Josienne Clarke
Inselfolk im Viadukt
Foto: Stefan Franzen
John Smith
Josienne Clarke & Ben Walker
Bogen F, Zürich, 28.11.2018
Ein Gespenst namens „Brexit“ schwebte an diesem Abend immer mit im Saal. Denn gerade wer Folk von den Britischen Inseln lauscht, erkennt schmerzlich, dass in diesem Genre Festlandeuropa nun mal nicht annähernd so starke Stimmen zu bieten hat. Und im Falle eines Austritts der Insel aus dem EU-Gefüge – mit dem ganzen Rattenschwanz der zu befürchtenden erschwerten Bedingungen für tourende Künstler abseits des Mainstreams gingen wir dieses bei uns nicht vorhandenen Reichtums – vermutlich bitterlich verlustig.
Doch genug des Politisierens: Josienne Clarke und Ben Walker sind ein famoses Duo aus London, die in diesem Sommer schon für Robert Plant beim Stimmen-Festival eröffneten, auf dem großen Marktplatz Lörrach mit ihrer filigranen Show aber weitestgehend untergingen. Im intimen Bogen F, einem schönen Musikclub, der in das Viadukt im Zürcher Kreis 5 eingebaut wurde, kamen ihre Talente weit besser zur Geltung. Von beginn an ist es Clarkes kräftiger Sopran, der gefangen nimmt und der stilistisch überhaupt nicht festgelegt ist: Den Opener „Reynardine“, der vor 45 Jahren auch schon aus der Kehle von Sandy Denny drang, hat man in diesem Kontext erwartet, nicht aber ein Lied von Edward Elgar, das von Ben Walker mit allen klassischen Raffinessen begleitet wird. Walker erweist sich im Verlauf des Abends auch als geschmackssicher an der Stromgitarre, die er mit folkigem Flow und eigenwilliger Technik zupft. Für „Little Sparrow“, eine Reverenz an Dolly Parton, wird die Rhythmusmaschine angeworfen, ein kleines, fast unnötiges Zugeständnis an die Generation HipHop. Unter den Originalkompositionen sticht „Chicago“ heraus – eine zwischen Selbstmitleid und Ironie schwankende Anekdote über ein Konzert der beiden, zu dem tatsächlich kein einziger Zuschauer kam.
Davon kann an diesem Abend keine Rede sein, der Club unter dem Steingewölbe ist für einen Mittwochabend gut gefüllt, was auch John Smith verblüfft anmerkt. Er habe gerade zwei Tage mit Erkältung im Bett gelegen, gesteht der rotbärtige Dreißiger, der mit seiner Aura wie ein rustikaler Bursche aus dem alten England anmutet, doch man merkt ihm eine etwaige Indisposition in keinem Takt an. Denn seine aufgeraute und zugleich unglaublich seelenvolle Baritonstimme resoniert voll und warm in den Eingeweiden. Smith kann jedoch auch mit dem Pfund seines Gitarrenspiels wuchern, ein Open Tuning-Monster, das als Partner für seine Vocals grandios funktioniert, sich in einem eigenen melodischen Fluss windet und ab und an auch etwas bluesig ausschert. Smith, der viele Songs seiner beiden letzten Alben Headlong und Hummingbird bringt, ist ein Meister der waidwunden Liebeslieder wie „Hares On The Mountain“ oder „Joanna“. Und er hat einen wunderbaren Bühnenhumor, baut nach einem Publikumsnieser synkopisch ein „Gesundheit!“ ein, will in seinen „Perfect Storm“ mit dem donnernde Tram auf der Trasse über seinem Kopf in Dialog treten – auch wenn ihm das Vehikel diesen Gefallen nicht tut. Dieser Mann mit dem englischen Allerweltsnamen aber mit einem gesegneten Ausnahmekönnen scheint nur scheinbar aus der Zeit gefallen. Im Grunde repräsentiert er das, was zeitlos ist: die poetische Kraft, die aus dem Herzbeben kommt – und die überdauert alle politische Erschütterungen.
© Stefan Franzen
John Smith: Hummingbird“
Quelle: youtube
Großes Intro für Robert
Robert Plant hat nie einen Hehl aus seiner Achtung vor dem britischen Folk gemacht. Auf dem vierten Led Zeppelin-Album sang sogar die größte englische Folklady aller Zeiten, Sandy Denny die Ballade „The Battle Of Evermore“. Immer wieder tauchte der Bandleader im Folkkontext auf, so auch etwa beim Fairport Convention-Festival auf einer Wiese bei Cropredy im Jahre 1993, als sich Tausende von Folkies plötzlich mit einem kompletten Überraschungsauftritt des Led Zepp-Frontmann konfrontiert sahen. Und gerade in jüngeren Jahren rekurrierte Plant immer wieder auf das Roots-Terrain: Sei es mit der Bluegrass-Queen Alison Krauss, sei es mit seiner aktuellen Band The Sensational Space Shifters mit dem Violinisten Seth Lakeman, die gestern auf dem Marktplatz Lörrach eine Show zwischen neuinterpretierten Led Zeppelin-Klassikern, orientalisch gefärbten Tönen, Bluegrass, Blues und britischer Folkverpflichtung gaben. Am stärksten: die als „Black Forest“-Song angekündigte Version von „Little Maggie“ mit Banjo und dessen Vorläufer, der westafrikanischen Ngoni.
Plants Dauerflirt mit dem Folk wurde auch bei der Auswahl des Supportduos Rechnung getragen. Auf seine Empfehlung kamen die im UK preisgekrönte Sängerin Josienne Clarke und Gitarrist Ben Walker, geliebt vom Guardian und der BBC gleichermaßen. Ihr Magnum Opus Overnight haben sie in den Rocklands Studios in Wales eingespielt, wo auch Plant Anfang der 1980er seine ersten Solo-Gehversuche unternahm. Als Clarke das Traditional „Reynardine“ anstimmte, bekam sie Szenenapplaus: So berührend und kraftvoll leuchtend ist ihre Stimme, eine würdige Nachfolgerin von Plants einstiger Duopartnerin Denny. Josienne und Ben entgrenzen den Folk von seinen Wald- und Wiesenklischees: In seinem Begleitspiel auf der E-Gitarre ging Walker in Indie-Gefilde hinein, einen Dolly Parton-Song löste Clarke feinsinnig aus dem Country heraus. Ab und zu meinte man sogar höfische Renaissance-Klänge zu entdecken. Wie viel stärker noch hätte dieser Auftritt etwa in einem Setting des Lörracher Rosenfelsparks gewirkt. Ich hoffe, auf eine Rückkehr der beiden in intimerem Rahmen, und diese gibt es als nächstes in unserer Region am 28.11. in der Züricher Lokalität Bogen F.
Josienne Clarke & Ben Walker: „Overnight“
Quelle: youtube
Listenreich: 2016
ALBEN
1. Bears Of Legend (CAN): Ghostwritten Chronicles (Absilone/Galileo)
2. Aaron Neville (USA): Apache (Tell It Records/Rough Trade)
3. Josienne Clarke & Ben Walker (GB): Overnight (Rough Trade/Beggars Group)
4. Aynur, Kayhan Kalhor, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri (KURD/IR/ASB): Hawniyaz (Latitudes/Harmonia Mundi)
5. Ed Motta (BRA): Perpetual Gateways (MustHaveJazz/Membran)
6. Fraser Anderson (SCO): Under The Cover Of Lightness (Membran)
7. Graveola (BRA): Camaleão Borboleta (Mais Um Discos)
8. Osei Korankye (GHA): Seperewa Of Ghana – Ɛmmerɛ Nyina Nsɛ (Akwaaba Music)
9. Federspiel (A): Smaragd (col legno/Harmonia Mundi)
10. Pulsar Trio (D): Caethes Traum (T3 Records/Galileo)
11. Sivan Talmor (ISR): Fire (Chaos/in-akustik)
12. The Fretless (CAN): Bird’s Nest (Eigenverlag)
13. Sílvia Pérez Cruz (Katalunya): Domus (Universal Spain)
14. Maarja Nuut (EST): Une Meeles (Eigenverlag)
15. Emicida (BRA): Sobre Crianças, Quadris, Pesadelos & Lições De Casa (Sterns Brasil/Alive)
16. Ian Fisher (USA): Nero (Snowstar Records)
17. Nils Kercher (D): Suku (Ancient Pulse Records)
18. Oum (MAR): Zarabi (Galileo)
19. Tamer Abu Ghazaleh (Palästina): Thulth (Mostakell)
20. Gaye Su Akyol (TK): Hologram Imparatorluğu (Glitterbeat/Indigo)
21. The Breath (IRL/GB): Carry Your Kin (RealWorld/Rough Trade)
22. Roberto Fonseca (CUB): ABUC (Impulse/Universal)
23. Noura Mint Seymali (MAU): Arbina (Glitterbeat/Indigo)
24. Melingo (ARG): Anda (World Village/Harmonia Mundi)
25. Miramar (Puerto Rico): Dedication To Sylvia Rexach (Barbès Records)
SONGS
1. Bears Of Legend (CAN): „When I Saved You From The Sea“
2. Ian Fisher (USA): „Nero“
3. Mockemalör (D): „Punkerengel“
4. Fraser Anderson (SCO): „Simple Guidance“
5. Alejandra Ribera (CAN): „I Am Orlando“
6. Ed Motta (BRA): „Forgotten Nickname“
7. Cristina Branco (P): „As Vezes Me Dou Pro Mim“
8. Christa Couture (CAN): „Des Oiseaux“
9. Andrea Samborski (CAN): „Tiger Lillies“
10. Sivan Talmor (ISR): „I’ll Be“
KONZERTE
1. Alejandra Ribera (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 9.7.)
2. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (New Morning Paris, 2.6.)
3. Mulatu Astatke (Filature Mulhouse, 5.2.)
4. Manu Dibango (Jazzhaus Freiburg, 7.4.)
5. Richard Bona (Burghof Lörrach, 26.11.)
6. Glen Hansard (Heine-Park Rudolstadt, 10.7.)
7. Firas Hassan, Mohamad Fityan & Taufik Mirkhan (Synagoge Sulzburg, 1.9.)
8. Ballaké Cissoko & Vincent Ségal (Théâtre des Champs-Élysées Paris, 31.5.)
9. The Fretless (St. Agathen Schopfheim-Fahrnau, 7.10.)
10. Arezoo Rezvani & Murat Coskun (E-Werk Freiburg, 18.12.)
11. Anouar Brahem (Reithalle Offenburg, 13.11.)
12. Mbongwana Star (Kaserne Basel, 30.11.)
13. Building Bridges (E-Werk Freiburg, 30.10.)
14. German López (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 8.7.)
15. Hindi Zahra (Rosenfelspark Lörrach, 15.7.)
FILME
1. Genius (Michael Grandage, GB/USA)
2. Vor der Morgenröte (Maria Schrader, D/A/F)
3. Tim Maia (Mauro Lima, BRA)
4. Mali Blues (Lutz Gregor, D/MAL)
5. Sonita (Rokhsareh Ghaem Maghami, Afghanistan/Iran)
6. Love & Mercy (Bill Pohlad, USA)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Arrival (Dennis Villeneuve, CAN)
9. Frank Zappa – Eat That Question (Thorsten Schütte, D/F)
10. Iraqi Odyssey (Samir, Irak/CH/D/VAE)
BÜCHER
(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)
FICTION / LYRIK
1. Richard Powers: “Orpheus” (Fischer)
2. Harper Lee: „To Kill A Mockingbird“ (Grand Central Publishing)
3. Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“ (Fischer)
4. Arseni Tarkowskij: „Reglose Hirsche“ (Edition Ruderup)
5. Henry Thoreau: “Walden” (Barnes & Noble)
NON-FICTION
1. Michelle Mercer: “Will You Take Me As I Am – Joni Mitchell’s Blue Period” (Free Press)
2. Trevor Cox: “Das Buch der Klänge” (Springer Spektrum)
3. Alan Light: “The Holy or the Broken: Leonard Cohen, Jeff Buckley and the Unlikely Ascent of ‚Hallelujah'“ (Atria Books)
4. Jens Rosteck: „Jacques Brel – Der Mann, der eine Insel war“ (Mare)
5. Jonathan Franzen: „Farther Away“ (Picador)
AUSSTELLUNGEN
1. Giorgio Di Chirico – „Magie der Moderne“ (Staatsgalerie Stuttgart)
2. Lynette Yiadom-Boakye – „A Passion To A Principle“ (Kunsthalle Basel)
3. Paula Modersohn-Becker u.a.: „Worpsweder Landschaften“ (Kunsthalle Worpswede)
4. Joan Miró – „der leidenschaftliche Malerpoet“ (Kunsthalle Messmer Riegel)
5. Paul Klee – „L’Ironie À L’Œuvre“ (Centre Pompidou, Paris)
Zeitlose Anmut
Josienne Clarke & Ben Walker
Overnight
(Rough Trade/Beggars Group)
Meistens passiert es ganz früh oder ganz spät, dass das Album des Jahres sich offenbart: Hier ist ein großer Kandidat dafür. Entstanden sind diese elf Perlen von zeitloser Anmut in der walisischen Parklandschaft, in den Rockland Studios – dort, wo einst Queen, Oasis und Julian Lennon aufgenommen haben. Josienne und Ben sind mit dem BBC Radio 2 Folk Award dekoriert, schaffen auf ihrem dritten Werk aber einen gewaltigen Sprung aus dem herkömmlichen Folkbezirk heraus.
Von Eigenkompositionen bauen sie eine Brücke zu John Dowland und dem seltenen Spätromantiker Ivor Gurney, und dann weiter zu Jackson C. Frank und Gillian Welch – und es ist kein wackeliges Gebilde, das da entsteht, sondern ein homogene Dramaturgie. Josiennes Stimme kombiniert helle Zartheit mit bitteren, waidwunden Tönen, ihr Saitenpartner gehört eher in die Kategorie ausgefeilter Texturgeber denn in die der Folkbarden, die die Gitarre nur als Begleitinstrument nutzen.
Fleisch und Blut bekommt diese Scheibe durch die grandiosen Arrangements: Da weben mal dunkle Blockflöten einen schweren Vorhang der Melancholie, Bassklarinette, Euphonium und Horn sorgen für eine nicht alltägliche Bläserfarbe, ein Streichquartett legt satte Liegetöne unter das Gitarrenflageolett. So entsteht ganz mühelos ein Mosaik, das die Ästhetik der Renaissance mit der Folkrock-Philosophie à la Nick Drake und Sanny Denny verknüpft. Und in der Singleauskopplung „The Waning Crescent“ geht es mal kurz in den britischen Easy Listening-Pop der 1960er hinein.
Die Kollegen von Big Comfy Sessions haben die beiden zum Interview auf die Couch gebeten, anschließend spielen sie – ganz stripped down – einen der schönsten Songs vom Album (startend bei 6’14“):