Kaum fassbar: Heute vor 40 Jahren wurde diese zeitlose Hymne der Popmusik veröffentlicht. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als SWF 3-Moderator Bernd Mohrhoff den Einstieg in die UK-Hitparade auf Platz 30 mit dem Kommentar „dieses Mal ganz schön zackig“ vermeldete. Kate Bushs zweite Single-Auskopplung aus Hounds Of Love packte mich sofort, während ich mit dem Erstling „Running Up That Hill“ etwas länger gefremdelt hatte. „Cloudbusting“, die Story um den Psychoanalytiker Wilhelm Reich und seinen Sohn Peter, gehört bis heute zu den Top 5 meiner Kate Bush-Songs.
Vor zehn Jahren habe ich schon einmal einige Cover- und Sample-Versionen zusammengestellt, viel Anhörenswertes ist seitdem nicht dazugekommen. Unten sind die originellen Varianten des Songs, die übrigblieben – inklusive Kates eigener Live-Version aus dem Hammersmith Apollo, die ich im September 2014 selbst live miterleben durfte.
Sef (Marokko/Niederlande): „Lichaam Is Een Club“
Quelle: youtube
Wenn es um einen Kontrabass ging, der grenzüberschreitend und global unterwegs war, dann gab es im UK seit den 1960ern eine Persönlichkeit, die unangefochten an der Spitze stand: Danny Thompson. Sein 160 Jahre alter Bass trug auch einen Namen, liebevoll nannte Thompson die auf Hunderten von Aufnahmen zu hörende viersaitige Lady „Victoria“. Am 23. September ist der Musiker im Alter von 86 Jahren im südenglischen Rickmansworth gestorben.
Danny Thompson war in den 1960ern bereits Mitglied bei Alexis Korners Blues Incorporated, beim Tubby Hayes Quartet, spielte mit Ginger Baker und John McLaughlin. Ein einziges Mal griff er zum E-Bass, als Roy Orbison ihn 1963 für eine Tour verpflichtete, auf der die Beatles den Support Act gaben. 1968 steuerte er den Bass zu Cliff Richards Grand Prix-Beitrag „Congratulations“ bei. International bekannt wurde er als Gründer der Band Pentangle an der Seite der Gitarristen John Renbourn und Bert Jansch, ab 1967 verband die Gruppe britische Folkmusik mit Blues, Jazz und Barock-Anleihen. Ihr gehörte er bis 1973 an und war auf der stilbildenden LP-Quadrologie „The Pentangle“, „Sweet Child“, „Basket Of Light“ und „Cruel Sister“ mit von der Partie. In den Achtzigern und nochmals für eine Reunion 2008 kehrte er zurück zu Pentangle. Im Folk spielte er außerdem mit dem Sänger und Gitarristen John Martyn, mit dem Folkblues-Innovator Davey Graham, der Incredible String Band sowie mit den Songwritern Nick Drake, seinem – nicht verwandten – Namensvetter Richard Thompson (Fairport Convention) und der Grande Dame des englischen Folksongs, June Tabor.
Einige Ausflüge machte Thompson auch in den Pop: 1982 und 85 steuerte er Basslinien für Kate Bushs Alben „The Dreaming“ und „Hounds Of Love“ bei, stand in Diensten bei Talk Talk und David Sylvian. Erst 1987 erschien mit „Whatever“ sein erstes Soloalbum. Wenig später offenbarte er in mehreren Kollaborationen sein Faible für globale Klänge. Diese Facette seiner Karriere begann mit dem Projekt Songhai, in dem der malische Kora-Virtuose Toumani Diabaté und die spanische Flamencogruppe Ketama über seinen melodischen Basslinien zusammenfanden. Thompson spielte mit der chilenischen Formation Incantation und arbeitete in Dizrhythmia mit dem indischen Perkussionisten Pandit Dinesh. Seine weltumspannende Perspektive hatte auch Einfluss auf seine Tongebung im Britfolk, wie etwa die Tracks „Hopdance“ oder „Basket Of Eggs“ verraten.
Mit Danny Thompson geht ein Großer der scheuklappenlosen englischen Folkszene, der sein warmes und virtuoses Bass-Spiel stets in den Dienst des Songs gestellt hat. Kate Bush schrieb in ihrem Nachruf: „Man hat nie nur mit Danny gearbeitet, sondern auch mit seinem Kontrabass Victoria. Zusammen waren sie die faszinierendsten Geschichtenerzähler – erdig und wild. Danny war der süßeste, liebste Mann und ein echter Charakter. Ein seltener und besonderer Schatz. Danke, Danny, dass ihr, du und Victoria, Feuer und Flamme wart für die Arbeit. Ich werde dich so sehr vermissen.“
Refugien, Rückzugsorte, Fluchtpunkte – gerade in unserer krisenbeladenen Zeit sind sie gefragter denn je.
Auch die Musikgeschichte kennt natürlich Refugien: Komponist*innen verkriechen sich gerne in spartanischen Häuschen oder genießen Waldeslust und Inselglück, Pop- und Weltmusiker*innen graben sich in Studios in der ländlichen Isolation ein. Als Refugium kann aber auch eine prächtige Villa oder eine steinerne Festung dienen.
Die Musikstunde begibt sich auf Zufluchtssuche zwischen dem brasilianischen Rio und dem norwegischen Bergen, zwischen Mallorca, Massachusetts, dem Iran und dem Wörther See. Mit Musik von u.a. Edvard Grieg, Sergej Rachmaninoff, Paul Hindemith, Kayhan Kalhor, Kate Bush, Joni Mitchell, Beirut, Etta Scollo und Gustav Mahler.
Mundschutz und Mindestabstand bestimmen seit März unseren Alltag. Die Sehnsucht nach freiem Durchschnaufen, nach sinnlicher Erkundung der Umwelt steigt. Auch deshalb darf ich euch zu dieser ganz besonderen Musikwoche im Südwestrundfunk einladen.
„Der Atem des Himmels – eine musikalische Geschichte der Düfte“
SWR 2 Kultur, 25. – 29.05.2020, jeweils 09h05 – 10h
„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten. In der Kunst ist die Parfümerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik“, bemerkte einst Jean Cocteau. Zu welchen Liedern, Chansons, Songs, Symphonien oder Opernarien regten die Harze und Kräuter der Antike, die Blüten und Früchte des Mittelmeers, die Hölzer und Gewürze des Orients die musikalische Fantasie an? Welche Werke entstanden als Widmung an duftende Persönlichkeiten wie die Königin von Saba, Kleopatra, Louis XIV oder Coco Chanel? Und umgekehrt gefragt: Wie duften Puccinis Cio Cio San oder Tschaikowskys „Pique Dame“, welche Aromen verströmt ein Flamenco oder ein Tango in der Vorstellung der Parfumeure? Um all diese nie ganz greifbaren, doch gerade deshalb immer schillernden, synästhetischen Abenteuer zwischen Nase und Ohren geht es in dieser Musikwoche, über 5000 Jahre hinweg, über fast alle Erdteile, von Babylon bis nach Buenos Aires, von den Pharaonen bis zu Kate Bush.
1. Von Myrrhe, Weihrauch und Balsam – die Wohlgerüche des Altertums (25.05.) 2. Tausendundein Aroma – die Düfte des Orients und Asiens (26.05.)
3. Vanille, Zimt, Orange und Jasmin – von den Tropen ins Mittelmeer (27.05.)
4. Könige, Romantiker und Synästheten – Streifzüge durch Europas Dufthistorie (28.05.)
5. Von Coco Chanel bis Kate Bush – Parfums der Neuzeit (29.05.)
Danke: der Osmothèque in Versailles für das Duftseminar, meiner Mutter Marlies Franzen für ihre biblischen Recherchen und meinem Vater Herbert Franzen für seine Gedichtübertragungen von Charles Baudelaire.
Vor 40 Jahren revolutionierte der Fairlight CMI, der erste Sample-Synthesizer, die Popmusik
Als „Babooshka“ am Ende von Kate Bushs gleichnamigem Song ihre Verführungskünste erfolgreich an den Mann gebracht hat, mündet die Musik in einen Haufen zerbrochenes Glas. Dieses Glas aber splittert nicht so einfach vor sich hin. Viele von uns, die im Sommer 1980 diesen Hit immer wieder im Radio hörten, mögen sich gefragt haben: Wie gelang es der exzentrischen Britin, die Scherben zu einer absteigenden Tonfolge zu sammeln? Die Antwort lautet „Fairlight Computer Musical Instrument“, kurz Fairlight CMI. Der klobige Wunderkasten war eine der ersten Samplemaschinen, und mit Sicherheit diejenige, die vor 40 Jahren die Popmusik für immer veränderte.
Das Patent geht auf zwei australische Nerds namens Peter Vogel und Kim Ryrie zurück, die in den späten Siebzigern einen Synthesizer namens Qasar M8 weiterentwickeln. Ihr Ziel ist es, die synthetischen Klänge in möglichst naturgetreue Geräusche zu verwandeln. Dafür entwickeln sie einen Analog-Digital-Wandler, will heißen: jeglicher Klang kann aufgenommen, auf der Festplatte des Computers abgespeichert, anschließend über eine Keyboard-Tastatur wiedergegeben und zu musikalischem Material geformt werden. Bis dato waren alle Samples analog gewesen, etwa beim Mellotron, das die Beatles für „Strawberry Fields Forever“ oder David Bowie für „Space Oddity“ nutzten. Dort kamen die aufgenommenen Sounds, etwa Flöten oder Streicher, noch von einer Tonbandschleife neben den Tasten. Vogel und Ryries erstes Sample ist ein Hund, der jetzt Tonleitern rauf und runter kläffen kann. Eine kleine Bibliothek von Klängen liefern die beiden Aussies auf einer Floppy Disc gleich mit. Sie nennen ihre Erfindung „Fairlight“, nach einem Luftkissenboot im Hafen von Sydney. Und sie machen sich auf, sie der Welt vorzustellen.
Peter Vogel demonstriert den Fairlight im australischen Fernsehen
Quelle: youtube
Die ersten Popmusiker, die sich für den Fairlight begeistern, sind Stevie Wonder und Peter Gabriel. Letzterer erwirbt auch prompt drei Stück, jeweils zum Preis eines Reihenhauses, und spannt das neuartige Instrument erstmals für die Produktion seines dritten Soloalbums ein. Ein Exemplar borgt sich der Filmmusiker Hans Zimmer von ihm aus. Ebenfalls Feuer und Flamme für den Fairlight: Kate Bush, sie lernt ihn bei Gabriel kennen, als sie Gastvocals für „Games Without Frontiers“ und „No Self Control“ beisteuert. Als sie sich wenig später in den Londoner Abbey Road Studios zur Produktion von Never For Ever vergräbt, lässt sie wiederholt einen Fairlight ins Gebäude tragen, um ihr Werk mit gesampelten Türen („All We Ever Look For“), Gewehrabzügen (Army Dreamers“) und Vokalfetzen („Delius“) zu würzen – und dem berühmten „Babooshka“-Glas, das zur Aufnahme aus der Studiokantine entwendet wird. Das Küchenpersonal, so heißt es, was not amused. „Was mich am Fairlight fasziniert“, sagt sie später, „ist die Fähigkeit, sehr menschliche, tierische und gefühlvolle Sounds zu kreieren, die gar nicht nach einer Maschine klingen.“
Peter Gabriel erklärt den Fairlight in der South Bank Show, 1982 (ab 16’20“)
Quelle: youtube
Kritiker haben den ungelenken und dumpfen Klang der Fairlight-Samples oft verhöhnt. Doch auf den Folgealben von Gabriel und Bush verändert dieses neue Handwerkszeug den Prozess des Schreibens im Pop grundlegend: Die Songs kristallisieren sich jetzt durch Experimentieren im Studio heraus, wenig wird zuvor am Klavier festgelegt, stattdessen entstehen die Stücke aus Mosaiken von Melodien und Rhythmen. Gabriel schleift Schnipsel aus obskuren Feldaufnahmen afrikanischer Musik ein (etwa äthiopische Flöten in „San Jacinto“) und legt damit auch einen Grundstein für die Weltmusik. Noch extensiver wird der Fairlight auf Kate Bushs The Dreaming in fast jedem Track zum Gestaltungsprinzip: Am auffälligsten sind sicherlich die Trompeten in „Sat In Your Lap“, die unheimlich seufzenden Chöre in „All The Love“ und der geschichtete Hausrat in „Get Out of My House“. Richtige Fairlight-Melodien gibt es auf den Single-B-Seiten „Lord Of The Reedy River“ und „Ne T’Enfuis Pas“. Und beim nächsten Album, Hounds Of Love ist sie schließlich soweit, dass die Fairlight-Sounds für einen richtigen Ohrwurm verantwortlich sind: das Thema von „Running Up That Hill“.
Spätestens 1983 beginnt der Siegeszug des Fairlight durch einen erweiterten Musikerkreis: Tears For Fears („Shout“), Jan Hammer („Miami Vice Theme“), Duran Duran („A View To A Kill“), Frankie Goes To Hollywood („Relax“), Yes („Owner Of A Lonely Heart“) und U2s Produzent Brian Eno (der Mittelteil des Songs „The Unforgettable Fire“) sind vernarrt in ihn, Herbie Hancock, der ihn für seinen Elektrofunk-Hit „Rockit“ verwendet, demonstriert den Kasten vor neugierigen Kindern in der Sesamstraße. Kreativ nutzen ihn längst nicht alle, viele beschränken sich auf die Verwendung der voreingestellten Sounds: Da ist etwa der ominöse Orchesterakkord aus Strawinskys „Feuervogel“, der in den 1980ern gefühlt von jedem dritten Popmusiker eingeblendet wird, oder da sind die schauerlich seufzenden Aaah- und Oooh-Chorimitationen der menschlichen Stimme.
Das ebenfalls gern genommene Sample der japanischen Bambusflöte Shakuhachi (freistehend zu hören in Peter Gabriels „Sledgehammer“-Intro) stammt dagegen aus der Datenbank des Fairlight-Konkurrenzkastens namens Emulator. Bis 1985 erlebt der Fairlight CMI drei Fertigungsserien, wird aber zügig durch viel effektivere und soundtechnisch bessere Digitalrekorder abgelöst. Wenn man in alten Demonstrationsvideos die Tonkurven auf giftig grünem Monitor sieht und den Lichtstift, der die Sounds anwählt, dann hat das was vom nostalgischen Charme der Telekolleg-Schulstunden. Science Fiction aus einer fernen Vergangenheit. Für jeden Hobbymusiker am heimischen PC ist Sampling heute längst Alltag. Doch die Anfänge lagen in jener schlichten Tonleiter aus Glas in „Babooshka“.
Herbie Hancock erklärt den Fairlight in der Sesamstraße, 1983
Quelle: youtube
Heute vor 40 Jahren erschien der erste Vorbote aus Kate Bushs drittem Album Never For Ever. Die Single „Breathing“ markiert einen entscheidenden Wendepunkt in ihrer Karriere. Bush nahm sich eines Themas an, das Anfang der 1980er wie ein Damoklesschwert über den Staaten der westlichen und östlichen Welt hing: die Gefahr eines nuklearen Erstschlags mit allen bekannten Konsequenzen. Um diese um so eindrücklicher zu schildern, nahm sie dazu die Perspektive eines Ungeborenen ein, das den Fallout im Mutterbauch miterlebt. So politisch war Kate Bush nie zuvor gewesen, und mit dieser Themenwahl kündigte sich eine Abfolge mehrerer gesellschaftskritischer Songs an, die vor allem das Album Never For Ever und den Nachfolger The Dreaming markierten.
Auch musikalisch ging sie dabei neue Wege: Das straighte klassische Songgerüst gab sie zugunsten einer Dramaturgie auf, die sich von Strophe und Refrain hin zu einer dystopischen Klangcollage bewegt und dann in einer fast geschrieenen Klimax endet, bevor der Tod jegliches Leben verschluckt. Der Atem als Puls des Lebens, der im Fall einer globalen Katastrophe aber auch zur Vernichtung des menschlichen Körpers führt – sechs Jahre vor Tschernobyl und 40 Jahre vor Corona ist der Engländerin mit dem bedrückenden „Breathing“ unfreiwillige Prophetie gelungen.
Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich an dieser Stelle über Jon Gomm geschrieben. Der Mann aus Blackpool scheint eine junge Nachfolgerin gefunden zu haben: Bei der Recherche zum Women In (E)motion-Festival in Bremen stieß ich auf Becky Langan aus Manchester, die ähnlich grandios mit Hallräumen, Decken- und Zargen-Percussion, Flageoletts und offenen Stimmungen experimentiert. Ihre Version des Kate Bush-Hits ist grandios: Statt die Originalstruktur nachzuspielen, hat sie einfach eine Phrase aus dem Song herausgelöst und macht etwas völlig Frisches daraus. Becky Langan eröffnet das Festival am 8.3., in einem Doppelkonzert mit der Métis-Musikerin Celeigh Cardinal aus dem kanadischen Edmonton.
Becky Langan: „Running Up That Hill“
Quelle: youtube
Jahreswechsel sind auch die Zeit für ein bisschen Nostalgie, zumal wenn eine neue Ziffer vorne steht.
Den Eintritt in die Zwanziger nutze ich, um 40 Jahre zurück, in das Adieu an die Siebziger zu blenden.
Am 28.12.1979 strahlte die BBC das „Christmas Special“ von Kate Bush aus, eine 45-minütige Show mit Songs aus ihren ersten beiden Alben, aber mit „Violin“, „Egypt“, „The Wedding List“ und der B-Seiten-Rarität „Ran Tan Waltz“ auch schon ein Vorgeschmack auf das dritte Werk Never For Ever, das im September 1980 erscheinen wird. Es markiert den Übergang von ihrer kräftezehrenden „Tour Of Life“ hin zu neuen kreativen Höhenflügen, die unter anderem im Antikriegs-Song „Breathing“ kulminieren werden.
Auch heute sind das noch zeitlos grandiose Aufnahmen, die ihren Bruder Paddy featuren sowie einen Gastauftritt von Peter Gabriel, mit dem sie im tieftraurigen „Another Day“ duettiert, und als Intermezzo gibt es eine unerwartete Erik Satie-Adaption. Das Finale hat es besonders in sich: eine lederjackenschwangere Ausgabe von „Don’t Push Your Foot On The Heartbrake“, einer der rockigsten Songs von Kate bis heute. Danke an zararity für die berichtigte Synchro dieses BBC-Highlights.
Kate Bush: „The Sensual World“ (aus: Kate Bush – The Sensual World, 1989)
Die letzten 50 Seiten aus einem Klassiker der Weltliteratur als Initialzündung für einen Popsong – das dürfte einmalig sein. Molly Blooms Schlussmonolog aus James Joyces Ulysses zählt zu den sinnlichsten und sprachspielerischsten Passagen, die ein europäischer Schriftsteller je zu Papier gebracht hat, ein zu Buchstaben verfestigter, erotischer Gedankenfluss, der schon in sich Musik ist, wenn man ihm etwa in Siobhan McKennas Fassung lauscht. Kate Bush Pläne, den Joyce-Originaltext als Grundlage für den Titelsong ihres sechsten Studioalbums zu verwenden, scheiterten 1989, da es ihr die Erben des irischen Schriftstellers nicht erlaubten. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Soliloquy zu paraphrasieren – und dabei wand sie den Kniff an, Molly Bloom aus den Seiten des Buches herausspazieren zu lassen, hinein in die sinnliche Welt, „stepping into the sensual world“.
„The Sensual World“ stellt eine radikale Abkehr von vielen der sirenenhaften Gesangslinien früherer Kate Bush-Songs dar. Nach ihrer eigenen Aussage ist es ein Song, der ihre neugefundene Weiblichkeit widerspiegeln soll, ohne feministisch zu werden. Auf früheren Alben, so Kate, hätte sie doch immer wieder versucht, männliche Kollegen zu imitieren. An frühere Zeiten erinnert allerdings noch das irische Flair: Dieses Mal wird es durch den Uillean Pipes-Spieler Davey Spillane, John Sheahan an der Fiddle und Donal Lunny an der Bouzouki gezaubert, mit letzteren hatte Kate schon auf den Alben Hounds Of Love und The Dreaming gearbeitet. Bruder Paddy trägt mit dem Schwingen einer Angelrute zur ganz besonderen Rhythmusstruktur bei. Die Melodie, die die Iren spielen, ist allerdings mazedonischer Herkunft: Verschiedenen Quellen zufolge soll es der Brauttanz „Nevestinsko Oro“ sein, das ein Fan dem ethnobegeisterten Paddy geschickt hatte.
Beim ersten Hören hat mich „The Sensual World“ grenzenlos enttäuscht – so weit weg war das von allem, was Kate Bush bis dato veröffentlicht hatte. Nach wiederholten Durchläufen hat sich dann der der tanzende, atmende Klangfluss mit der monologisierenden Stimme festgesetzt und mich mehr in den Bann gezogen als viele andere exaltierte Bush-Kompositionen. Die Idee mit dem Waldspaziergang im Video weckt zwar ein wenig unangenehme Erinnerungen an das umstrittene Wald- und Wiesen-Video von Wuthering Heights. Doch wo Bush zwölf Jahre früher mit exaltierter Eurythmie zugange war, folgt sie jetzt in ruhigen Tanzschritten dem Puls ihrer Worte.
Die Single-Vorauskopplung aus dem Album ist heute vor 30 Jahren erschienen – und ist für mich auf immer mit dem Ende des Zivildienstes und dem Anfang des Studiums verbunden. 2011 schließlich nahm Kate Bush das Stück erneut als „Flower Of The Mountain“ auf. Jetzt hatte sie die Erlaubnis, den Originaltext von Joyce zu verwenden – doch an die Version von 1989 reicht die Neuauflage bei weitem nicht heran.