Soulman auf Jazzpfaden

Das Beste aus zwei Welten: die Energie des Soul und die Harmonien des Jazz, so definiert Myles Sanko sein Schaffen. Mit seinem neuen Werk Memories Of Love (Légère Recordings) vereint der Mann aus Cambridge sie in einer ungewöhnlichen Dramaturgie von Liebesliedern.

Im Video zu seiner neuen Single „Freedom Is You“ geht Myles Sanko ins Wasser. Mit den besten Absichten, denn dort erwartet ihn ein weißgewandeter Mann für die Taufe. „Ich bin kein religiöser Mensch“, stellt Sanko klar, „aber durchaus spirituell. Und in dieser Hymne an die Musik habe ich in Bilder gefasst, wie gut es tut, von Tönen ganz umflossen zu werden wie vom Wasser. Musik ist mein Leben, mein Alles, meine Zukunft.“ Man mag von seinem strahlenden, manchmal etwas plakativen Sound angetan sein oder nicht: Diese Aussage ist absolut glaubhaft, haben seine Songs doch immer die Aura der Hingabe.

Myles Sanko, der 1980 als Sohn eines bretonischen Seemanns und einer Ghanaerin geboren wird, hat eine unstete Kindheit, die er rückblickend aber doch als „fantastisch“ ansieht. „Als Fischer gehst du dahin, wo der Fang gut ist, und das hieß für mich, ein Leben zwischen der ghanaischen Hafenstadt Tema, dem togolesischen Lomé, Abidjan in der Elfenbeinküste und dem Senegal.“ Liebgewonnene Erinnerungen hat er vor allem an Ghana, wo die Lieder, mit denen die Fischer ihre Netze einholten oder mit denen der Zimmermann das Haus baute, ihm so etwas wie einen Urkick für sein rhythmisches Empfinden gaben. Doch schließlich schlug Sanko in Cambridge Wurzeln, wo er sich in der lokalen Szene die Hörner abstieß. Von seiner ursprünglichen Liebe, dem Rap ausgehend, entdeckte er durch die dort verwendeten Samples immer mehr die Vorläufergenres.

„Wir hatten hier eine kleine Soul- und Funk-Szene, die aber gerade groß genug war, um mir das Rüstzeug zu geben“, erinnert er sich. „Ich habe hier gelernt, wie man auf der Bühne agiert.“ Und genau das wurde auch zu seinem Leitgedanken: Ein guter Sänger muss ein geborener Performer sein. Daher offenbart Sanko auch eine ausgeprägte Liebe für die Rampensäue James Brown und Otis Redding, bewundert gerade bei letzterem, wie er von delikater Sensibilität auf Explosionskraft umschalten kann. Weitere frühe Heroen: Donny Hathaway und Bill Withers, dem er attestiert, er sei eigentlich ein Jazzer, man müsse sich nur eingehend mit seinen Kompositionen beschäftigen. Auch in Sankos Timbre hat sich Mr. Withers unverkennbar als seelenverwandter Vokalist niedergeschlagen.

Myles Sanko: „Freedom Is You“
Quelle: youtube

Mittlerweile hat sich Myles Sanko von den Vorbildern und dem unverkennbar auf Retro gepegelten Sound der Frühwerke emanzipiert. „Ich denke, dass ich jetzt allmählich weiß, wo ich hinwill und dass ich akzeptiert habe, wer ich selbst bin. Ich bin gespannt, wie mein weiterer Weg verlaufen wird, denn ich habe mir vorgenommen, vor der Rente 15 Alben aufzunehmen! Memories Of Love hat einen sehr kraftvollen Sound, den ich zusammen mit meinem langjährigen Pianisten Tom O’Grady ausgeklügelt habe. Früher habe ich nicht viel mit Background Vocals gearbeitet. Aber jetzt habe ich mich gezielt entschieden, Chöre zu verwenden, viel Gospelanklänge zu verwenden. Das verleiht dem Album eine Spannung, eine Präsenz, und genau den richtigen Schwung.“ Was aber nicht heißt, dass alle elf Songs immer straightforward an die Bühnenkante gehen. Es gibt viel Platz für Improvisationen für Sax, Trompete und vor allem für O‘Gradys quirliges Klavier, auch mal unerwartete Progressionen.

Alle seine Bandmitglieder stammen aus Londons junger Jazzszene, zu der sich Sanko selbst nie zugehörig fühlte. „Ich als Außenseiter in dieser Londoner Jazzwelt, die Mischung macht’s!“, so sein Urteil. „Was mich im Soul manchmal stört, ist seine Schlichtheit, nach der aber manche der klassischen Songs des Genres gerade verlangen. Im Jazz dagegen fehlt mir zuweilen das tiefe Gefühl und die Leidenschaft. Mein Ziel ist es, das Beste aus beiden Welten zu vereinen, und die Würze sind die Streicher, der Gospel, ein Hauch Funk und HipHop.“ Sanko geht sogar so weit, dass er seinen Hörern auf dem Album zwei Songs in verschiedenen Versionen anbietet, einmal eher die jazzige Stripped Down-Version, einmal die seelenvolle Opulenz. „Wenn ein Song in reduzierter Form funktioniert, dann kannst du mit ihm nachher anstellen was du willst. Ich hoffe, ich kann meinem Publikum mit diesen Alternativfassungen auch verschiedene Reiserouten durch diese Songs ermöglichen.“

Eine mögliche Reiseroute ist auch die Landkarte der Liebe. Für Myles Sanko hat das überhaupt nichts Kitschiges oder Sentimentales. Sein Liederzyklus feiert nicht nur die Kraft der glücklichen Liebesbeziehung, er reicht auch oft ins Melancholische und Bittere, beinhaltet eben all das, was seine Erinnerungen an die Liebe triggert. Ganz offenkundig ist das im luxuriös gewandeten „Where Do We Stand“, mit dem er die problematische Beziehung zu seinem Vater aufarbeitet. „Er war ja nie da, immer auf See, ich hatte nie eine kontinuierliche Vaterfigur. Durch diesen Song können wir uns beide aneinander annähern, Heilung ermöglichen. Ich hoffe, dass das bei vielen Menschen eine Resonanz hervorruft, denn jeder schleppt ja solche biographischen Themen mit sich rum.“

Auch in „Never My Friend“ wird die eher zähe Seite der Liebe beleuchtet, die eines sich ständig ungeliebt fühlenden Pubertierenden, der neidisch die Liebespärchen um sich herum beobachtet. Hier leuchten deutliche Reverenzen an Hathaways balladeske Schwermut auf, und der Schlagzeuger hat Kaffeepause. „Viele kämpfen ja lange Jahre darum, eine Liebe zu finden, sie scheint immer ganz nah zu sein, entzieht sich dann wieder. Bei mir war das auch so, bis ich endlich meine Liebe fand.“ Ihr hat er „In The Morning“ gewidmet, eine Hymne auf die Schönheit, die mit neckischen Trompeten-Riffs und Philly-Strings gespickt ist.

Eine andere große Soulballade entfaltet er mit „Streams Of Time“, in der die Gitarre jubilierende Interludien liefert, bevor sich ein mächtiger Gospeldonner aufbaut. Und mit einem ganz unerwarteten Liebeslied klingt Memories Of Love aus. Der „Blackbird Song“ outet Myles Sanko als Naturliebhaber: „Ich habe mir neulich in Südfrankreich eine Villa gekauft. Eines Morgens war ich oben auf dem Dach, um was zu reparieren. Da fing eine Amsel zu singen an. Ich ließ den Hammer fallen und hörte einfach nur zu. In diesem Gesang, der ja so unverwechselbar ist, kamen so viele Erinnerungen hoch, an den Frühling und Sommer meiner früheren Jahre. Das war wie ein Schleusentor.“


© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #137

Radiotipp: SRF 2 Kultur sendet am Dienstag den 6.4. in der Sendung Jazz & World aktuell mein Interview mit Myles Sanko

Myles Sanko: „Blackbird Song“
Quelle: youtube

Soulfood vom St. Lorenz-Strom

The Brooks
Any Day Now
(Underdog Records/Broken Silence)

In diesen Tagen kann man wärmendes Seelenfutter gut brauchen, und das kommt ausgerechnet aus einer etwas kühlen Region, der kanadischen Provinz Québec. Dass der Ahornstaat beim Soul und Funk oberster Güte immer wieder für Überraschungen sorgt, ist nichts Neues, doch unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre ragt die neue Scheibe der seit acht Jahren existierenden Montréaler Truppe The Brooks nochmal heraus. Warum behaupte ich das so dreist?

Hier ein paar Argumente: Any Day Now schlägt einen überwältigenden dramaturgischen Spannungsbogen, eingerahmt in ein  großorchestrales Präludium und Finale, die beide in Klangfarben zwischen flirrenden Holzbläsern, Harfen, Blechblasfanfaren und Synthesizer-Melodien nur so funkeln. Dazwischen entfaltet sich ein funky Kosmos, der so ziemlich alle Kapitel der Soul- und R&B-Historie der letzten fünfzig Jahre würdigt. In „Drinking“ und „Zender“ führen die Québecois Tugenden von George Clinton und D’Angelo zusammen, angeheizt von einer fantastischen Horn Section, die schließlich fast zur Marching Band wird. „Moonbeam“ lässt wieder das Symphonische aufleuchten, mit einem Schimmern, das an die Arrangements aus Curtis Mayfields früher Solozeit erinnert, doch die Synthese zwischen Orchester und Band wird erst in „Headband“ zur Perfektion gebracht.

„Gameplay“ schwenkt in die rockigere Seite des Funk ein, „So Turned“ On“ fügt mit sexy-sonniger Melodik tatsächlich einen Schuss guten Britpop der Achtziger ins Gebräu hinzu. Doch der Stilpalette ist noch nicht genug: „The Crown“ gipfelt in einem Afrobeat-Hexenkessel, während „Turn Up The Sound“ eine gekonnte Kreuzung aus James Brown und Sly & Robbie ist. Das sich mit all diesen verschiedenen Ingredienzien doch ein homogenes Puzzle in den Ohren des Hörers ordnet, ist das Erstaunlichste an diesem Werk. Montréal, mon amour, kann ich da nur einmal mehr sagen!

The Brooks: „Turn Up The Sound“
Quelle: youtube

 

Der Architekt des Afrobeats: Tony Allen ist gegangen

Tony Allen in Essaouira, Marokko, Mai 2015 (Foto: Stefan Franzen)

Mit großer Bestürzung hat die Musikwelt den plötzlichen Tod der Schlagzeuglegende Tony Allen aufgenommen. Der 79-Jährige starb am gestrigen Donnerstag völlig unerwartet in seiner Wahlheimat Paris, kurz nachdem er ins Krankenhaus eingeliefert worden war, weil er sich unwohl fühlte. Sein Tod steht offenbar nicht im Zusammenhang mit Covid-19.

Heute ist der Begriff „Afrobeat“ weltweit in aller Munde, sein Architekt war Tony Allen. 1940 im nigerianischen Lagos geboren, formte er die afrikanische Popmusik seit den Sechzigern entscheidend mit. „Ich wollte der beste Drummer Nigerias werden, hatte aber anfangs keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen sollte“, erinnerte er sich in seiner Wahlheimat Paris während eines Interviews mit dem Autor. „Da geriet mir die Jazz-Zeitschrift Down Beat in die Hände, mit einer Lektion von meinem amerikanischen Kollegen Max Roach. Seine Anweisungen kombinierte ich mit allem, was ich vorher in Nigeria gelernt hatte – und plötzlich spielte ich wie niemand anders.“ Ein weiteres Idol wird Art Blakey.

Erstmals wandte Allen seine Spielweise bei der Combo Cool Cats von Victor Olaiya an. Aufmerksam auf seine rhythmischen Künste wurde 1964 ein weiterer Landsmann: Fela Kuti, charismatischer Bandleader, gerade auf der Suche nach einem Drummer für seine Koola Lobitos: „Er sagte, ich würde wie vier Schlagzeuger gleichzeitig spielen“, erinnerte sich Allen. Tatsächlich rätseln Drummer bis heute über das synkopische, polyrhythmische Hexenwerk, das Allen mit verblüffend ökonomischer Spielweise zauberte. Er verschmolz mit seinem Drumkit, liebkoste die Felle aus dem Handgelenk, bediente das Bassdrum-Pedal kernig und zärtlich zugleich. Dabei glich er einem passioniert rührenden Koch am heimischen Herd, und tatsächlich hieß später denn auch eines seiner zentralen Werke Home Cooking.

Tony Allen teaches Tim Jonze
Quelle: youtube

Gemeinsam entwickelten Allen und Kuti 1968/69 aus dem in Westafrika populären Highlife, Yoruba-Traditionen und Jazz-Einflüssen einen neuen Stil, den Fela auch politisch auflud: Hypnotische Grooves und Antwortchöre mit provokanten Texten an die Adresse der korrupten Machthaber – diese manchmal 30 Minuten langen Stücke werden prägend für die neue Band Africa 70. Immer wieder ist die Parallele gezogen worden zwischen Afrobeat und dem Funk von James Brown.

Allen stellte in meinem Interview für Jazz thing 2008 klar: „Ich würde nie sagen, Funk habe aktiv den Afrobeat beeinflusst, auch nicht die Gegenrichtung. Das passierte allenfalls unterschwellig. Aber es war tatsächlich so, dass Brown mit seiner ganzen Band nach Lagos kam und seinen Arrangeur als Spion neben mich setzte. Der sollte genau aufschreiben, was ich da spiele. Ich dachte mir damals: ‚OK, in aller Ruhe warte ich jetzt mal ab, ob irgendjemand mich imitieren kann.’ Ich warte bis heute!“

Nachdem Allen 30 Platten mit Kutis Afrobeat-Orchester eingespielt hat, gingen die beiden Ende der 1970er getrennte Wege. Die Allüren seines Chefs, die riesige Entourage von Africa 70 – das war nicht die Welt des bescheidenen Mannes mit der schnarrenden Stimme. Bei Africa 70 war er auch meist ganz im Hintergrund gestanden, signfikant, dass er in diesem Live-Video aus dem Jahre 1978 überhaupt nicht ins Bild kommt:

Fela Kuti: Pansa Pansa (Berlin 1978)
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Allen nahm zunächst nur ein paar wenige Alben unter eigenem Namen auf, No Accommodation For Lagos das wichtigste unter ihnen. In der Wahlheimat Paris musste er lange Durststrecken durchstehen, bis ihn zur Jahrtausendwende eine neue Generation wiederentdeckte. Dafür verantwortlich war zunächst der Elektro-Produzent Doctor L, der mit ihm psychedelisch eingefärbte Werke wie Black Voices einspielte, auch der finnische Musiker Jimi Tenor entdeckte den Nigerianer. Ab diesem Zeitpunkt ging Allen unzählige Teamworks ein. Man konnte ihn in Marokko beim Gnawa-Festival von Essaouira mit Sufis auf der Bühne sehen, als Rhythmusgeber für eine haitianische Bigband, und in Damon Albarns afro-europäischem Trupp „Africa Express“ wurde er Stammgast. Fast ein Dutzend Scheiben veröffentlichte er während seines zweiten Frühlings, unter ihnen das grandiose Alterswerk The Source, entstanden 2017 mit Musikern, die alle einer anderen Generation als er selbst angehören.

Tony Allen: „The Source“ (Teaser)
Quelle: youtube

Und vor wenigen Wochen erschien noch Rejoice, eine Session, die mit dem 2018 verstorbenen südafrikanischen Flügelhornisten Hugh Masekela von World Circuit-Produzent Nick Gold eingefangen worden war und nun zum doppelten Vermächtnis wird. Parallel dazu war es ihm immer ein Anliegen, wie etwa auf Secret Agent (2008), junge nigerianische Musiker zu fördern. Tony Allen konnte sich im Alter darüber freuen, dass der Afrobeat zu einer globalen Angelegenheit wurde. Bands in Brooklyn und Toronto aber auch in Berlin, Stockholm und Tel Aviv haben Allens und Fela Kutis Errungenschaften adaptiert. „Ich sehe, wie der Baum, den ich mal gepflanzt habe, viele Zweige bekommen hat“, sagte er mit einem milden Schmunzeln.

Einige meiner Erinnerungen an ihn sind besonders: Erstmals traf ich Tony nahe der Porte de Clignancourt im Norden von Paris zu einem eindrucksvollen Interview im Séparée eines arabischen Teehauses, wo er nach dem langen Gespräch noch die Geduld hatte, mir unzählige LPs zu signieren. 2013 sah ich ihn völlig unvorbereitet, wie er während eines Konzerts der New Yorker Afrobeat-Band Antibalas für einen Gastauftritt bei Jazz à La Vilette auf die Bühne kam, und der Antibalas-Drummer Miles Arntzen ehrfürchtig in die zweite Reihe zurück trat. Zwei Jahre später erklärte er uns Journalisten im marokkanischen Essaouira, mit seiner sanften Stimme kaum über die parallelen Muezzin-Rufe hinwegdringend, wie sich die Afrobeat-Rhythmik mit der der Gnawas wunderbar vereinbaren lässt, und lieferte dann mit dem Gnawa-Meister Mohammed Koyou aus Marrakesch eine relaxte Mitternachtssession zur hereinrollenden Gischt des Atlantiks ab.

Zuletzt habe ich Tony exakt vor einem halben Jahr beim Jazz No Jazz-Festival in Zürich gesehen: Ich bin vorsichtig mit dem überstrapazierten Wort „Trance“, aber was an Allerheiligen 2019 mit der jungen „The Source“-Band entstand, versetzte mich in einen Zustand, der nicht mehr ganz diesseitig war. „Ihr seid ja nicht hier, um mich reden zu hören“, entschuldigte sich Tony Allen an jenem Abend für seine knappen Ansagen. Ein Mann der großen Worte war er nicht, wohl aber des großen Spiels. Mit Tony Allen verlieren wir einen unvergleichlichen Polyrhythmiker, der hohes technisches Können, unermüdlichen Einsatz für seine Musik und eine anrührende Menschlichkeit in sich vereinte.

© Stefan Franzen

Tony Allen: „Moanin'“
Quelle: youtube

Bittere Erde, himmlische Glut – Aretha ist gegangen

Foto: Pete Souza

Ihrer Version des Songs „This Bitter Earth“ entringt sich ihrer Kehle eines dieser berühmten „Uuuhs“, die durch Mark und Bein gehen. „Wenn mein Leben wie der Staub ist, der den Glanz der Rose verdeckt, wozu bin ich dann gut? Das weiß nur der Himmel“, heißt es zuvor im Text. Von dieser Spannung zwischen irdischer Unzulänglichkeit und göttlicher Sphäre, zwischen dem Käfig des Körpers und der Schwerelosigkeit der Seele nährte sich zeitlebens die Musik von Aretha Franklin. Die „Queen des Soul“ ist am Donnerstag im Alter von 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit gestorben.

In Memphis am 25. März 1942 geboren, wächst Franklin in Detroit auf. Natürlicher musikalischer Nährboden ist der Gospel ihres Vaters, des Baptistenpredigers C. L. Franklin. In seiner New Bethel Baptist Church erlebt sie, wie die Sängerin Clara Ward vor lauter Ekstase ihren Hut auf den Boden schmettert. Ein Schlüsselerlebnis: Von nun an will auch sie singen. Erbarmungsloser Lehrer ist der Vater selbst, mit zwölf steht sie vor der Gemeinde, macht zwei Jahre später dort auch erste Aufnahmen. In ihrer Stimme sind da schon, wie es einer ihrer Kollegen nannte, alle „Schnörkel, Blüten und Rüschen“, die sich in Noten nicht fixieren lassen und die für ihre weitere Karriere so wesentlich werden.

Diese Stimme, sie drängt über den Gospel hinaus, wie sich 1960 zeigt: Franklin, mit 18 schon zweifache Mutter, wird in New York von Columbia Records unter Vertrag genommen, spielt mit dem Jazzpianisten Ray Bryant ihr erstes Album ein, bluesgetränkt, auf den Spuren ihres großen Idols Dinah Washington. Ihre Zeit bei Columbia wird auch heute noch unterschätzt: Bis 1966 veröffentlicht sie dort fast ein Dutzend Alben zwischen Blues, Jazz, Folksong und Easy Listening, man stellt ihr ein kitschiges Streichorchester zur Seite, versucht vergeblich, sie als Popsängerin in die Charts zu hieven – und doch formt ihre vokale Strahlkraft Standards wie „What A Difference A Day Makes“ zu Versionen für die Ewigkeit.

Franklins Columbia-Ära endet mit einem schmissigen Stück namens „Soulville“ – und in dieser Stadt, in der Ray Charles, Sam Cooke und James Brown schon residieren, baut Aretha Franklin nun ihren Palast. Verantwortlich dafür ist der Produzent Jerry Wexler, der sie zu Atlantic Records holt. Er erkennt das Potenzial, dieses Timbre mit dem rauen Sound des Südens zu paaren und nimmt sie 1967 mit in ein Studio in Muscle Shoals, Alabama, wo sie mit den mehrheitlich weißen Begleitmusikern von Wilson Pickett ihr erstes wirkliches Soulstück aufnimmt: „I Never Loved A Man The Way That I Loved You“.

Aretha Franklin: „I Never Loved A Man The Way I Love You“
Quelle: youtube

Es wird zur Blaupause für die weiteren Songs des gleichnamigen Atlantic-Debüts. Die Adaption von Otis Reddings „Respect“ macht sie über Nacht zur Ikone der Bürgerrechts- und Frauenbewegung. Der Respekt, er zielt auf die Anliegen der Schwarzen und ihres Führers Martin Luther King, der zu einem engen Freund wird. Er zielt aber ebenso stark auf Emanzipation. Die fordernde Weiblichkeit drückt sie in ekstatischen Soul-Hymnen wie „Dr. Feelgood“ mit donnerndem Gospelpiano und unverblümter Körperlichkeit aus. Auch Sex ist bei ihr immer göttliches Brausen.

Bis in die späten Siebziger veröffentlicht sie mit Wexler, einmal auch mit Quincy Jones und Curtis Mayfield am Pult, LPs am Fließband für Atlantic. In Hits wie „Chain Of Fools“, „Think“ oder „Spirit In The Dark“ lädt sie den Soul mit rauem, eruptivem Feuer auf, ein Gegenentwurf zum zuckersüßen Motown-Pop ihrer einstigen Detroiter Nachbarskinder Smokey Robinson und Diana Ross. Wie dieser Soul auch Europa außer Rand und Band bringt, ist dokumentiert in einem Konzertmitschnitt von 1968 aus Amsterdam, wie er sogar die weiße Hippie-Szene erobert, lässt sich auf der „Live At Fillmore West“-LP nachhören. Doch Franklin liefert auch „Sweet Soul Music“, wandelt Balladenmelancholie zu triumphalem Glanz wie in „You Make Me Feel“ oder „Angel“ aus der Feder ihrer Schwester Carolyn.

Aretha Franklin: „Angel“
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Immer, wenn es ihr selbst schlecht geht, wendet sich Franklin dem Gospel zu, etwa auf ihrer Doppel-LP „Amazing Grace“ von 1972. Der Mitschnitt aus zwei Gottesdiensten ist eine ungeheure Manifestation spiritueller Glut. Ob gläubig oder nicht: Man kann die letzten Minuten des Titelstücks nicht ohne seelische Erschütterung hören.

Nach einem Imagewechsel 1980 gelingen der Soul Queen auf Arista Records weitere Erfolge, sie gastiert im „Blues Brothers“-Film (1998 auch in Teil 2), und Pophörer entdecken sie bis in die Neunziger hinein neu, durch Duette mit George Michael, Elton John und Annie Lennox. Klatsch um ihre Gewichtszunahme und das Geheimnis um den Vater ihres ersten Sohnes begleiten die späteren Jahre. Noch einmal blitzt Franklins Rolle als Ikone der Bürgerrechtler auf, als sie 2009 bei der Amtseinführung Obamas vor zwei Millionen Menschen singt. Umso mehr tut es weh, dass sie in einer Ära geht, in der all die Errungenschaften Amerikas verlöschen. 2010 wird sie vom Rolling Stone zur besten Sängerin aller Zeiten gekürt. Dann erkrankt sie an Krebs, steht wieder auf, scheint sogar mit alter Kraft zu singen, tourt bis 2017 mit ihren alten Hits.

„Während eine Stimme in mir schreit, bin ich mir sicher, dass jemand meinen Ruf erhört, und diese bittere Erde, sie wird schließlich nicht mehr so bitter sein“, singt sie, während sie sich zu einem grandiosen Crescendo steigert, mit diesem von keiner Kollegin je erreichten Ziehen und Zerren in der Stimme. Wer ihr zuhört, kann alles über das Irdische lernen – und vieles über Gott. Größeres lässt sich mit Musik nicht sagen. Die Queen ist gegangen, ihr Thron bleibt leer, vermutlich für immer. Heute gibt es keinen Trost.

© Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung vom 17.08.2018

Aretha Franklin: „This Bitter Earth“
Quelle: youtube

Mobutus Woodstock

Various Artists
Zaire 74 – The African Artists
(Wrasse)

Das Live-Konzert, das vor 43 Jahren in Kinshasa dem legendären “Rumble In The Jungle”-Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman vorausging, war ausschnittsweise schon im Dokumentarfilm “Soul Power” von 2008 zu sehen. Dort allerdings wurde der Fokus vor allem auf die internationalen Acts wie James Brown oder die Fania All Stars gelegt. “Zaire 74” rückt jetzt ausführlich fünf Afro-Künstler ins Rampenlicht. Allein schon wegen der explosiven Show von Tabu Ley lohnt sich diese Anschaffung: Afrisa, die Band des Soukouss-Meisters heizt mit glühendem Blech, Funk-geladenen Gitarren und unaufhaltsamer Rhythmussektion durchs Repertoire. Damit übertrumpft sie sogar den Superstar Franco und sein Orchester T.PO.K. Jazz, der hier auf schmelzendere Nummern Wert legt, die unverzeihlicherweise bei den Impro-Parts teils ausgeblendet werden. Miriam Makeba ist mit einem sehr folkigen Akustikauftritt vertreten, bevor sich mit dem Orchestre Stukas eine bei uns unbekanntere Rumba-Combo ins Zeug legt. Ein schönes Booklet mit Erinnerungen des Festivalproduzent Hugh Masekela rundet das feine Päckchen ab.

Tabu Ley & Franco @ Zaire 74
Quelle: youtube