Die Story von Joyce und Claus

Joyce & Mauricio Maestro in den Columbia Studios, New York 1977 (credits: Raymond Ross)

Angehender Brasil-Star trifft weltberühmten deutschen Produzenten in New York. Das Resultat: Eine legendäre Session in den Columbia-Studios. Doch die Aufnahmen erscheinen nie, gewinnen mythische Züge. Stoff für eine hochspannende Unterhaltung mit Joyce Moreno – zumal diese Sessions nun endlich, nach 45 Jahren (Natureza, Far Out) veröffentlicht worden sind.

Am 10.1.2023 wird Joyce zu ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag gewürdigt in der Jazz Collection von SRF 2 Kultur, wo ich ab 21h Gast beim Moderator Jodok Hess sein darf.

Wer 1977 auf der New Yorker East Street im total angesagten Disco-Schuppen „Hippopotamus“ tanzen ging, konnte gleiche nebenan einen neueröffneten Chill Out-Club namens „Cachaça“ entdecken. Stolperte man da rein, stand vielleicht gerade eine junge Brasilianerin auf der Bühne, flankiert von ein paar Landsleuten, zu denen der damals schon recht bekannte Perkussionist Naná Vasconcelos zählte. „Das war ein todschicker Club, und wir, ein Haufen wilder Youngsters, waren gleich für ein paar Monate gebucht“, erinnert sich Joyce Moreno, die damals freilich noch schlicht unter „Joyce“ firmierte. 1968 hatte sie mit ihrem Debütalbum in Rio das Zeitalter der Bossa Nova-Musen beendet, die nur das sangen, was ihnen die Männer auf den Leib schneiderten.

Ein Skandal, dass da plötzlich eine junge Frau aus weiblicher Perspektive selbst textete, und ihre Protesthaltung gegenüber dem Militärregime machte ihr das Leben als Musikerin nicht leichter. Jede Verpflichtung im Ausland kam da als Befreiung. In ihrer NY-Band trommelt João Palma, unter anderem Session-Mann von Frank Sinatra und Antônio Carlos Jobim – und als der die Songs hört, die Moreno im Jahr zuvor mit dem Sänger und Multiinstrumentalisten Maurício Maestro aufgenommen hatte, hat er einen Geistesblitz: „Das sollte unbedingt mal Claus hören.“ Claus? Will heißen: der Deutsche Claus Ogerman, jener legendäre, 2016 verstorbene Produzent, Arrangeur und Dirigent, der etliche Alben von Jobim mit dezenter, orchestraler Räumlichkeit veredelt hatte, darüber hinaus mit einer Starriege von Billie Holiday bis Bill Evans arbeitete.

Ogerman erwärmt sich sofort für das Material von Joyce Moreno und beraumt in den ehrwürdigen Columbia-Studios eine Session an. „Ich starb dafür mit Claus zu arbeiten, er war für mich eine Art Held!“, so Joyce. Kein Wunder, dass sie die Warnung ihres Freundes João Gilberto in den Wind schlägt. „Er war der Ansicht, Claus hätte sein gerade erschienenes Album ‚Amoroso‘ ruiniert, da die tiefen Frequenzen seiner Stimme nicht zu hören seien, er bezeichnete ihn gar als ‚Taugenichts‘. Aber so war João eben, ein schwieriger, aber lustiger Charakter. Ich denke, er war einfach eifersüchtig, dass Claus jetzt mit mir arbeiten wollte. Er schlug sogar vor, dass er selbst mein Album produzieren wolle. João Gilberto als Produzent, kannst du dir das vorstellen? Nie im Leben!“

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. In der Band, die Joyce zu Columbia mitbringt, spielt neben Gitarrist und Co-Autor Maestro, Vasconcelos und Palma auch ihr zukünftiger Gatte, der Drummer Tutty Moreno, den sie gerade kennengelernt hat. Die Amerikaner Buster Williams (b) und Jeremy Steig (fl) werden hinzugebucht. Was dann passiert, ist recht überraschend: „Claus griff überhaupt nicht ein“, erzählt Joyce. „Er war super respektvoll gegenüber uns und gab uns völlige Freiheit. Der Beweis dafür ist die elfeinhalbminütige Version von ‚Feminina‘. Wir wussten im zweiten Teil, der Jam-Sektion nicht, wie wir zum Ende kommen sollten, und er ließ es einfach laufen. Was du heute hörst, ist das Ergebnis eines einzigen Takes, live, ohne Overdubs, so, wie ich bis heute gerne aufnehme.“ Genau wie beim Stück „Pega Leve“ verspricht er Joyce, das Resultat sei ja perfekt, er habe nichts mehr daran zu ändern. Doch Ogerman wäre nicht Ogerman, hätte er nicht noch hier wie in den anderen Stücken allerhand Zutaten eingebracht: Nachdem die Brasilianer das Studio geräumt haben, bestellt er Michael Brecker, Mike Manieri und Urbie Green für Tenorsax, Vibes und Posaune ein, ersetzt Steigs Flötensoli durch Joe Farrell, und er textiert in einigen Tracks dann mit dem für ihn so typisch pastellfarbenen Streichorchester.

Nicht bei all diesen Eingriffen wird Joyce um ihr Einverständnis gefragt. Sie ist aus familiären Gründen mittlerweile nach Rio zurückgekehrt, bleibt mit Ogerman aber in Verbindung. Der aber will vor einer Veröffentlichung weitere Veränderungen durchsetzen. Zwei der sieben Stücken stammen aus der Feder von Maurício Maestro, melancholische Balladen im Stil der Clube da Esquina-Bewegung um Milton Nascimento. Joyce soll Maestros Leadgesang ersetzen. Und überhaupt: alle Gesangsspuren noch einmal neu auf Englisch einsingen. Eine rote Linie. „Er schlug mir als Übersetzer Michael Franks vor“, erklärt Joyce. „Aber was wäre von meinen Texten dann noch übriggeblieben? In ‚Feminina‘ geht es schließlich um den Dialog von Tochter und Mutter, die sich darüber unterhalten, was ‚Weiblichkeit‘ heißt. Ein Mann hätte das Thema völlig verändert.“ Und dann verweist sie darauf, was ihrem guten Freund Jobim passierte, der seine Bossa-Hits von Ray Gilbert und Norman Gimbel anglisieren ließ. „Auf eine Art war Jobim klüger, denn so konnte seine Musik um die ganze Welt reisen. Aber irgendwann sagte er zu mir: ‚Hätte ich das Geld, würde ich ‚The Girl From Ipanema‘ zurückkaufen.‘ Denn Gimbel, ein Typ, der übrigens nie in Ipanema war, verdiente vielmehr dran als der Urheber selbst.“

Als unüberbrückbar erweisen sich die Differenzen zwischen Ogerman und Moreno, die Sessions bleiben in der Schublade. Doch die Prima Materia aus NY, großartige Kompositionen wie „Feminina“, „Misterios“ oder „Moreno“, nimmt Joyce Anfang der Achtziger in Rio neu auf, sie begründen ihren Ruhm bei der Rare Groove-Gemeinde der 1990er. Unterdessen gelingt es selbst Verve, wo Moreno später unter Vertrag steht, nicht, einen Deal mit Ogerman hinzubekommen, der irrsinnige Summen für eine Veröffentlichung verlangt. Nur Christian Kellersmann von Universal kann sich die Rechte zweier Songs (das hymnische, im 7/4-Takt kreisende „Descompassadamente“ und „Feminina“) für die Kompilationen The Man And The Music und Trip To Brazil sichern.

„Dass diese Aufnahmen jemals komplett rauskommen, daran habe ich große Zweifel!“, sagte Joyce noch 2005, als wir sie für die Jazz thing-Homestory besuchten. Jetzt, siebzehn Jahre später, kann sie auf dem gleichen Sofa sitzend den Release verkünden. „Es ist der Beharrlichkeit von Joe Davis meines englischen Labels Far Out zu verdanken. Joe hat immer dafür gekämpft.“ Unter idealen Umständen erblicken die Natureza-Sessions das Licht der Öffentlichkeit nicht. Far Out hat die Musik von einem Cassetten-Mitschnitt runtergezogen, der in Morenos Besitz war, eine Feinabmischung war unmöglich, wohl aber ein Remastering mit den Optionen des Jahres 2022. Das reicht, um beim Anhören eine Frische und Lebendigkeit rüberzubringen, bei der man das Fehlen einer klaren Spurentrennung gerne in Kauf nimmt. Welche Alternativen ihrer Songs gefallen nun Joyce selbst besser? Ihre Antwort ist diplomatisch: „Die Versionen aus Rio klingen klarer, keine Frage. Aber die New Yorker Aufnahmen fangen einen ganz besonderen Moment in meiner Karriere ein.“ Der Mythos, er wurde endlich zum zweiten Leben erweckt.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #146

am 10.1.2023 wird Joyce zu ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag von mir gewürdigt in der Jazz Collection von SRF 2 Kultur, wo ich ab 21h Gast beim Moderator Jodok Hess sein darf.

Joyce Moreno: „Descompassadamente“
Quelle: youtube

Neo-Soul-Flow aus London

Als Mitmusikerin von Prince machte sie zuletzt von sich reden, dann war sie fünf Jahre weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Bis sie sich im Februar mit einem Paukenschlag zurückmeldete: Mit dem BBC Symphony Orchestra kleidete Lianne La Havas ihr Repertoire in ein mächtiges, symphonisches Gewand. Zu hören auch einige neue Songs, Vorboten ihres dritten, selbstbetitelten Opus das jetzt erscheint (VÖ: 17.7.). Neue Band, neue Einflüsse von Radiohead bis Joni Mitchell und ein neuer Neo Soul-Flow: Zeit für ein telefonisches Update mit der 30-jährigen Südlondonerin.

„Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt, hatte noch niemals zuvor mit einem Orchester gespielt“, erinnert sich La Havas an ihren Abend mit dem Symphonieorchester. „Aber dann: Wow! Das hat mir eine so große Kraft verliehen, fühlte sich so befreiend an und ich war einfach extrem glücklich, mit einem der tollsten Klangkörper der Welt meine Songs zu spielen.“ „Befreiung“ ist tatsächlich auch der Überbegriff für ihr drittes Studiowerk, das sie in L.A. ersonnen, aber in London eingespielt hat.

Es ist mittlerweile schon acht Jahre her, dass die Tochter einer Jamaikanerin und eines Griechen in die Soulwelt mit ihrem Debüt „Is Your Love Big Enough?“ hineinexplodierte. Ihre sonnengetränkte und frische Ausstrahlung setzte sie in trotzigen Soulhymnen mit querstehenden Gitarrenriffs, genauso aber in charmanten, fast jazzigen Miniaturen um. Der Nachfolger „Blood“ peilte coolen R&B an, hatte aber eine etwas glatte Oberfläche. Beide Welten hat Lianne La Havas auf dem dritten Werk austariert. „Das erste Album war experimentell, sprang zwischen allen Genres, die ich mag, hin und her, das zweite war produzierter. Dieses neue Werk liegt in der Mitte, klingt sehr live, hat viele Gitarren, großen Gesang, berücksichtigt aber auch alle meine Studioideen“, analysiert La Havas. Selbstbewusst, aber nicht abgeklärt tönt „Lianne La Havas“. Viele der Stücke wurden in L.A. ersonnen, ihrer Lieblingsstadt zum Abhängen. Eingespielt wurde aber in London, mit Musikern, die von ihrem langjährigen Produzenten und Keyboarder Matt Hales zusammengestellt wurden, aus verschiedensten Bereichen, von Pop über afrikanischer Musik bis zu Jazz, Soul und HipHop.

„Ich wollte zunächst mal austesten, wie ich mit dieser neuen Band im Studio arbeiten kann, dafür nahmen wir uns ‚Weird Fishes‘ von Radiohead vor, einen Song, den ich schon ewig auf der Bühne gespielt hatte“, sagt La Havas. „Es war perfekt! Alle meine Hoffnungen haben sich erfüllt, denn jeder brachte seine Individualität ein. Diese Jungs haben mir wirklich geholfen, meinen Sound zu definieren. Es ist nicht einfach britischer Soul, sondern es klingt durch und durch nach mir.“ Ermutigt durch diese Synergieeffekte, begann La Havas Lyrics zu schreiben, die sehr intim von all dem erzählen, was sie durchlebte während der letzten Jahre. Vom Wiedergewinnen des Selbstvertrauens nach einem Tournee-Burnout im hymnischen „Bittersweet“. Von der liebevollen Erinnerung an ihre verstorbene Großmutter, deren Lebensweisheiten sie mit dem hymnischen „Sour Flower“ ein Denkmal gesetzt hat. Und von neuer Liebe, die sich in „Read My Mind“ mit elegant-süffigem Neo-Soul-Flow die Bahn bricht.

Sie tut das mit einer Stimme, die immer noch ihr unverkennbares Vibrato besitzt, das nur Lianne La Havas hat, die sich aber auch verändert hat: „Meine Artikulation ist viel stärker geworden. Ich lasse keine Töne mehr aus, bin nicht mehr so nachlässig oder zu relaxt. Hoffentlich wird die Stimme, wie sie jetzt ist, für lange Zeit meine Stimme sein!“ Lianne La Havas souliger Planet hat auf diesem dritten Opus auch ein paar überraschende Satelliten eingefangen. „Green Papaya“ ist so ein Song, der unweigerlich an die kanadische Songwriterin Joni Mitchell denken lässt. Und tatsächlich: „Ich dachte immer, ich sei ein großer Joni-Fan, aber während der Aufnahmen lernte ich erstmals ihr Album ‚Hejira‘ kennen. Mir gefiel, wie sie und der Bassist Jaco Pastorius da ganz nackt, ohne Beats zu hören sind. Das inspirierte diesen Song, der ebenfalls ganz ohne Drums auskommt.“ Das ruhige, psychedelisch-folkige „Courage“ hat sie ihrer Liebe zum Brasilianer Milton Nascimento zu verdanken, es ist eine Auslotung der süffigen tropischen Harmonien der 1970er.

Und schließlich kann man immer wieder, in den Gesangsschichtungen und den Gitarrengrooves, auch ihren Mentor Prince durchhören. „Sein Tod war ein Schock für mich und es vergeht keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke“, blickt La Havas zurück. „Jeder spricht von seiner rätselhaften Natur, aber ich entdeckte eine sehr liebevolle Seite an ihm und seinen hartnäckigen Willen, Bewusstsein und Kreativität immer noch mehr auszuweiten. Er unterbrach diesen Prozess in keiner Sekunde. Das kristallisierte sich alles in seiner Forderung heraus: ‚Sei du selbst, und rechtfertige dich niemals dafür.‘ Für mich ist das sein Vermächtnis.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 15.07.2020

Lianne La Havas: „Can’t Fight“
Quelle: youtube

Museumsfahrt im blauen Zug

Milton Nascimento
Kaufleuten Zürich
19.06.2019

Einige der ergreifendsten Momente meiner Brasilien-Rezeption verdanke ich Milton Nascimento. Dazu zählen besonders seine lyrischen Songs der beiden frühen Clube da Esquina-Alben von 1972 und 1978. Als bekannt wurde, dass der mittlerweile 76-Jährige genau diese Songs auch in Europa noch einmal auf die Bühne bringen würde, war die Freude sehr groß. Es ist immer ein zweischneidiges Schwert, wenn eine Legende nach Jahrzehnten nochmals in die Frühzeit der Karriere abtaucht, es kann zur selbstreferenziellen Cover-Show geraten, doch im besten Fall kann überraschend Neues aus dem alten Material erstehen. Wie hat das in Zürich funktioniert?

Ganz am Anfang müssen wir über die Gesundheit des Künstlers sprechen: Milton war schon lange von Krankheiten geplagt, musste in den letzten Jahren auch mal Konzerte abbrechen. Auch im Kaufleuten ist gleich klar, dass es nicht zum Besten um ihn steht. Er wird vom zweiten Sänger und Gitarristen Zé Ibarra auf den Hocker geleitet und bleibt dort die ganze Show über mit dunkler Brille sitzen. Seine Stimme ist brüchig und nicht mehr trittsicher, doch er war nie ein Meister der reinen intonation. Was in seinen Vocals zählt, ist die hohe Kunst der Innerlichkeit, der fast gebetshaften Schmerzlichkeit, die in Hymnen wie „Claréia“ immer noch phasenweise durchleuchtet.

Das Septett, das Milton für diese Retro-Show zusammengestellt hat, macht seine Arbeit zweckdienlich, in den richtigen Momenten tritt die E-Gitarre von Wilson Lopez mit nachdenklich mäandernden Soli hervor, wie das einst Toninho Horta tat, Widor Santiago setzt mal folkloristische Akzente mit Flöte, mal geht er mit Sax – mehr als das die Clube da Esquina-Band je tat – aufs jazzige Parkett. Der Anfang ist holprig, gerade der Bandleader muss sich erst finden, doch ab dem rhythmische Haken schlagenden „Cravo E Canela“ stimmt die Synergie der acht Akteure. Milton baut einen spanischsprachigen Block ein, zeigt sich als ein Cancionero, der immer den ganzen südamerikanischen Kontinent ansprach und findet besonders hier mit der Band zu einer effektvollen, rockig-dramatischen Steigerung.

In der Mitte verlässt Milton zeitweilig die Bühne, und als Glockenschläge von der Percussion kommen, ist klar, dass Zé Ibarra die Leadstimme in „San Vicente“ übernimmt: Dieses genauso ergreifende wie mysteriöse Lied, getragen von Anleihen an Kirchengesänge, hätte der Altmeister nicht mehr gepackt. Ibarra singt die innige Hymne mit einer sehr reinen, weichen, fast zu geschmeidigen Stimme, die in der Música Caipira, Brasiliens schmalzigem Country-Genre, auch gut aufgehoben wäre. In anderen Stücken wechselt er sich mit Milton strophenweise ab, doch die kantige, poetisch dadurch umso charakterstarke Stimme des ehemaligen Esquina-Vokalpartners Lô Borges kann er nicht ersetzen.

Als Milton zurückkehrt, kann das Septett nochmals aus dem grandiosen Katalog der frühen Songs schöpfen: „Nuvem Cigana“ mit seinen eigentümlichen Akkordfolgen und „Paisagem Da Janela“ reihen sich aneinander, schließlich das träumerische „Trem Azul“, das vom Publikum – mit hochprozentigem brasilianischem Anteil – begeistert mitgesungen wird. Der „blaue Zug“, er bricht hier für viele ältere Zuhörer zur Museumsfahrt in die Siebziger auf. Leider ist die Luft ab da raus: „Maria, Maria“ und das zweite schöne Eisenbahnlied über die stillgelegte Strecke, „Ponto Final“, kann Milton nur noch erschöpft anstimmen. Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck: Milton Nascimento, nicht mehr auf der Höhe seiner Kräfte, hat den Versuch gewagt, den Kern seiner Schaffenskraft nochmals hochleben zu lassen. Eine stabile Band und viel Herzblut des Hautpakteurs haben einen meist würdigen Nostalgie-Abend auf die Bühne gebracht, bei dem das Ursprungsmaterial kaum angetastet wurde – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

© Stefan Franzen

Brasilien nach dem Schock


Zeichnung: Thereza Nardelli Silva

Nach der Wahl des rassistischen, frauenfeindlichen und homophoben Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten Brasiliens am vergangenen Sonntag ist das Entsetzen unter Intellektuellen und Künstlern groß. Musiker wie Caetano Veloso, Chico Buarque und Milton Nascimento haben während den 21 Jahren der Militärdiktatur (1964-85) unter Drohungen, Zensur und Exil gelitten und erleben nun im fortgeschrittenen Alter, wie einer, der diese Zeit verherrlicht, an die Macht kommt. Vor der Wahl haben sie alle sich klar und öffentlich gegen Bolsonaro und für den Kandidaten der Arbeiterpartei, Fernando Haddad, positioniert. Als Warnung vor einer Wiederholung der Ereignisse veröffentlichte Nascimento etwa ein Dokument, das den Eingriff der Zensurbehörde in seine Texte dokumentiert.

Auch die ein bis zwei Generationen jüngeren Musiker haben sich organisiert: Federführend bei den Bolsonaro-Gegnern war hier der Songschreiber Rodrigo Amarante, der singend nochmals einen letzten Appell für die Demokratie und gegen eine Stimmenabgabe aus Furcht ans Volk richtete. Besonders flammend gegen Bolsonaro und für Freiheit und Vielfalt hat sich Daniela Mercury geäußert, die dafür das Lied „Pagode Divino“ geschrieben hat. Mercury betonte vor der Wahl, dass sie unabhängig vom Resultat mit ihrer Kunst weiterhin für das kämpfen werde, woran sie glaube, und veröffentlichte nach dem Sieg die Friedensbotschaft „Niemand wird des Anderen Hand loslassen“.

Auch der/die bekannteste transsexuelle Musiker*in Brasiliens, Pabllo Vittar, ist ungebrochen und kündigte, untermalt von einem Regenbogenfoto, an: „Ich leiste Widerstand“. Unterdessen machen sich in den „sozialen Medien“ Anfeindungen gegen die Bolsonaro-Gegner breit: Veloso, Nascimento und Vittar wurde unter anderem geraten, das Land zu verlassen. Die Sängerin Preta Gil, Gilberto Gils Tochter fasst die Stimmung nach der Wahl für viele Kolleg*innen zusammen: „Ein trauriger Tag in unserer Geschichte, aber ich habe viele Dinge nicht verloren: Meine Würde, meine Kraft, meinen Charakter. Wir werden weiter nach vorne blicken und in unserem Kampf zusammenstehen.“

Angesichts der jüngsten Ereignisse in Brasilien kommen mir Zeilen des großen Songschreiber-Doppels João Bosco und Aldir Blanc in den Sinn, das mit „O Bêbado E A Equilibrista“ den widerständischen Kräften in der Diktatur 1979 eine feinsinnige Hymne lieferte: „Die Hoffnung tanzt mit einem Schirm auf dem Drahtseil, und mit jedem Schritt kann sie sich verletzen. Pech gehabt, doch die balancierende Hoffnung weiß stets, dass im Leben eines Künstlers die Show weitergehen muss.“ (der komplette Text mit englischer Übersetzung hier) Ob solche Metaphern demnächst wieder in der Musik Brasiliens nicht aus poetischen, sondern aus politischen Gründen gedichtet werden müssen? Elis Regina hat das Lied damals unsterblich gemacht.

Elis Regina: „O Bêbado E A Equilbrista“
Quelle: youtube

Milton 75

Ein Geburtstagsgruß an den Mann der 1000 Töne: Milton Nascimento wird heute 75 Jahre alt.

Vor wenigen Tagen hat mich Jodok Hess vom Schweizer Radio SRF 2 Kultur eingeladen, um die Jazz Collection über den großen Brasilianer zu gestalten. Das Porträt der Ikone der Música Popular gibt es hier online zu hören.

44 Jahre nach Erscheinen des wegweisenden Albums Milagre Dos Peixes hat sich Nascimentos Landsmann Tiganá Santana derweil an eine Neuinterpretation gewagt. Am 10.11. wird er sie im Rahmen des No! Music-Festivals im Berliner Haus der Kulturen der Welt auf die Bühne bringen.

Milton Nascimento: „Nada Será Como Antes“ (live in Switzerland)
Quelle: youtube

(he)artstrings #9: Leuchtkraft aus Minas

Milton Nascimento
„San Vicente“ (Milton Nascimento/Fernando Brant)
(aus: Clube Da Esquina, 1972)

Amerikanisches Herz
ich erwachte aus einem seltsamen Traum
ein Geschmack von Glas und Schnitt
von Schokolade
im Körper und in der Stadt
ein Geschmack von Tod und Leben.

Das Warten in der immensen Schlange,
und der schwarze Körper vergaß,
dass er in San Vicente war
die Stadt und ihre Lichter
amerikanisches Herz
ein Geschmack von Glas und Schnitt.

Wer unter Zensur leidet, der greift zu Bildern, die die Behörden nicht verstehen können, deren Botschaft bei den aufmerksamen Hörern aber ankommt. Fernando Brant und Milton Nascimento haben als Teil der Clube da Esquina-Bewegung in Minas Gerais Anfang der 1970er den Alltag unter der brasilianischen Militärdiktatur in rätselhafte Visionen eingewoben und eine Musik geschaffen, die an Barock und Progressive Rock à la frühe Genesis zugleich erinnert. „San Vicente“ ist für mich das stärkste Lied von dieser ersten Clube da Esquina-Platte – weil es mit seinem inbrünstigen, flehenden, anrufenden Ton unter allen Tracks herausragt und in nicht einmal drei Minuten die ganze Traurigkeit, Resignation und Freiheitssehnsucht einfängt, die ein sensibler Künstler unter dem permanenten Korsett eines menschen- und kunstverachtenden Regimes empfinden muss – und weil es trotzdem dieser täglichen Absurdität ein Stück Musik von spiritueller Leuchtkraft entgegensetzt.

Feliz aniversário, Milton Nascimento, zum 74. Geburtstag.

Milton Nascimento: „San Vicente“
Quelle: youtube

Klick hier zum Hintergrund von (he)artstrings

Genesis in Belo Horizonte

graveola - camaleo borboletaGraveola
Camaleão Borboleta
(Mais Um Discos)

Wenn heute die olympischen Spiele in Rio zu Ende gehen, wird sich das mediale Interesse wieder schnell von Brasilien abwenden. Deshalb ein kleiner Beitrag gegen die sportgesteuerte Medienlandschaft. Aus der Metropole Belo Horizonte kamen seit Milton Nascimento schon immer sehr tiefgehende Beiträge zum brasilianischen Rock und Pop. Graveola, ein Kollektiv aus neun Musikern, setzt diese Tradition fort und baut auf dem dritten Werk die abenteuerlustige Mixtur in der Nachfolge der Tropikalisten aus. In ihren Songs siedeln Melodien von sonnigem Überschwang neben den erdigen Rhythmen des Nordostens („Maquinário”), ein nonchalanter Tango-Rock wird mit schrägen Bläsern und verstimmt blubbernder Orgel gewürzt („Aurora”). Was wie ein harmloser Reggae beginnt („Tempero Segredo”), wechselt im Laufe von vier Minuten zur melancholischen Ballade und in einen querstehenden Experimentalblock, und auch die Sambavariante aus Bahia wird mit stolzen Türmen aus E-Gitarren geschmückt. Viele musikalische Welten stecken hier collagenhaft in jedem Song. Wären Genesis in den späten Siebzigern in Brasilien gestrandet, sie hätten sich vielleicht bald so angehört.

Graveola: „Lembrete“ live
Quelle: youtube

 

Side tracks #17: Stillgelegt

ultimo trem plakat

flagge-brasilien Milton Nascimento: „Ponta De Areia“
(aus: Ultimo Trem, 1980)

Der Komponist und Sänger Milton Nascimento ist am 6. Mai vom Berklee College of Music mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden, nach allem, was ich herausfinden konnte als erster Brasilianer.

Anlass für mich, seine berührende Ballade aus dem Ballett Ultimo Trem nochmals vorzustellen: Milton hat hier die unwiederbringliche Zeit porträtiert, in der seine Heimat Minas Gerais noch erfüllt war vom Heulen der Loksirenen und dem geschäftigen Leben an den Bahnhöfen.  „Die Militärregierung hat die Strecke stillgelegt und so begann der Niedergang der ganzen Region. Ich liebe Zugfahrten, aber heute gibt es in Brasilien kaum noch Züge. Immer wenn ich in den USA und Europa bin, begebe ich mich auf eine Eisenbahnfahrt, je länger, je besser“, sagt Milton.  „Ponta De Areia“ hat er der kleinen verlassenen Endstation der Linie Bahia-Minas am Atlantik gewidmet, wo heute keine Maria Fumaça, keine Dampflok mehr für die Mädchen, Blumen Fenster und Hinterhöfe mehr singt.

Milton Nascimento: „Ponta De Areia“
Quelle: youtube

und eine Bühnenversion:

Quelle: youtube

Side tracks #16: Der blaue Zug

flagge-brasilienLô Borges: „Trem Azul“
(Orig.: Clube Da Esquina, 1972)

Unter den vielen brasilianischen Eisenbahnliedern ist dieses hier mein Allerliebstes. Der Canção über den blauen Zug stammt aus der Feder des Songwriters Lô Borges, einer der Gründer der Clube da Esquina-Bewegung. Diese Bewegung aus Belo Horizonte, der auch Milton Nascimento angehörte, verband bildgewaltige, teils psychedelische Poesie mit Art Rock à la Genesis und der lyrischen Grundstimmung, die der Musik des Bundesstaates Minas Gerais so oft zu eigen ist. Ob Borges einen bestimmten blauen Zug gemeint hat? Das Nachrichtennetzwerk O Globo meint, dass es dieser hier war:

trem azul 2Foto: Márcia Foletto

Dieser Trem Azul verkehrte bis in die Neunziger hinein im Staat Rio de Janeiro  als Touristenbahn zwischen Miguel Pereira und Conrado. Seit Oktober 2015 soll er laut O Globo seinen Betrieb wieder aufgenommen haben. Ein doppelter Anlass, dieses Lied zu würdigen, denn nicht nur ist der Zug wieder in der Spur, Lô Borges wird heute auch 64 Jahre jung.

Der „Trem Azul“ erschien im Original auf dem ersten Clube da Esquina-Album im Jahr 1972 und wurde in der Folge von vielen weiteren Künstlern der Música Popular aufgegriffen, bis hin zu Tom Jobim und Elis Regina, die ihre große Liveshow 1981 sogar unter diesem Titel laufen ließ.  Der Refrain von Borges‘ Kollegen Ronaldo Bastos („du nimmst den blauen Zug, die Sonne im Kopf, die Sonne nimmt den blauen Zug, dich im Kopf“) gehört zu den schönsten der brasilianischen Popmusik.

Flavio Venturini, Lô Borges und Beto Guedes: „Trem Azul“ (live 1999)
Quelle: youtube

„Ich bin ein ballad guy“

Wenn nach wochenlanger Konzertdürre urplötzlich an allen Orten Deutschlands gleichzeitig hörenswerte Shows über die Bühne gehen, von denen man dann zwangsläufig die Hälfte verpassen muss, kann das nur eines heißen: Der Juli steht vor der Tür. Das Stimmen-Festival Lörrach hat sich unter seinem neuen künstlerischen Leiter Markus Muffler erkennbar von der Musik aus aller Welt abgewandt. Trotzdem präsentiert man im Dreiländereck einige Programmpunkte, die sich wohltuend vom üblichen Festivalbetrieb abheben.

Dazu gehört in allererster Linie der Auftakt am 2.7. mit Ivan Lins, einem der größten Songwriter der Welt (sorry, schon wieder so ein Superlativ, aber ich bin mit dieser Meinung nicht allein). Der Lokalkolorit-Clou: Lins hat auf seiner CD „Cornucopia“ mit dem brasilophilen Freiburger Musikprofessor Ralf Schmid und der SWR Big Band kollaboriert. Was es damit auf sich hat, im nachfolgenden Interview, das ich mit Lins geführt habe, als der völlig überraschend 2011 in Freiburg eintrudelte.

Und an dieser Stelle noch etwas verspätet:
Bom aniversário, Ivan!
Der Mann ist vorgestern unfassbare 70 geworden.
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