Dieses Jahr mit einem Dankgesang enden zu lassen, scheint auf den ersten Blick vielleicht nicht passend zu sein. Ganz zu schweigen von den Situationen für die vielen Alten und Kranken, die Menschen im Pflege- und Krankenhausbetrieb, war 2020 für die Kulturszene ein oft existenz-, wenn nicht lebensbedrohender Spießrutenlauf, der leider noch lange nicht zu Ende ist.
Es bleibt die Hoffnung und das Ausharren. Mir hat dabei dieses Jahr vor allem die Rückbesinnung auf klassische Musikwerke geholfen, in denen Stärke aus Innerlichkeit erwächst. Ohne das Adagio aus Schuberts Streichquintett C-Dur, ohne Mahlers „Lied von der Erde“ und die Ecksätze seiner 9. Sinfonie, ohne die Klaviermusik von Federico Mompou, und vor allem ohne die späte Kammermusik des Jubilars Beethoven hätte ich dieses Jahr nicht so gut gemeistert.
Daher möchte ich 2020 auch mit einer Reverenz an Ludwig van Beethoven beenden. 1825 hatte er eine schlimme Darmentzündung, die ihn für etliche Wochen in seiner Schöpferkraft komplett lahmlegte. Als er wieder genesen war, komponierte er einen 20-minütigen langsamen Satz, der in sein 15. Streichquartett eingeflossen ist, als „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart“.
Das Danish String Quartet spielt dieses ruhige, erhabene und schlichte Gebet, das zweimal von hoffnungsfrohen, jubilierenden Ausbrüchen der Gesundung unterbrochen wird, wie kein anderes Ensemble – mit grandioser Hingabe an jeden einzelnen Ton. In diesem Sinne: Möge die Gesundheit zurückkehren und die Welt danach im positiven Sinne nicht mehr dieselbe sein.
Danish String Quartet: „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart“ (Ludwig van Beethoven)
Quelle: youtube
SOMMER
– Festivalensemble Boswil (Verschiedene) – Gustav Mahler, Das Lied von der Erde – Kirche Boswil 29.6.
– Ali Ghamzari (Iran) – Neumarkt Rudolstadt, 5.7.
– Ivan Vilela (Brasilien) – Theater im Stadthaus Rudolstadt, 7.7.
– Sudan Archives (USA) – Reithalle Riehen, 18.7.
– Andreas Gabriels Verändler (CH) – Museum Tinguely Basel, 30.8.
Ivan Vilela, Theater im Stadthaus Rudolstadt, 7.7.
HERBST
– Danish String Quartet & Guests (Dänemark/Verschiedene) – Bygningskulturens Hus København, 3. – 5.10.
– Tony Allen (Nigeria/F) – Jazz No Jazz Zürich, 1.11.
– Daniil Trifonov (Russland) – Gewandhaus Leipzig, 7.11.
– Niels Frevert (Deutschland) – Jazzhaus Freiburg, 2.12.
– Arianna Savall Septett (Katalonien/N/D) – Forum Merzhausen, 7.12.
– Orchestre Philharmonique de Strasbourg, Ltg. Josep Pons (F/E) – Gustav Mahler, Symhonie Nr.6 – Palais des Congrès Strasbourg, 13.12.
– SWR Symphonieorchester, Ltg. Teodor Currentzis (D/GR) – Gustav Mahler, Symphonie Nr.9 – Konzerthaus Freiburg, 20.12.
Tony Allen, Jazz No Jazz Zürich, 1.11.
alle Fotos Stefan Franzen, außer Tony Allen Band (Marqs Kurz)
Danish String Quartet Festival Bygningskulturens Hus på Nyboder, København 3. – 5.10.2019
Das Danish String Quartet ist eine Klassikinstitution in der dänischen Kapitale. Und das, obwohl Rune Tonsgaard Sørensen (Violine), Frederik Øland (Violine), Asbjørn Nørgaard (Bratsche) und Fredrik Schøyen Sjölin (Violoncello) noch alle in ihren Dreißigern sind – ein junges Ensemble, das sich auf ungewöhnlichen Pfaden im Klassikbetrieb bewegt, denn sie verknüpfen immer wieder Töne der skandinavischen Folklore mit den großen Werken von Barock bis Romantik und kümmern sich auch um wenig gespielte Stücke der Moderne. Jedes Jahr leistet sich das DSQ ein dreitägiges Festival, das im familiären, intimen Rahmen in einem alten Kulturhaus im Norden Kopenhagens stattfindet, und zu dem sich das Ensemble Gäste aus aller Welt einlädt. Das Motto in diesem Jahr war die „spørgsmål“, um genau zu sein, die „ubesvaret spørgsmål“, also die unbeantwortete Frage, die in ihrer Gestalt als Charles Ives‘ „Unanswered Question“ auch im Fokus des zweiten Abends stand.
Als ich an diesem saukalten, windigen Frühoktoberabend meine Schritte in Richtung des Bygninskulturens Hus lenke, komme ich an endlos wirkenden puppenstubenartigen Reihenhäusern vorbei, die im knalligen Gelborange gestrichen sind (OK, ich habe mit dem Filter ein bisschen nachgeholfen): Wie ich später von einer Festivalbesucherin erfahren werde, sind das ehemalige Militärbaracken, die König Christian IV. bereits im 17. Jahrhundert erbauen ließ, für die Marine. Heute leben Hipster darin, die – natürlich, wir sind in Kopenhagen – alle Fahrrad fahren und ein Heidengeld für ihr stylishes Heim hinblättern. In diese Umgebung also ist das Festival eingebettet, auf das sich das Publikum schon frierend in langer Schlange am Eingang freut. Dann werden wir eingelassen, drinnen ein schöner, mit Schnitzereien vertäfelter Raum mit Rundumbrüstung. Ein paar Würfel stehen dekorativ an der Bühne, eine Mini-Montgolfière hängt von der Decke, und an der Bar mit Namen „The Oracle“ blinkt psychedelisch eine Kristallkugel. Zum Biergenuss auch während der Darbietungen wird man geradezu offensiv in den Programmtexten aufgefordert, soviel kann ich übersetzen.
Eröffnet wird das Festival vom angesagten isländischen Pianisten Vikingur Ólafsson, der in seinen Bachbearbeitungen wuchtig bis poppig-dramatisch wirkt, aber auch ein wenig maniriert mit abrupten Ausbrüchen und gezierten Gesten. In Bent Sørensens Komposition „Rosenbad – Papillons“ für Klavier und Streichquartett gefällt er mir besser. Das Stück aus einer Trilogie des bedeutenden dänischen Zeitgenossen, der auch selbst – leider exklusiv auf Dänisch – in sein Werk einführt, wird zur Entdeckung des Abends für mich: In seiner Klangsprache verbindet er einen romantischen Ton mit dissonanten Schichtungen, die Streicherarbeit ist oft ätherisch-glasig, viele Flageoletteffekte kommen zum Einsatz und Tremoli, geisterhafte Dämpfer-Effekte. Selten habe ich zwei musikalische Epochen in einer Komposition so aufregend kombiniert gehört. Beim abschließenden Ernest Chausson tritt noch eine Solo-Violine zur Besetzung hinzu, in Gestalt des Kammermusik-Spezialisten Alexi Kenney aus Kalifornien, der sehr physisch und fast jugendlich-heroisch spielt. Die – sehr beredte und fließende, kaum einmal pausierende – Tastenarbeit übernimmt Wu Qian. Es entsteht ein flimmerndes Spannungsfeld zwischen impressionistischen Harmonien, Wagner-Dramatik und dem melodischen Überfluss eines Schubert. Vor allem die Mittelsätze, eine ohrwurmhaft tänzerische „Sicilienne“ und ein „dickes“, schwermütiges Grave begeistern mich.
Enger geschnürt wird die Besetzung zunächst am zweiten Abend, das Eingangswerk hat aber ebenso Raritätencharakter: Ernst von Dohnányis C-Dur-Serenade für Streichtrio glänzt mit schönen Einfällen, etwa dem Bratschenthema im 2. Satz oder einer einfallsreichen Textur aus Pizzicati und Tremoli, ab und an bricht in der ersten Geige ein slawisch tönendes Schluchzen heraus. Mit dem anschließenden Mosaik um Ives‘ „Unanswered Question“ habe ich Schwierigkeiten: Das Ausgangsstück wird räumlich aufgefächert, die Streicher, Flöten und die Trompete gruppieren sich oben in den Ecken der Brüstung. Romantische Impromptus auf dem Klavier, fetzen- und floskelartige, aggressive bis geräuschhafte Miniaturen auf der Bratsche (Jennifer Stumm) und eine tieftraurige Schostakowitsch-Cellosonate (grandios in seinem intensiven, vollen Ton: Toke Møldrup) konterkarieren unten auf der Bühne, bis sich das Geschehen schließlich in ein Barockfenster öffnet: Henry Purcells „Chacony“ spielt das Danish String Quartet mit fast verzweifeltem Kreisen – hier wird die Frage nach dem Sinn musikalisch in großartiger Schmerzlichkeit eingefangen, mehr als 40 Jahre vor Bachs berühmter d-moll-Chaconne aus der zweiten Partita für Solovioline.
Geradezu konservativ nimmt sich dagegen der Finalabend aus: Aus dem Schumannschen Klavierquartett bleibt mir ein fliegender, „gehetzter“ zweiter Satz in Erinnerung, er erinnert mich and das Spukhafte aus den „Märchenbildern“. Und zum Schluss endlich wieder Skandinavisches: Das Streichoktett von Johann Svendsen ist so reich an verschiedenen Konstellationen und Zueinandergruppierungen und Dialogen von Stimmen, dass es nie langweilig wird. Mit seiner Ausreizung eines ständig präsenten Springrhythmus wirkt der erste Satz zwar fast ermüdend, doch im zweiten gibt es vielschichtige Anlehnungen an norwegische Folklore mit Doppelgriffen,Tremoli und Zupfpassagen, es riecht förmlich nach Tanzboden. Auch im langsamen Satz drückt die Atmosphäre der Volksmusik durch, wenn auch gemessener, subtiler, wie eine traurige, gesungene Weise, bevor spritzige, miniaturhafte Einwürfe das Finale prägen. Und als Zugabe: Eine bewegende, feingesponnene dänische (?) Volksweise in majestätischer Achter-Stärke.
Ein Festival in einem Land zu besuchen, dessen Sprache – und daher auch Ansagen und Programmtexte – ich nicht ansatzweise verstehe, war eine interessante Erfahrung. Denn so musste ich mich jenseits jeglicher vorauseilender Deutung auf die Aussagekraft der Musik selbst konzentrieren – und zwangsläufig blieben eine Menge Fragen offen. Doch vielleicht ist es genau dieser Effekt, den die vier Herren ohnehin erzielen wollten – denn wie schrieben sie im Geleitwort: „Normalerweise stellen wir Fragen, wenn wir Wissen erwerben möchten. Aber die wichtigen, ewigen Fragen sind die, bei denen die Antwort nicht klar und messbar ist.“
Die Musik des dänisch-schwedischen Trios Dreamers‘ Circus ist so zum Niederknien schön, dass man sich fast schämt, dürre Worte dafür finden zu müssen: Geiger Rune Tonsgaard Sørensen kennt man vom Danish String Quartet, hier hat er sich mit dem Zupfinstrumentalist Ale Carr und Tastenmann Nikolaj Busk zusammengeschlossen. Dieses dritte Werk hat das Zeug zum Kammer-Album des Jahres: Die drei verweben in stets ausgefeilten Arrangements ihre skandinavischen Wurzeln, mal still, mal tänzerisch, mit dem spirituellen Ton eines Arvo Pärt und leichten Americana-Verwehungen. Cittern, Violine, Harmonium, Spinnett und Synths ordnen sich zu feinsinniger, melodieseliger Folk-Noblesse.
Die Reihe „Møn Sessions“ stellt bereits im zweiten Jahrgang herausragende Folkkünstler Skandiaviens in Unplugged-Settings vor, dazu gibt es schöne Aufnahmen von der Inselwelt in der Ostsee durch die Jahreszeiten hindurch.