Die Reise ins Ich


In diesen Zeiten des Schreckens und der Ohnmacht fällt es schwer, überhaupt noch über solche Orchideenthemen wie Popkultur zu sprechen. Aber dennoch: Wenn wir damit aufhören, rauben wir der Seele ihre Widerstandskraft.

Heute im Jahr 1968 erschien die Beatles-Single „Lady Madonna“ (man beachte die freiheitssolidarische Farbgebung des Covers, die ich nicht aufbereitet habe). Wer die Platte umdrehte, tauchte allerdings in eine ganz andere musikalische Welt ein. George Harrison gab – nach „Love You To“ auf Revolver und „Within You Without You“ auf Sgt. Pepper… – sein drittes Intermezzo mit einem Song, der von klassischer indischer Musik geprägt war. Es ist zudem der einzige Song der Fab Four, der hauptsächlich in Indien entstand. Harrison war im Januar 1968 nach Bombay gereist, um an seinem Soundtrack Wonderwall zu arbeiten, und um auf die Bandkollegen zu warten, damit sie im Februar gemeinsam zu ihrem Guru Maharishi in Rishikesh weiterreisen sollten.

Eine ganze indische Gruppe hatte sich zu den Aufnahmen am 12. Januar in den EMI-Studios zusammengefunden. Der Bambusflöten-Virtuose Hariprasad Chaurasia dürfte der international bekannteste Musiker unter ihnen sein, dazu gesellen sich die indische Oboe Shanai, die Langhalslaute Sarod, ein Harmonium und die Perkussionsinstrumente Tabla und Pakhawaj – ein Ensemblespiel, wie es auch in der südindischen, karnatischen Klassik durchaus üblich ist. Die anderen Beatles fügten später nur noch einen kleinen Schlusschor ein.
Harrisons „Inner Light“ geht damit weit über das übliche Indien-Kolorit im Raga-Rock der Spätsechziger hinaus.

Der Text allerdings stammt nicht aus hinduistischer Religion, sondern aus dem Tao Te King des taoistischen Philosophen Laotse. Der spanische Sanskrit-Professor Joan Mascaró hatte sie Harrison zur Vertonung nahegelegt. Als ich die Zeilen las, musste ich sofort an Fernando Pessoas Ausspruch aus dem „Buch der Unruhe“ denken: „Existieren ist Reisen genug.“

Ohne aus der Tür zu gehen, kennt man die Welt
Ohne aus dem Fenster zu schauen, sieht man den Sinn des Himmels.
Je weiter einer hinausgeht, desto geringer wird sein Wissen.

Harrison singt die nur leicht vom Tao Te King abgewandelten Zeilen mit einer seelenvollen Bedachtheit. Dieser viel zu wenig beachtete „Harrisong“ stimmt mich sehr friedlich, und er zählt für mich zu den erstaunlichsten Beatles-Momenten überhaupt. Mit einer wunderbaren Version ehrten Anoushka Shankar und der enge Freund Jeff Lynne den verstorbenen Harrison 2002.

The Beatles: „The Inner Light“
Quelle: youtube

Wiedergeburt zwischen zwei Städten

„180 Tage in einem tiefen Traum, in tiefem Frieden, nicht wie einer, der schläft, nicht wie einer, der stirbt, aber fast.“ Salvador Sobral singt die Eingangszeilen seines neuen Albums in verletzlichem Falsett, und dazu scheppert und poltert das Schlagzeug wie ein verschleppter Herzschlag. Dieser Mann hat eine Menge hinter sich. Kurz nachdem er 2017 den Eurovision Song Contest gewonnen hat, wird bekannt, dass sein eigenes Herz ihn nicht mehr lange am Leben erhalten würde. Kurzatmig, mit 25 Litern überflüssigem Wasser im Körper übersteht er kaum die Torturen des ESC, seine Schwester Luísa, Ko-Autorin des Siegertitels „Amar Pelos Dois“, fängt ihn auf, wo es geht.

Ein halbes Jahr zermürbender Warterei folgt. Doch Sobral findet einen Spender, und nach erfolgreicher Transplantation kehrt der heute 29-Jährige Schritt für Schritt ins Leben zurück, legt nun ein wunderbares neues Werk namens Paris, Lisboa vor. „Dieser erste Song auf dem Album steht für meine Katharsis“, sagt Sobral am Telefon aus Lissabon. Auch seine Sprechstimme hat dieses Empfindsame, Poetische, das ihn beim Singen so auszeichnet. „Es ist der Moment, in dem ich von Neuem starte, meine Wiedergeburt. Danach beginnt das eigentliche Album, frisch und leicht.“ Doch der Weg dorthin ist ein Kraftakt. Nach der OP geht er durch eine lange Reha-Phase, Sobral hört sich seine alten Alben an, versucht, die Kraft zum Singen zurückzugewinnen. „Natürlich hatte sich meine Stimme nicht nur auf physischer, sondern auch auf psychologischer und emotionaler Ebene verändert“, erinnert er sich.

Der Spross aus einer portugiesischen Adelsfamilie begeisterte sich schon früh für Jazz, nahm an der Castingshow „Ídolos“ teil, studierte an der Taller de Músics in Barcelona. Seine Auffassung vom Genre ist allerdings eine sehr freigeistige: „Ja, ich sehe mich selbst als Jazzmusiker, aber ich habe einen ganzen Haufen Bands, und in jeder erforsche ich verschiedene Charaktere und Persönlichkeiten. In meinem englischen Projekt Alexander Search bin ich eher ein Rocker, in einer anderen Band steht der Tanz im Vordergrund. Ich will ja schließlich nicht vor Langeweile sterben!“

Diese Experimentierfreude erklärt auch, dass er sich auf das Abenteuer ESC eingelassen hat. Heute sieht er diesen Ausflug mit seinem ganzen außermusikalischen Bohei sehr kritisch, spricht sogar davon, dass der Grand Prix „seine Prostitution“ war.
Wenn man Paris, Lisboa, Sobrals drittes Werk anhört, erkennt man schnell, dass er ein denkbar untypischer ESC-Sieger ist. Der Titel ist an „Paris, Texas“ von Wim Wenders angelehnt, dessen Filme Sobral mag, nicht musikalisch, aber wegen des Schwebezustands zwischen den beiden Orten. „In ihm befand ich mich die letzten achtzehn Monate, physisch und sentimental, denn meine Liebe lebt in Paris. Paris bedeutete für mich Befreiung nach dem Krankenhaus, endlich konnte ich wieder reisen! Ich ging ins Kino, in Museen, spazierte endlos durch die Straßen.“ Seine „Liebe“ ist die französische Schauspielerin Jenna Thiam, mit ihr ist er inzwischen verheiratet, sie hat das reizende Chanson „La Souffleuse“ für das Album beigesteuert.

Ein Album, das meist in Quartettbesetzung gekonnt durch die Stile etlicher Weltgegenden steuert, jazzige Improvisation mit englischem Songwriting und südamerikanischer Sonne verknüpft. Ein kubanischer Bolero erzählt vom Meer, ein Samba aus Brasilien, Sobrals größtes musikalisches Steckenpferd, wandelt sich in eine Jazzballade. Und ein fast philosophisches Liebesgedicht von Fernando Pessoa löst sich in spielerische Leichtigkeit. Schwester Luísa ist auch dabei, mit ihr singt er nur zur Harfenbegleitung die Miniatur „Prometo Não Prometer“. Die Geschwister verstehen sich blind, sangen schon als Kleinkinder stundenlang miteinander auf Urlaubsfahrten.

Der eigentliche Star ist Salvador Sobrals wandelbare Stimme, deren frühere Flexibilität er sich fast zurückerobert hat, wie er erzählt. „Während meiner Jazzausbildung habe ich gelernt, wie ich die Timbres von Caetano Veloso, Billie Holiday und Sílvia Pérez Cruz in einen großen Topf werfe, sie vermische und dann kam diese Stimme heraus.“  Schelmisch fügt er hinzu: „Ich bin ja nur ein Dieb.“ Aber ein sehr cleverer, kann man hinzufügen. Am Ende von „Paris, Lisboa“ mündet alles in einen ausgelassenen Tanz mit der kleinen Rajão-Gitarre aus Madeira, eine Erinnerung an einen Inselurlaub. Auf dieser roots- und popgefärbten Jazzscheibe, die kräftig untermauert, wie ein Musiker seine Schaffenskraft zurückerlangt hat, ist es ist die letzte, sonnigste Station. „Jedes Mal, wenn ich diese kleine Gitarre höre“, sagt Sobral, „denke ich an den Sommer in Madeira. Und dann muss ich lächeln.“

© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 29.03.2019

Salvador Sobral: „Cerca Del Mar“
Quelle: youtube

Listenreich: 2016

ALBEN

alben-2016

1. Bears Of Legend (CAN): Ghostwritten Chronicles (Absilone/Galileo)
2. Aaron Neville (USA): Apache (Tell It Records/Rough Trade)
3. Josienne Clarke & Ben Walker (GB): Overnight (Rough Trade/Beggars Group)
4. Aynur, Kayhan Kalhor, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri (KURD/IR/ASB): Hawniyaz (Latitudes/Harmonia Mundi)
5. Ed Motta (BRA): Perpetual Gateways (MustHaveJazz/Membran)
6. Fraser Anderson (SCO): Under The Cover Of Lightness (Membran)
7. Graveola (BRA): Camaleão Borboleta (Mais Um Discos)
8. Osei Korankye (GHA): Seperewa Of Ghana – Ɛmmerɛ Nyina Nsɛ (Akwaaba Music)
9. Federspiel (A): Smaragd (col legno/Harmonia Mundi)
10. Pulsar Trio (D): Caethes Traum (T3 Records/Galileo)
11. Sivan Talmor (ISR): Fire (Chaos/in-akustik)
12. The Fretless (CAN): Bird’s Nest (Eigenverlag)
13. Sílvia Pérez Cruz (Katalunya): Domus (Universal Spain)
14. Maarja Nuut (EST): Une Meeles (Eigenverlag)
15. Emicida (BRA): Sobre Crianças, Quadris, Pesadelos & Lições De Casa (Sterns Brasil/Alive)
16. Ian Fisher (USA): Nero (Snowstar Records)
17. Nils Kercher (D): Suku (Ancient Pulse Records)
18. Oum (MAR): Zarabi (Galileo)
19. Tamer Abu Ghazaleh (Palästina): Thulth (Mostakell)
20. Gaye Su Akyol (TK): Hologram Imparatorluğu (Glitterbeat/Indigo)
21. The Breath (IRL/GB): Carry Your Kin (RealWorld/Rough Trade)
22. Roberto Fonseca (CUB): ABUC (Impulse/Universal)
23. Noura Mint Seymali (MAU): Arbina (Glitterbeat/Indigo)
24. Melingo (ARG): Anda (World Village/Harmonia Mundi)
25. Miramar (Puerto Rico): Dedication To Sylvia Rexach (Barbès Records)

SONGS

songs-20161. Bears Of Legend (CAN): „When I Saved You From The Sea“
2. Ian Fisher (USA): „Nero“
3. Mockemalör (D): „Punkerengel“
4. Fraser Anderson (SCO): „Simple Guidance“
5. Alejandra Ribera (CAN): „I Am Orlando“
6. Ed Motta (BRA): „Forgotten Nickname“
7. Cristina Branco (P): „As Vezes Me Dou Pro Mim“
8. Christa Couture (CAN): „Des Oiseaux“
9. Andrea Samborski (CAN): „Tiger Lillies“
10. Sivan Talmor (ISR): „I’ll Be“

KONZERTE

konzerte-20161. Alejandra Ribera (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 9.7.)
2. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (New Morning Paris, 2.6.)
3. Mulatu Astatke (Filature Mulhouse, 5.2.)
4. Manu Dibango (Jazzhaus Freiburg, 7.4.)
5. Richard Bona (Burghof Lörrach, 26.11.)
6. Glen Hansard (Heine-Park Rudolstadt, 10.7.)
7. Firas Hassan, Mohamad Fityan & Taufik Mirkhan (Synagoge Sulzburg, 1.9.)
8. Ballaké Cissoko & Vincent Ségal (Théâtre des Champs-Élysées Paris, 31.5.)
9. The Fretless (St. Agathen Schopfheim-Fahrnau, 7.10.)
10. Arezoo Rezvani & Murat Coskun (E-Werk Freiburg, 18.12.)
11. Anouar Brahem (Reithalle Offenburg, 13.11.)
12. Mbongwana Star (Kaserne Basel, 30.11.)
13. Building Bridges (E-Werk Freiburg, 30.10.)
14. German López (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 8.7.)
15. Hindi Zahra (Rosenfelspark Lörrach, 15.7.)

FILME

1. Genius (Michael Grandage, GB/USA)
2. Vor der Morgenröte (Maria Schrader, D/A/F)
3. Tim Maia (Mauro Lima, BRA)
4. Mali Blues (Lutz Gregor, D/MAL)
5. Sonita (Rokhsareh Ghaem Maghami, Afghanistan/Iran)
6. Love & Mercy (Bill Pohlad, USA)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Arrival (Dennis Villeneuve, CAN)
9. Frank Zappa – Eat That Question (Thorsten Schütte, D/F)
10. Iraqi Odyssey (Samir, Irak/CH/D/VAE)

BÜCHER

(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)

FICTION / LYRIK

1. Richard Powers: “Orpheus” (Fischer)
2. Harper Lee: „To Kill A Mockingbird“ (Grand Central Publishing)
3. Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“ (Fischer)
4. Arseni Tarkowskij: „Reglose Hirsche“ (Edition Ruderup)
5. Henry Thoreau: “Walden” (Barnes & Noble)

NON-FICTION

1. Michelle Mercer: “Will You Take Me As I Am – Joni Mitchell’s Blue Period” (Free Press)
2. Trevor Cox: “Das Buch der Klänge” (Springer Spektrum)
3. Alan Light: “The Holy or the Broken: Leonard Cohen, Jeff Buckley and the Unlikely Ascent of ‚Hallelujah'“ (Atria Books)
4. Jens Rosteck: „Jacques Brel – Der Mann, der eine Insel war“ (Mare)
5. Jonathan Franzen: „Farther Away“ (Picador)

AUSSTELLUNGEN

1. Giorgio Di Chirico – „Magie der Moderne“ (Staatsgalerie Stuttgart)
2. Lynette Yiadom-Boakye – „A Passion To A Principle“ (Kunsthalle Basel)
3. Paula Modersohn-Becker u.a.: „Worpsweder Landschaften“ (Kunsthalle Worpswede)
4. Joan Miró – „der leidenschaftliche Malerpoet“ (Kunsthalle Messmer Riegel)
5. Paul Klee – „L’Ironie À L’Œuvre“ (Centre Pompidou, Paris)