentelle Sachen mit der Stimme gemacht haben.
Ein wichtiger und langjähriger musikalischer Partner ist für Sie der Gitarrist Mahan Mirarab. In der neuen Band spielt aber auch Mario Rom an der Trompete eine herausragende Rolle. Ist er ein besonderer Dialogpartner, ein Spiegel oder ein Gegengewicht zu Ihrer Stimme?
Man kann sagen: Eine Erweiterung der Stimme. Ich finde, die Freiheit, die Mario auf dem Instrument hat, ist sehr befreiend. Das spiegelt meine Gefühle sehr stark, in der Art und Weise, wie er spielt, spiegelt, wie ich gerne klinge und gerne singen möchte. Mario war eine ganz wichtige Person in diesem Klangteppich, den ich gemacht habe. Mahan hat mir extrem viel beigebracht, mit ihm habe ich meine erste Banderfahrung. Und seine Haltung als Freidenker, der auch Autodidakt ist, hat mir so viele Türen geöffnet zur ganzen Welt der Klänge, die wir haben, ohne Separierungen, ohne Hierarchierungen, ohne Präferenzen. Einfach eine Neugier auf die Sprache von Musik und wie es klingen könnte, wenn wir das mit unserer eigenen Identität vermischen. Dass ich meine eigene musikalische Sprache finde und erfinde, das habe ich auch sehr stark in mir gehabt. Also war unser Treffen sehr passen, weil wir ähnliche Ziele und Zugänge zur Musik gefunden haben.
Mahan Mirarab feat. Golnar Shshyar:“ Say Your Most Beautiful Word“
Quelle: youtube
Ihre Musik klingt sehr international, hat aber immer wieder den Rückbezug zum Iran. Wie entstehen Ihre oft sehr langen Songs?
Mein Weg um Musikerin zu werden, ist kein typischer gewesen, ich habe wirklich sehr spät mit bewusstem Hören angefangen, habe vorher Biologie studiert. In Kanada und Österreich habe ich zum Beispiel die Arbeit von Joni Mitchell entdeckt, ihre Musik und ihre Poesie war eine große Inspiration. Die iranischen Skalen sind mir vom Hören her vertraut, ich verwende sie, schreibe aber nicht nach ihren strengen Regeln. Gleichzeitig lasse ich mich von der Musik anderer Regionen der Welt beeinflussen, in meinem Stück „Ode To Trust“ etwa hört man die Gesänge der mauretanischen Frauen heraus. Alle diese Einflüsse finden in meiner Musik zusammen eine eigene Sprache.
Sie haben im Laufe der letzten Jahre in etlichen Bandprojekten mitgewirkt, Tear Drop ist jetzt das erste Album unter Ihrem eigenen Namen. Die Aufnahmen sind auch unter dem Eindruck der furchtbaren Ereignisse im Iran seit September 2021 entstanden. Ist die Musik für Sie ein Mittel, um diese Zeit zu bewältigen?
Shahyar: Das ist eine komplexe Thematik. Ich finde es sehr interessant, dass dieses Album genau zu dem Zeitpunkt rauskommt, zu dem die Revolution stattfindet. Denn was gerade im Iran passiert, ist eine Revolution, obwohl wir noch keine politische Veränderung sehen. Ein kultureller und gedanklicher Sprung ist schon passiert in unseren Köpfen. Deshalb nenne ich das eine gedankliche, kulturelle Revolution. Das war aber ein langjähriger Prozess, den wir alle durchgemacht haben. Die Entdeckung von mir selbst, um mich, meinen Charakter, meinen Klang zu finden durch meine Musik, ist ein Teil dieses Prozesses gewesen. Ich komme ja aus einer Generation, in der wir nach dem Krieg mit dem Irak keine Idole mehr hatten. Unsere Präsenz wurde aus der Öffentlichkeit gestrichen. Unsere Identität hat nicht existiert. Ich sehe dieses Album als „Blume“, meine persönliche Reise, die sich auch in den aktuellen Ereignissen der iranischen Kultur spiegelt. Es ist, als ob diese konstante Suche jetzt plötzlich ein Bild hat. Und in meinem Fall, im Fall von Tear Drop hat sie auch einen Klang.
Sie leben in Wien, sind also gewissermaßen „weit weg“ von den Ereignissen. Wie können Sie die Bewegung „Frau – Leben – Freiheit“ unterstützen?
Shahyar: Weil ich im Ausland bin, habe ich eine Plattform, auf der ich meine Musik präsentieren kann. Ich kann sehr viel Energie weitergeben, Musik hat diese Kraft, sie bringt Menschen zusammen. Durch meine Musik kann ich die Intentionen nach einer Änderung verstärken. Und das tue ich so viel ich kann. Natürlich würde ich sofort ins Gefängnis gehen, sobald ich in den Iran reise, aber außerhalb des Landes, egal wo, wenn ein Platz geschaffen wird für ein „Frau – Leben – Freiheit“-Event oder Proteste, nutze ich meine Stimme und meine Musik.
Wird Ihre Musik denn im Iran gehört?
Shahyar: Ja, aber dort habe ich keine große Plattform. Und in der iranischen Diaspora zählt meine Musik auch zu einer Nische, es ist ja keine populärer, sondern ein neuer Klang, der erst noch seinen Platz finden muss. Sehr häufig wird die Stimme von Frauen im Iran als traurig gedacht, aus einer Opferrolle heraus. Doch auf diesem Album habe ich nicht nur über Leid und Traurigkeit gesungen, sondern auch über die Macht der Stimme, über Freude, diese unendliche emotionale Quelle, die wir in uns haben. Ich erkenne also nicht nur diese Trauer an, sondern auch die Macht etwas zu ändern.
Shahyar: Darum, dass es so verdammt schwierig ist, dein Kind loszulassen und nicht zu wissen, ob es zurückkommt! Und natürlich um noch etwas: Dass die Frau jetzt ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt. Sie geht auf die Straße und riskiert ihr Leben. Früher haben immer Männer gekämpft und es wurden über Männer Slogans geschrieben, die ihr Leben für das Land oder die Freiheit geben, aber jetzt ist es die Frau. Das ist extrem stark. Extrem stark! In dieser kulturellen Revolution hat sich die Frau emanzipiert. Sie hatte immer schon gekämpft und extrem hart gearbeitet, aber ihr Image war nicht so. Jetzt stimmen Realität und Image überein. Das verstärkt diese Bewegung. Es ist extrem schön zu sehen, aber natürlich auch sehr traurig.
Ein ganz starkes Stück auf Ihrer Platte, „Maman Djan“, ist Ihrer Großmutter gewidmet, das dazugehörige Intro dem Vogel Simorq aus der iranischen Mythologie. Wie passt das zusammen?
Shahyar: Meine Großmutter hat mich sehr geprägt. Diese Frau war so voller Leben, voller Liebe, voller Schönheit und Wärme. Aber sie hat auch ein sehr schwieriges Leben gehabt, das hatte sowohl kulturelle als auch familiäre Gründe. Ich beschreibe meine Großmutter im Lied auch symbolisch, stellvertretend für das Schicksal von vielen Frauen ihrer Generation. Ich beschreibe sie als Simorq, dieses mythische Symbol für Schönheit und Kraft und Führungsstärke, das all diese Jahre marginalisiert und unterdrückt wurde. Der Simorq mag im Käfig sein, doch seine Träume gehen weiter. Die Natur des Menschen ist so: Er wird immer wieder nach Freiheit streben.
„Hortelã“ ist das portugiesische Wort für Minze – und der passt für dieses Album richtig gut. Mariana Brito da Cruz Forjaz Secca, kurz MARO, hat eine Stimme, die kühlend wie Minzeduft wirkt, ein Timbre, das manchmal mehr Hauch als Ton ist. Man kennt die 28-jährige Songwriterin und Sängerin, seit sie letztes Jahr Portugal mit dem Lied „Saudade“ beim ESC vertreten hat. Ihre Karriere wird durch Quincy Jones‘ Management betreut, sie war mit Jacob Collier auf Tour und wurde während der Pandemie durch ihre Home-Sessions „Itsa me, MARO“ bekannt, bei der sie mit Prominenz wie Eric Clapton digital musizierte.
Nach ein paar englischsprachigen und eher poppigen Alben hat MARO jetzt zur äußersten Reduktion gefunden. Ihre fast ausschließlich portugiesischen Miniaturen, kaum mal mehr als drei Minuten, lässt sie nur von den beiden Stahlsaiten-Gitarristen Darío Barroso und Pau Figueres begleiten. Viele der Stücke haben kontemplativen Charakter (etwa das ruhig atmende „Fui Passo Calculado“), ab und an kommt ein wenig Rumba- oder Flamenco-Charakter rein („Há-de Sarar“, „Oxalá“). Und ein fast schmerzlich intimes Duo mit der katalanischen Kollegin Sílvia Pérez Cruz („Juro Que Vi Flores“) ist das Highlight.
Er war das Mastermind des Afro Celt Sound Systems: Der Produzent, Gitarrist, DJ und Sänger Simon Emmerson hat uns am 13. März im Alter von 67 Jahren verlassen. Begonnen hatte Emmerson als Postpunk-Musiker, bevor er in den 1980ern in Cardiff mit der Band Weekend erstmals Weltmusik-Elemente aufnahm. Die nächste Karrierestation brachte ihn in den Reihen der Formation Working Week mit dem Acid Jazz in Berührung, danach spielte er bei der Popband Everything But The Girl. 1994 übernahm er die Produktion für das Album „Firin‘ In Fouta“ des senegalesischen Stars Baaba Maal, das für einen Grammy nominiert wurde.
Im Folgejahr gründete er das Afro Celt Sound System: Über neun Alben hinweg leistete das Kollektiv Pionierarbeit in der Zusammenführung von alten keltischen Melodien und afrikanischen Rhythmen. Irischer Dudelsack und westafrikanische Kora, Fiddle und Talking Drum bündelte Emmerson zu einem hochgradig tanzbaren Mix. In späteren Jahren traten Einflüsse aus der indischen Punjab-Musik hinzu.
Sein zweites großes Kollektiv war die 2004 gegründete Formation The Imagined Village, mit der er die traditionelle Seite der englischen Folkmusik mit Ska, Dub, Reggae und Bhangra verknüpfte, und in dem Größen wie Billy Bragg und Eliza Carthy zum Line-Up zählten. Neben den beiden Bandprojekten war Simon Emmerson weiterhin als Produzent tätig, etwa für Robert Plants „Life Begin Again“ (2003) oder Sinéad O’Connors „Collaborations“ (2005). Für die Royal Society for the Protection of Birds steuerte der Naturliebhaber Feldaufnahmen von Vogelstimmen bei. Emmerson stand für mehr als 80 Produktionen am Pult.
Simon Emmerson und den Afrokelten verdanke ich eine grandiose Tanzparty zu meinem 31. Geburtstag in Mainz. Cheers, Simon!
Brasilianische Musik scheint 2023 in ein neues Zeitalter der Entspannung zu gehen: Drei dringende Hörtipps für den Start in den Frühling!
„Meine einzige Angst ist der Frühling“, Meu Único Medo É Primavera (Ajabu! Records/Broken Silence) betitelt denn auch der brasilianische Songwriter Ian Lasserre sein aktuelles Werk. Dabei tönt der Liederzyklus des Bahianers mal relaxt wie ein Sonntagmorgenspaziergang mit knackiger Rhythmusgitarre („Abraxas“), träumerisch-melancholisch wie ein alter Milton Nascimento-Song mit Piano-Sentenzen („Estrela“) oder reibt sich auch mal an querständigen Jazzharmonien. Für alle Fans von Vinicius Cantuária!
Sehr zurückgelehnt gibt sich auch der in Kalifornien ansässige Gabriel da Rosa auf É O Que A Casa Oferece (Stones Throw). Sein Vokabular bleibt weitestgehend Samba- und Bossa-zentriert, aber alles anderes als altbacken. Spaß macht diese Scheibe, weil sie über der Akustikgitarre fantastisch mit Flöte, Bassklarinette, Posaune, butterweicher Elektrischer, lichtvollen Streichern, der genau richtigen Dosis Perkussion und Gabriels geschmeidig-knabenhafter Stimme textiert. Eine Musik, die duftet wie ein Frühlingstag im Jahre 1960, unser Anspieltipp heißt denn auch „Jasmim Parte 1“.
Die verblüffendste Brasil-Platte des Frühlings kommt für mich aber aus Düsseldorf. Ja, richtig gelesen. Die lusophile Stimmenkünstlerin und Songwriterin Elsa Johanna Mohr hat sich mit dem Gitarristen Flávio Nunes zu einem intimen Tête-à-tête zusammengefunden, das nicht nur alle deutsch-brasilianischen Fettnäpfchen, die da stehen könnten, ordentlich umschifft, sondern mit dem „Great Brazilian Songbook“ verschiedenster Genres und Geographien erfrischend und geradezu innovativ umgeht.
Der Afro-Samba „Tempo De Amor“ von Baden Powell wird funky rhythmisiert, „A Menina Dança“ klingt noch eine Spur swingender als bei Marisa Monte. Und „Fechada Pra Balanço“ hat genau die Gänsehaut-Blue Notes, nach denen das augenzwinkernde Stück verlangt. Mohr hat sich die portugiesische Sprache nicht nur wie eine Nativa angeeignet, sie versteht auch eine Menge vom effektvollen, sinnlichen Phrasieren im fremden Idiom. So rangieren unter den Highlights dann tatsächlich auch ihre fruchtigen Eigenkompositionen, wie die träumerische Bossapop-Ballade „Casuleira“ und das freche Titelstück „Passadinha“.
Elsa Johanna Mohr & Flávio Nunes: „Passadinha“
Quelle: youtube
„Spotted: Subsahara“ heißt das aktuelle Programm des Ensemble Recherche mit zeitgenössischen afrikanischen Kompositionen. Zum Brückenschlag zählt auch eine Improvisation mit einem DJ aus Ghana. Das Ziel: Gleichberechtigte Begegnung statt eurozentrischem Blick.
Elektronische Klänge flackern durchs Ensemblehaus. Verfremdetes Flussplätschern, klackernde Rhythmen, dann ein grelles akustisches Signal. Eine Autohupe oder Tram-Bimmeln? DJ Steloo aus der ghanaischen Hauptstadt Accra hat diese Geräusche in Freiburg gesammelt. „Wenn die Leute mir neugierig zuschauen, wie ich mit meinem Aufnahmegerät unterwegs bin, ist das für mich schon eine Street Performance“, sagt er. Die Klänge will er mit Sounds aus Accra kombinieren und unter Beteiligung des Ensemble Recherche zu einem Stück bauen. Mit Pianist Klaus Steffes-Holländer und Perkussionist Christian Dierstein hat er schon gearbeitet. „Ich finde es von Vorteil, dass ich gar keinen Hintergrund mit klassischer Musik habe, so kann ich die Klänge des Ensembles ganz anders umarmen.“ Er ist begeistert, dass die Freiburger Musiker sich ihrerseits auf Improvisationen einlassen.
Steloo hat das Konzept des DJs zu einem Gesamtkunstwerk geweitet. Im Interview sitzt er mit verspiegelter Sonnenbrille und einer bunten Kopfbedeckung, die auch an eine alte Pilotenkappe erinnert. Mode und Musik gehören in seiner Performance untrennbar zusammen. „Oft haben Europäer immer noch eine Vorstellung von afrikanischer Musik, die von Trommeln ausgeht. Doch der Klang Afrikas wächst, verändert sich. Leute wie ich versuchen Stereotypen zu sprengen.“
Neben dem mit Steloo erarbeiteten Stück stellt das Ensemble Recherche vier südafrikanische und einen nigerianischen Tonschaffenden der zeitgenössischen Musik vor. Den Dialog zum anderen Erdteil auf Augenhöhe anzulegen, ist das Anliegen des Programms „Subsahara“. „Es gab eine lange Phase von musikalischem Exotismus. Aber heute ist es nicht mehr akzeptabel, dass man eine Plünderung außereuropäischer kultureller Ressourcen vornimmt“, sagt der australische Komponist Paul Clift, neuer künstlerischer Leiter des Ensemble Recherche. „Unsere Frage ist: Wie können wir einen behutsamen Kontakt schaffen, ohne koloniale Geisteshaltungen zu zementieren, ohne dass eine musikalische Syntax die andere ertränkt?“
Begonnen hatte das bereits mit der Reihe „Postcolonial Recherche“. Die Arbeit mit Komponistinnen und Komponisten rund um die Welt stellte die Musiker vor Herausforderungen. Partituren bestanden oft aus verbalen Anweisungen oder gar graphischen Darstellungen von Tieren und Pflanzen. Als Guide durch die Landkarte aktueller Kompositionen Afrikas fungiert für das Ensemble der Südafrikaner Bongani Ndodana-Breen, der Clift kuratierend zur Seite stand und steht. Er wird selbst mit dem Werk „Two Nguni Dances“ vertreten sein, das sich zwar in westlicher Notation fixieren lässt, aber trotzdem seine Arbeit mit der Tradition durchscheinen lässt. Sein Landsmann Njabulo Phungula hat mit “A Tap Releases The New Harmony” ein geschaffen, das seinen Impuls aus einer gestischen Gedichtzeile von Arthur Rimbaud bezieht. „Es mag sich für europäische Ohren fast ‚leer‘ anhören, es lässt viel Raum für Vorstellungskraft und Allegorien“, so Clift.
Mit Monthati Masebe und Tebogo Monnakgotla sind zwei Frauen mit ungewöhnlichen Perspektiven im Programm: Masebe antwortet als Gender Rights-Aktivistin mit ihrer Arbeit auf patriarchale Normen ihrer Heimat, stellt aber auch koloniale Hierarchien auf den Kopf: Im Stück „Meraro“ fordert sie von den westlichen Instrumenten, sich auf die Klangwelt indigener Mundbögen einzustellen. Monnakgotla dagegen bringt durch ihre Sozialisierung in Schweden eine Erneuerung der Ursprungskultur in Form von Streichtrios ein.
Während sich in Südafrika durch eine Infrastruktur mit Orchestern und Konzerthallen Traditionen oft mit westlichen Elementen vermischt haben, mag der Beitrag des Nigerianers Ayo Oluranti unsere Erwartungen an das „Afrikanische“ eher zu befriedigen, weil er auf der perkussiven Apala-Musik mit Polyrhythmen und Wiederholungen basiert. Aber ist das nicht schon wieder einer unserer Stereotypen? Es sind spannende Fragen, die das Ensemble Recherche mit „Subsahara“ anstößt. Clift stellt im Kontakt mit Afrika sogar den Begriff des „Komponisten“ zur Disposition: „Muss das immer ein Individuum sein, das seine Vision hierarchisch mit einem Ensemble teilt? Warum ‚Komponist‘ nicht verstehen als eine kollektive soziale Einheit?“
Konzert: „Spotted: Subsahara“, Jazzhaus Freiburg, 8.3. 20h
Radio: Über die Arbeit des Ensemble Recherche wird das SRF 2 Musikmagazin am 11.3. ab 10h einen Beitrag bringen
Ende April wird die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz ihre neue Platte Toda La Vida, Un Día veröffentlichen.
Ein Werk, das sich in fünf Sätze gliedert (jeder entspricht einer Etappe des Lebens) und das Sílvia mit vielen Gästen zwischen Barcelona, Havanna und Buenos Aires eingespielt hat.
Heute erscheint vorab die zweite Single „Nombrar Es Imposible“ aus dem 5. Satz namens „Renacimiento“ – eine vergnügliche Spazierfahrt durch Havanna, bei der ein Kontrabass eine besondere Rolle spielt.
Sílvia Pérez Cruz: „Nombrar Es Imposible“
Quelle: youtube