Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian In The Footsteps Of Rumi Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier 10.09.2024
Das Festival Arabesques in Montpellier hat mittlerweile schon eine fast 20-jährige Tradition. An verschiedensten Spielorten der für mich schönsten französischen Stadt präsentiert das Team vorrangig Musikerinnen und Musiker, die im sogenannten Okzident noch keine klingenden Namen haben, der Entdeckungsfaktor ist groß! Für uns war es das erste Mal, dass wir in die Arabesken eingetaucht sind, und das Eröffnungskonzert entpuppte sich als überragendes Erlebnis.
Bei Constantinople handelt es sich nicht etwa um ein Ensemble aus Istanbul, sondern die Gruppe um den Exil-Iraner Kiya Tabassian ist in Montréal beheimatet. Der Name ergibt Sinn: Wie Montréal heute war Konstantinopel seinerzeit Drehscheibe der Begegnung von Völkern und Kulturen. Traditionen von Andalusien bis Anatolien, von den jüdischen Shtetls bis zur iberischen Romanze, von Korsika bis Persien bündelt Constantinople zu einer neuen Vision. Um den Lautenisten und Sänger Tabassian scharen sich zu diesem Zweck stets neue Gäste, etwa die Sängerin und Autorin Ghalia Benali aus Tunesien. Mit ihr haben sie das Projekt In The Footsteps of Rumi erarbeitet, das kleine Textauszüge in persischen und arabischen Versen aus dem immensen Werk des berühmten islamischen Mystikers des 13. Jahrhunderts zu neuen Arrangements setzt.
Das Konzert in der plüschigen Atmosphäre der vollbesetzten Opéra de la Comédie lebt vom Kontrast der beiden Stimmen. Reizvoll, wie Benalis tiefes, resolutes und machtvoll-erdiges Timbre wechselweise mit der feingliedrigen, verzückten Vokalkunst von Kiya Tabassian die spirituellen Metaphern interpretiert. Gestenreich deklamierend, vielleicht etwas zu plakativ unterstützt durch eine rote Federboa, trägt Tunesierin die Poesie vor. Tabassians Linien auf der Langhalslaute vereinigen und umschlingen sich mit den charakterstarken, selbstbewussten Improvisationen der Kastenzither Kanun (Didem Basar). Spannend, dass keine persische Kamancheh für die Textur gewählt wurde, sondern mit dem türkischen Schwesterinstrumente Kemence (Solistin: Neva Özgen) noch einmal ein ganz anderes Obertonspektrum zum Tragen kommt. Für die perkussive Stütze wählt Constantinople mit Patrick Graham und Hamin Honari ein Zweiergespann, das mit Rahmentrommel, Tombak und kleinem Schlagwerk-Set eine variable und flexible Rhythmusgebung ermöglicht.
Ich kann in den letzten Jahren auf wenige Konzertereignisse dieses Kulturraumes zurückschauen, die mich so in den Bann gezogen hätten. Besonders ergriffen hat mich das Stück „Morghe Bâghe Malakout“:
Ich bin ein Vogel aus dem Paradies, nicht vom Reich der Erde bin ich, für ein paar Tage gefangen in meinem Käfig aus Fleisch und Knochen. Die duftende Morgenbrise bringt Kunde von der Vereinigung, mit Freude und mit Gesang werde ich diesen Käfig, diesen irdischen Thron verlassen.
Ein meditatives Plädoyer für die Grenzenlosigkeit der Musik und gegen politische Trennlinien: Placeless, eine gemeinsame CD der iranischen Schwestern Mahsa und Marjan Vahdat mit dem Kronos Quartet.
Seit 1973 hat das Kronos Quartet eine Lanze für ungewöhnliche Teamworks gebrochen. Es dürfte nahezu keine Weltgegend mehr geben, die die vier Amerikaner um den Geiger David Harrington nicht schon musikalisch besucht haben. Ihre gemeinsame CD mit dem persischen Schwesterpaar Mahsa und Marjan Vahdat dürfte im riesigen Katalog jedoch eine Sonderstellung einnehmen – ihres spirituellen Tiefgangs wegen, aber auch wegen der Brisanz, die eine US-iranische Kollaboration per se darstellt.
Gleich zu Beginn des Interviews betont Mahsa Vahdat: «Wir möchten mit unserer Arbeit keine politischen Slogans transportieren. Doch unsere Botschaft ist: Alle Einschränkungen, die Politiker uns versuchen aufzuerlegen, alle Mauern, Trennlinien, Antagonismen können Kunst und Musik überwinden.» Die erste Begegnung mit dem Kronos Quartet geht auf das Jahr 2016 zurück: Damals trifft Vahdat in San Francisco, ihrer heutigen Wahlheimat, den Komponisten und Arrangeur Sahba Aminikia, der schon mit den vier Streichern gearbeitet hat und beide Seiten miteinander bekannt macht. «Die Chemie stimmte einfach», erinnert sich Vahdat. Aminikia arrangiert im Folgejahr drei Stücke für Stimme und Quartett. Der norwegische Produzent Erik Hillestad vom Label KKV, auf dem sowohl Mahsa als auch Marjan Vahdat seit etlichen Jahren CDs veröffentlichen, hört das Ergebnis und ist enthusiastisch, will ein ganzes Album mit beiden Schwestern und den Amerikanern produzieren. In einem langen Prozess wird das Repertoire in Oslo erarbeitet.
«Natürlich gab es Herausforderungen», sagt Vahdat, für die es nicht die erste US-iranische Zusammenarbeit ist, zuvor hatte sie schon mit dem Bluesmann Mighty Sam McClain musiziert. «Gerade bei den langsamen, rhythmisch freien Eingangssequenzen, in der persischen Musik heißen sie Avaz, mussten wir sehr detailliert arbeiten. Aber solche Herausforderungen sind notwendig, ohne sie hätte das Resultat keine Bedeutung. Vom ersten bis zum letzten Treffen vor Aufnahmebeginn in der akustisch ausgezeichneten Osloer Kulturkirken Jakob vergingen zwei Jahre. Wir entdeckten immer neue Sounds, je besser wir uns kennenlernten. Zeit und Reife spielten eine große Rolle.»
Dies liegt auch ganz zentral daran, dass die delikaten Wechselwirkungen zwischen Poesie und Musik «erhorcht» werden mussten: Alle Stücke gehen auf Melodien zurück, die Vahdat im Geiste der persischen Klassik und Folklore erfand. «Ich schöpfe Neues aus diesen alten Tonleitern, passe sie meiner eigenen ästhetischen Denkweise an, meinem eigenen Ausdruck. Dabei arbeite ich auch mit regionalen Färbungen, wie etwa im Lied ‘Far Away Glance’, das auf Musik aus Khorasan zurückgeht», erklärt sie. Ihre Melodien transportieren die 800 Jahre alte Dichtung der Sufi-Lyriker Rumi und Hafez, aber auch zeitgenössische Verse von Mohammad Ibrahim Jafari, Atabak Elyasi und Forough Farrokhzad. Letztere hat eine Ausnahmestellung in der iranischen Dichtkunst inne, denn sie schrieb bereits vor 50 Jahren aus einer sehr weiblichen Perspektive heraus, ist also gerade heute, in der Ära der Restriktionen gegen Frauen in der iranischen Gesellschaft eine Symbolfigur. «Dabei haben die alten und die neuen Verse Vieles gemeinsam», meint Vahdat. «Auch Hafez hat schon Heuchelei angeprangert und den Missbrauch der Religion, um Menschen zu beherrschen.» Besonders begeistert sie der zweigesichtige, «schwebende» Charakter der Liebesgedichte: Physisches und Spirituelles mischt sich, konkrete Attribute, wie etwa die Haare der oder des Geliebten können auch eine Metapher für Göttliches sein.
«Meine Schwester und ich haben viele Jahre nach einem Weg dafür gesucht, wie wir Spiritualität und Liebessehnsucht in unserem Gesang wiedergeben können. Viele unserer Zuhörer sind ja keine Iraner, sie wissen nichts über diese Gedichte und sollen sie trotzdem verstehen. Ich glaube, auch das Kronos Quartet hat die spirituelle Stimmung in diesen Gedichten aufnehmen können, ohne unbedingt die Worte zu erfassen.» Und wie klingt das Ergebnis?
Wenn Mahsa und Marjan Vahdat rhythmisch freie, seelenvolle Vokal-Lamentationen singen, liefern die Streicher manchmal lediglich rauchige Bordune und Liegetöne, etwa in Farrokhzads „The Sun Rises“. An anderer Stelle kommt eine ausgefeilte Partitur mit Pizzicati und impressionistischen Harmonien à la Ravel zum Zuge („I Was Dead“). In „Vanishing Lines“ denkt man an einen Quartettsatz, wie er in der abendländischen Romantik gespielt wird. Und fast tänzerische Gesten hellen das ernste Repertoire in „Fate Astray“ auf. Belebend ist dabei immer der Wechsel zwischen den schwesterlichen Stimmen: Mahsa mit ihrem eher lyrischen Ton, der an der persischen Klassik geschult ist, Marjan, die regionale Farben fassen und Akzente imitieren kann – mit einem „furchtlosen Ausdruck“, wie es ihre Schwester nennt.
Eine intensive Zwiesprache zweier Kulturen, die im politischen Tagesgeschäft Erzfeinde sind. Was schließlich zum Titel der CD, Placeless, führt. Er beruht auf einem Rumi-Gedicht aus dem Diwan-e Schams-e Tabrizi, in dem der Sufidichter davon spricht, dass er sich keiner Religion zugehörig fühle, keiner geographischen Herkunft, weder der Erde noch dem Firmament. Er schließt mit dem berühmten Vers: „Mein Ort ist ohne Ort, meine Spur ohne Spur.“ Für Mahsa Vahdat spiegelt sich darin genau der Charakter dieses Projekts wider: „Es bedeutet, sich jenseits aller Grenzen aufzuhalten, keine Fesseln zu haben. Das ist von jeher das Konzept des Kronos Quartets und nun unserer gemeinsamen Arbeit. Auch für mich ist das wichtig, denn ich war während der letzten Jahre viel unterwegs, immer in Bewegung, da ich in meiner Heimat nicht arbeiten kann. Ja, meine Wurzeln liegen im Iran, aber ich kann eins werden mit Zuhörern überall auf der Welt. Der Ort, an dem ich singe, wird dann mein Zuhause und zugleich habe ich das Gefühl einer ‚Ortlosigkeit‘.“
Simin, du hast mehrfach betont, wie großartig du Tord Gustavsen findest, und dass mit dieser Zusammenarbeit ein Traum in Erfüllung geht. Was ist für dich das Besondere an seinem Spiel?
Er schafft es, auf eine natürliche Art und Weise sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er ist sehr leidenschaftlich und trotzdem oft reduziert, er traut sich das. „Trauen“ verbindet man ja oft mit einer sehr wilden Art zu spielen, aber ich finde, man muss es auch erst mal wagen, sich auf kleine Melodien, auf einen einzigen Ton konzentrieren, ohne das Gefühl zu haben, man müsste mehr machen. Ich glaube, es geht ganz vielen Musikern so, wenn sie sehr virtuos sein möchten, dass das auch ein Hindernis sein kann. Tord kann alles spielen, es mangelt ihm nicht an Virtuosität. Er fühlt sehr schnell, worum es ihm geht, was ist der Kern des Stückes, des Sounds. Es ist ein tolles Gefühl, mit einem Pianisten zu spielen, der jeden Atemzug von einem mitnimmt und trotzdem Freiraum gibt. Tord hat ja mit sehr vielen Sängerinnen gespielt und auch schon als er jung war viele Kirchenchöre begleitet, er ist also sehr stimmenorientiert. Er kann meiner Phrasierung genau folgen, er fühlt auch genau, wann es Zeit ist nah zu sein und wann, ein Stück zurückzugehen. Weiterlesen →