Kreolische Würde

Foto: Stefan Franzen

Leyla McCalla
Le PréO, Oberhausbergen (F)
6.11.2024

Avantgardistisch mutet es an, was der weiße Abolitionist Frederick Douglass 1857 formulierte, im Vergleich zu der jetzigen Situation Amerikas, wo sich nun mehr als die Hälfte eines Volkes sehenden Auges in die Steinzeit nicht etwa zurückgebombt, sondern demokratisch „zurück-gewählt“ hat. Douglass forderte, dass Befreiung und Gleichberechtigung nicht durchs bloße Darüber-Sprechen realisiert werden, sondern dass man sich zu transformativen Maßnahmen verpflichten muss. Von Befreiung und Gleichberechtigung ist das amerikanische Volk seit gestern wieder viele Tausend Meilen entfernt. Leyla McCalla zitiert Douglass im Titelsong ihres neuen Werks Sun Without The Heat.

An so einem Abend auf die Bühne zu gehen, muss für die US-Haitianerin, deren Eltern als Bürgerrechtler vor dem Gewaltregime Haitis geflohen waren, eine zentnerschwere Last gewesen sein. Die man ihr anfangs auch anmerkt. Die Show im PreÓ von Oberhausbergen im Strasbourger Vorland kommt nur schleppend in Gang, was aber auch am nicht ganz so starken Songmaterial des neuen Albums Sun Without The Heat liegt. Mit einer Widmung an die schwarze Bevölkerung der Atlantik-Inseln vor Georgia, die bis heute vom Leben in den USA abgehängt sind, eröffnet sie den Abend. Durch ihre Begleitgitarre schickt sie einen Filter, der die Akkorde herumeiern lässt. Ihr geradezu zierlicher Sologitarrist Nahum Zdybel steuert Schwelltöne, Rückwärtsschleifen und pointierte Kracher ein, während  ihr Drummer mit feinem Mallett-Zwirbeln und federnder Latin-Gestaltung die Rhythmen zwischen kreolischem Walzer, Samba-Anleihen und zupackendem Rockgestus entfaltet. Bassist Pete Olynciw bleibt eher unauffällig und relaxt.

McCalla spielt sich auch dank ihrer Band frei. Stark sind die auf Kreyol gesungenen Songs, die sie aus der Tradition Haitis bezieht, begeisternd ihrer Einschübe auf dem Cello, ihrem Herzensinstrument, dem sie seit der Ausbildung an der Juilliard School verbunden ist. Ihre rustikale, von aller Schönfärberei weit entfernte und doch so empfindsame Stimme im Verbund mit den Pizzicati und dem wunderbar volltönenden Bogenführung: vielleicht der Höhepunkt des Abends. Oder doch die Zugabe „Capitalist Blues“? Ein behäbiger, geschlurfter und bitter-ironischer New Orleans-Ton zieht sich durch dieses Stück, das eine charmante Verweigerung der Marktgesetze in dieser kalten Welt ist, die sie nicht „inspirieren“. „Ich schwimme im Haifischbecken und habe nichts mehr zu verlieren.“

„Wir brauchen den Humor an diesem Abend“, sagt sie, der sei nun überlebenswichtig. Und stößt einen Laut aus, der zwischen Stöhnen, Ekelbekundung und trotzigem Lachen liegt. Dass genau zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Markt-Höriger Nummer Eins vor die Tür gesetzt wird, kann sie nicht wissen. Leyla McCalla hat diesem absurden Tag mehr als einen Hauch humaner Würde zurückgegeben.

© Stefan Franzen

Leyla McCalla: „Crown“
Quelle: youtube

Seiltanzende Hoffnung

    Fotos: Stefan Franzen

João Bosco & Jacques Morelenbaum
Volkshaus Basel
22.10.2024

Sogar Polizisten haben geweint, als sie sein „O Bêbado E A Equilbrista“ auf Protestkundgebungen hörten, so ist überliefert. Mit diesem versonnenen Samba hat João Bosco seinem Volk Ende der 1970er  eine hoffnungsvolle Hymne geschenkt, als die Dämmerung der brasilianischen Diktatur heraufzog. „Die Hoffnung tanzt mit einem Schirm auf dem Drahtseil, und mit jedem Schritt kann sie sich verletzen“, heißt es da. Als Bosco, der heute 78-jährige, dieses Lied am Ende seines Auftritts im Basler Volkshaus anstimmt, ist es andächtig ruhig. Viele wissen, es könnte das letzte Mal sein, dass sie den 78-Jährigen auf der Bühne erleben.

Man höre drei bis vier beliebige Platten von João Bosco aus verschiedenen Phasen seiner Karriere – und man erhält ein umfassendes Bild der modernen brasilianischen Musik. Mehr als alle seine gleichaltrigen Landsleute hat der Gitarrenpoet mit dem markanten Gesicht – Kennzeichen Vollbart und Barett – das ganze Kaleidoskop Brasiliens im Laufe von 50 Jahren beeindruckend gebündelt. Den Samba erhob er zu hochstehender lyrischer Kunst, integrierte Afrikanisches und Arabisches, Jazz und Soul in seine Kompositionen. Private Liebe genauso wie die große Politik fasst er in Vierminutengeschichten, kreiert meisterhafte Lautmalerei. Neben Gilberto Gil, Caetano Veloso und Milton Nascimento ist er ohne Zweifel die vierte männliche Säule der Música Popular Brasileira.

Eine Säule, die sich auf der Bühne noch hochlebendig und viril zeigt. Boscos Gitarrenspiel ist noch immer ausgefuchst, rhythmisch vielgestaltig, komplex und präzise. Seine Gesangsstimme ist ruppiger geworden, die Ecken und Kanten, die er vokal immer schon hatte, treten noch mehr zutage, er bellt besonders die afro-brasilianischen Anrufungstöne, die Verweise auf die Musik der indigenen Yanomami auch mal heraus, spielt geradezu rotzig und trotzig mit dem Klang des Portugiesischen, das nicht weich und rund, sondern fordernden Charakter annimmt. Eine ganz eigene Form von lusophonem Scat hat er da geformt.


Als lyrischer Gegenpol agiert sein Partner: Jacques Morelenbaum, noch Mitglied der letzten Band von Antônio Carlos Jobim, hat auch mit 70 wenig von seinem vollmundigen, empfindsamen Gesang auf dem Cello verloren. Große Gestaltungskunst ist es, wie er über die Ausgangsmelodien improvisiert, sei es bei einem Bossa-Klassiker wie „Desafinado“, oder in einem Intro, das aus dem „Concierto de Aranjuez“ von Joaquín Rodrigo gebaut wird. 90 Minuten mit zwei alten weißen Brasilianern, die doch die ganze Welt in ihrer Duokunst fassen – ein nicht nur nostalgisches, sondern aktuelles, kurzweiliges Ereignis.

© Stefan Franzen

João Bosco, Vanessa Moreno Jacques Morelenbaum, Mestrinho: „O Bêbado E A Equilibrista“
Quelle: youtube

 

Regentschaft der Nacht

Fotos: Stefan Franzen

 

Arooj Aftab
Karlstorbahnhof Heidelberg
21.10.2024

Sie ist eine selbsterklärte Nachteule. Die Sängerin und Songwriterin Arooj Aftab (sprich: aruudsch), erste Grammy-Preisträgerin mit pakistanischen Wurzeln, verbeugt sich auf ihrem neuen Album Night Reign (Verve) vor der inspirierenden Kraft der Nacht. Ihr vorangegangenes Album Vulture Prince habe ich auf diesem Blog bereits in höchsten Tönen gepriesen. Und so war es Pflicht, sie endlich einmal auf der Bühne zu erleben, auch wenn der Weg zu dieser Bühne 200 km betrug.

Aftab schreitet vorsichtig, mit dunkler Brille ans Mikro des bestens besuchten Karlstorbahnhofs (ihre Augen, so entschuldigt sie sich, seien noch völlig verquollen von der nächtlichen Feier nach der Show in Berlin). Sie und ihre Band sind eingehüllt in majestätisches Dunkelblau. Sofort schafft diese Stimme eine fantastische Atmosphäre: Die Fülle ihres Timbres, gepaart mit den ornamentalen Schleifen, die zarte Diktion im Idiom Urdu, all das minimalistisch vorgetragen mit kaum einer körperlichen Regung und nur scheinbar halb geöffnetem Mund, greifen tief in meine Seele.

Arooj Aftab hat ihre Musik früher einmal als „Neo Sufi“ bezeichnet, davon ist sie abgerückt, das Etikett passt auch lange nicht mehr. Zwar beziehen sich einige ihrer Verse tatsächlich auf die mystische Poesie eines Rumi, wie in ihrem rhythmisch freien Remake von „Last Night“ (auf Vulture Prince noch ein Reggae), in dem der Mystiker die Schönheit des/der irdischen oder himmlischen Geliebten mit dem Mond vergleicht. Andere Verse aber sind deutlich jüngeren Datums, etwa aus der Feder der Urdu-Poetin Mah Laqa Bai Chanda, oder sie drehen sich um zeitgenössische Themen, wie etwa die unterbrochene Liebesanbahnung bei einer Party.

Singt sie auf Englisch, wie etwa in „Whiskey“, stößt sie auch mal angenehm an die Grenzlinie zum folkigen Pop. Doch in ihrem Gesang werden all diese Themen, banal oder nicht, zu etwas Erhabenem geläutert. Es mag verwirren, dass der Humor und das Selbstbewusstsein dieser Frau in den Ansagen dann so durch und durch down to earth sind  – etwa, wenn sie kritisiert, dass auf ihren Postern nur ihre „exotischen, nahöstlichen“ Augen zu sehen sind. Das sei ja schließlich rassistisch.

Aftabs Mitmusiker schaffen zugleich ein spannungsreiches Miteinander und ein homogenes Bett für die Sängerin: Petros Klampanis (auch er ein Blog-Liebling) fundiert satt mit lebendiger, sehr kantabler Tiefregister-Melodik und markiert nur mit einer Fuß-Schelle sanft, aber  fast überflüssig die Beats. An der Akustikgitarre steuert Gyan Riley (Sohn des Minimal Music-Pioniers Terry) leichtfüßig fliegende Improvisationen bei, die ab und an auch mal an der Flamenco-Pforte anklopfen. Und der Geiger Darian Donovan Thomas, mit der Optik eines Herrschers über ein vergessenes Afro-Fantasiereich, schweift mit seelenvollen Linien um die Stimme, verblüfft aber vor allem mit erfindungsreicher Pizzicato-Ausgestaltung, die sich mal mit Riley, mal mit Klampanis verbündet.

Am Ende, ohne Gesichtsverdunklung, intoniert diese sagenhafte Frau dann noch „Mohabbat“, ihre Vertonung eines berühmten Gedichts des Poeten Hafeez Hoshiarpuri (1912-1973). So etwas wie ihr Hit, der von den nicht wenigen Landsleuten im Auditorium mehrfach seufzend eingefordert wurde. Schon jetzt eines der überragenden Konzerte des Jahres 2024.

© Stefan Franzen

Arooj Aftab: „Aey Nehin“
Quelle: youtube

Vogel des himmlischen Gartens

Fotos: Stefan Franzen

Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian
In The Footsteps Of Rumi
Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier
10.09.2024

Das Festival Arabesques in Montpellier hat mittlerweile schon eine fast 20-jährige Tradition. An verschiedensten Spielorten der für mich schönsten französischen Stadt präsentiert das Team vorrangig Musikerinnen und Musiker, die im sogenannten Okzident noch keine klingenden Namen haben, der Entdeckungsfaktor ist groß! Für uns war es das erste Mal, dass wir in die Arabesken eingetaucht sind, und das Eröffnungskonzert entpuppte sich als überragendes Erlebnis.

Bei Constantinople handelt es sich nicht etwa um ein Ensemble aus Istanbul, sondern die Gruppe um den Exil-Iraner Kiya Tabassian ist in Montréal beheimatet. Der Name ergibt Sinn: Wie Montréal heute war Konstantinopel seinerzeit Drehscheibe der Begegnung von Völkern und Kulturen. Traditionen von Andalusien bis Anatolien, von den jüdischen Shtetls bis zur iberischen Romanze, von Korsika bis Persien bündelt Constantinople zu einer neuen Vision. Um den Lautenisten und Sänger Tabassian scharen sich zu diesem Zweck stets neue Gäste, etwa die Sängerin und Autorin Ghalia Benali aus Tunesien. Mit ihr haben sie das Projekt In The Footsteps of Rumi erarbeitet, das kleine Textauszüge in persischen und arabischen Versen aus dem immensen Werk des berühmten islamischen Mystikers des 13. Jahrhunderts zu neuen Arrangements setzt.

Das Konzert in der plüschigen Atmosphäre der vollbesetzten Opéra de la Comédie lebt vom Kontrast der beiden Stimmen. Reizvoll, wie Benalis tiefes, resolutes und machtvoll-erdiges Timbre wechselweise mit der feingliedrigen, verzückten Vokalkunst von Kiya Tabassian die spirituellen Metaphern interpretiert. Gestenreich deklamierend, vielleicht etwas zu plakativ unterstützt durch eine rote Federboa, trägt Tunesierin die Poesie vor. Tabassians Linien auf der Langhalslaute vereinigen und umschlingen sich mit den charakterstarken, selbstbewussten Improvisationen der Kastenzither Kanun (Didem Basar). Spannend, dass keine persische Kamancheh für die Textur gewählt wurde, sondern mit dem türkischen Schwesterinstrumente Kemence (Solistin: Neva Özgen) noch einmal ein ganz anderes Obertonspektrum zum Tragen kommt. Für die perkussive Stütze wählt Constantinople mit Patrick Graham und Hamin Honari ein Zweiergespann, das mit Rahmentrommel, Tombak und kleinem Schlagwerk-Set eine variable und flexible Rhythmusgebung ermöglicht.

Ich kann in den letzten Jahren auf wenige Konzertereignisse dieses Kulturraumes zurückschauen, die mich so in den Bann gezogen hätten. Besonders ergriffen hat mich das Stück „Morghe Bâghe Malakout“:

Ich bin ein Vogel aus dem Paradies, nicht vom Reich der Erde bin ich,
für ein paar Tage gefangen in meinem Käfig aus Fleisch und Knochen.
Die duftende Morgenbrise bringt Kunde von der Vereinigung,
mit Freude und mit Gesang werde ich diesen Käfig, diesen irdischen Thron verlassen.

Das Festival Arabesques dauert in Montpellier noch bis zum 22.9. an.

© Stefan Franzen

Constatinople feat. Ghalia Benali: „Morge Bâghe Malakout / Ya Mounir“
Quelle: youtube

Jeder Ton ein Kuss

Marisa Monte
ZMF Freiburg
02.08.2024

„Samba, Bob Marley und Stevie Wonder haben in meinem Innern immer in Frieden gelebt“, hat sie dem Autor dieser Zeilen einmal gesagt. Aufgewachsen im Umkreis von Rio de Janeiros Sambaschule Portela war Marisa Monte seit ihren frühen Alben der 1990er immer eine Brückenbauerin zwischen den Rhythmen Brasiliens und dem international verständlichen Pop. Sie ist eine der wenigen Brasil-Stars, die in Rio, New York und Berlin fast gleichermaßen bekannt sind. Jetzt ließ die 57-Jährige auf dem ZMF ihre Laufbahn schon mal Revue passieren.

Stimmige Gesamtkunstwerke mit leicht theatralischem Touch sind Montes Bühnenmarkenzeichen: Sie überrascht im eleganten schwarzen Flamencokleid samt Cordobés-Hut, wirkt unglaublich gelöst und kommunikativ. Ihre Hände fließen, ihre Augen scheinen im Rund des vollen Zeltes wirklich Jede und Jeden zu suchen. Und diese Stimme! In ihrer fruchtigen Bittersüße und ihrer schmerzlichen Wehmut immer präzise. Mit dem zeitlosen Porträt einer (freiheits-)liebenden Frau, „Maria de Verdade“ hat sie das Publikum sofort – die zahlreichen jungen, textsicheren Brasilianerinnen sowieso, die mit verzückten „Linda“- und Maravilhosa“-Rufen die Pausen garnieren. Marisa Monte ist ihre Taylor Swift.

Die eher ruhigen Songperlen aus Montes Fundus bestimmen große Teile der Show: das geheimnisvolle „Infinito Particular“ mit schwebenden Harmonien, der zirpende Walzer „Vilarejo“, oder das rhythmisch fast freie „Diariamente“ mit sprachspielerischen Plopp-Versen. Zu Brasiliens heimlicher Hymne, dem fast hundert Jahre alten „Carinhoso“, faltet sie die Hände zur Rose und zaubert chromatisches Melos. Zum Hinterhof-Samba „De Mais Ninguém“ mit dem Ukulelen-Instrument Cavaquinho und Brasiliens Mandolinen-Variante Bandolim wird an der Seitenlinie versunken getanzt. Hier ist jeder Ton ein Kuss, jede Phrase eine Umarmung.

Die Band bleibt dienend und unauffällig: Schöne Bassläufe schickt der unglaublich relaxte Altmeister Dadi Carvalho, Gitarrist Davi Moraes streut mal ein glitzerndes E-Gitarren-Solo ein, textiert sonst viel mit Liegetönen, und Drummer Pupillo ist eine Blaupause für Ruhepuls. Über der Perkussion thront ein Siebzehnjähriger: Pretinho da Serrinha tupft mit Conga, Holzblock, Tamburin und Brummtopf, ist auch ein Meister des Cavaquinho. Seine Feinheiten hört man selten, denn wieder einmal bleibt das Dauerärgernis ZMF-Sound: Angenehm in der Lautstärke zwar, aber so seltsam abgemischt, dass die Musiker wie hinter Gaze agieren, und Montes Stimme oft in der Band untergeht, statt sich über sie erhebt. Das tut dem Tanzfinale keinen Abbruch: Songs aus dem „Tribalistas“-Projekt wie der Ohrwurm „Já Sei Namorar“ mit Jubelrefrain und die wendige Funkyness von „A Menina Dança“ reißen alle von den Stühlen. Rio zu Gast am Mundenhof inklusive tropischem Regen – ein Abend purer Glückseligkeit.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 05.08.2024

Von Brooklyn in die Oase

Chassidische Kantoren aus Brooklyn auf dem Pfad des Soul und der Klassik, wilder Desert Blues aus dem Jemen, „Sufi“-Synagogen-Musik der Nachfahren aus einer marokkanischen Oase: Danke André Heller, für diese seelenvolle, erleuchtende und beglückende Jewish Night in der Elbphilharmonie!

 

Fotos: © Stefan Franzen

Rio trifft Genf

Ein Brasil-Star und junge Wilde aus der Romandie: Am Sonntag im Zürcher Moods ein grandioses Wiedersehen mit Joyce Moreno nach unserem Hausbesuch in Rio 2005 – und eine Entdeckung mit dem honduranisch-schweizerischen Gitarristen Louis Matute und seinem Large Ensemble. Zu ihm Anfang 2024 mehr!

Louis Matute Large Ensemble: „Renaissance“ (live aus Duc des Lombards)
Quelle: youtube

Erfindungsgeist eines Giganten

Foto: Daniel Dittus

Caetano Veloso
Elbphilharmonie Hamburg
04.10.2023

Seit 55 Jahren hat er Brasiliens Pop ein Gesicht gegeben. Caetano Veloso, der größte lebende Musiker seines Landes, hat nun in der Elbphilharmonie Hamburg sein wohl letztes Deutschlandkonzert gegeben – mit immer noch beeindruckender Stimme und Schaffenskraft. Eine Besprechung zum 9.Geburtstag dieses Blogs.

Auf der endlosen Rolltreppe zum großen Saal der Elbphilharmonie posiert ein nicht mehr ganz so junger Gitarrist mit seinem Instrument und ruft: „Ich werde Caetano sehen!“ Inbrünstig schickt er einen deftigen portugiesischen Kraftausdruck nach. Es ist ja auch ein besonderer Abend, an dem man überall leuchtende Augen sieht, in vielen brasilianischen, aber auch internationalen Gesichtern verschiedenster Generationen. Der Größte, Caetano Veloso, er ist nochmals in Europa, bevor er dann nur noch auf seinem Alterssitz chillen will, so heißt es.

In Vita und Werk des jetzt 81-Jährigen spiegelt sich die Geschichte seines Landes mit aller Fülle und allen Gegensätzen. Mitte der 1960er aus dem afrobrasilianisch geprägten Bahia nach Rio de Janeiro gekommen, bietet er dem Militärregime die Stirn mit dem „Tropicalismo“, mehr eine Bewegung als Musik, in der er anarchisch Urwald, Karneval und Moderne mit Beatles-Tönen und Psychedelischem collagiert –  aufbegehrende Texte inklusive. Der Lohn: Monate der Einzelhaft und Abschiebung ins Londoner Exil Anfang der 1970er. Als er zurückkehrt, begründet er die moderne Popmusik Brasiliens, die er über die Dekaden mit Folklorefarben aller Gegenden des Riesenlandes füllt, aber auch mit italienischen und spanischen Tönen, mit den Trommeln Bahias, sogar mit Noise Rock. Jede seiner Platten erzählt eine eigene Geschichte, wie ein Film mit Kulisse der jeweiligen Zeit. Sein Werkzeug: eine Stimme, die schwere- und geschlechtslos scheint, traumtänzerisch sicher war und ist. Diese Stimme, sie singt von Liebe in all ihren Schattierungen genauso metaphernreich und wortspielerisch wie sie über Politisches spricht.

Dass Veloso nun – wie sein kürzlich in Freiburg zu hörender enger Freund Gilberto Gil – den Rückzug ankündigt, scheint fast unwirklich. Denn im Unterschied zu Gil hat er unlängst mit dem blutjungen Gitarristen Luca Nunes ein brandneues Werk ausgeheckt, „Meu Coco“ heißt es und spreizt sich anspruchsvoll zwischen Samba und sperrigem Autoren-Rock. So wird sein „Adeus“ keine familiäre Best Of-Revue, sondern eine hochaktuelle, hellwache Show mit stilistischen Sprüngen – und klar, einem Querschnitt durch seinen Katalog.

Unbeschreiblich der Jubel, als der Altmeister im Kreise seines Quintetts ins Spotlight tritt. Zeitlos in grau-schwarz, mit eleganter Gestik und fast jugendlicher Lässigkeit steht er im Lichtkegel, wagt immer wieder ein paar tänzelnde Ausfallschrittchen, schenkt immer noch sein einzigartiges androgynes Lächeln. Wenn er in Solo-Intros frei brilliert, zeigt sich, dass seine Stimmbänder nur ganz schwach von Patina angetupft sind, ansonsten flexibel und leuchtend schwingen wie vor Jahrzehnten.

Im Titelstück des neuen Werks, ein fast tropikalistisches Wimmelbild von Silben und Namen, feuert sein Gesang gar pfeilscharfe Akzente, in „Anjos Tronchos“ einem Stück Technologiekritik, setzt er sich gegen Rockriffs im Blitzgewitter durch. Siebzigerkeyboards unterfüttern „Não Vou Deixar“, die mutige Konfrontation mit Bolsonaro: „Ich werde dich nicht an der Geschichte unseres Landes herumschnitzen lassen!“ Und dann eine faustdicke Überraschung in „Ciclâmen Do Líbano“: Veloso zupft eine Bossa Nova-Gitarre, doch die Strandrhythmen paaren sich mit arabesken Skalen. So hört sich der Erfindungsgeist eines Giganten an.
Unter Leitung von Luca Nunes halten sich die Musiker nicht begleitend zurück: Besonders Kainã do Jêjê und Thiaguinho da Serrinha sorgen hinter Plexiglas für ein perkussives Powerhouse von satter Samba-Wucht bis feinem Conga-Streicheln, der Langzeit-Partner Alberto Continentino befeuert mit wendigen Bass-Einlagen. Und immer wieder würzt Nunes mit borstiger Verzerrergitarre, während Rodrigo Tavares auch mal fruchtig-flötengleiche Klangfarben aus den Keys holt.

Natürlich brandet der größte Jubel bei den Klassikern auf, aus denen die Band eine Menge Steigerungsdramatik herausholt: „Desde Que O Samba É Samba“ feiert – innig mitgesungene – Sambamelancholie, während „Michelangelo Antonioni“ Velosos Liebe fürs Italo-Kino der 1950er in Szene setzt. Und in der soulig aufgehübschten Ballade „Leãozinho“, ein anrührend zärtlicher Moment, strahlt adoleszentes Falsett. Dann wendet sich Veloso ans Publikum, erzählt, wie er wiederholt junge Musiker um sich scharte, um die Flamme der brasilianischen Popmusik mit neuer Nahrung zu versorgen. Beleg ist das packende Final-Stück aus jüngerer Zeit, „A Bossa Nova É Foda“:  ein Preis der Bossa in fast mythischen Bildern und frechem Noise-Sound bündelt nochmals alles Kräfte. Man will ihn nicht ziehen lassen: drei Zugaben, Dutzende eilen an den Bühnenrand, zum Erhaschen seines Händedrucks. Dann geht er durchs Tosen des ausverkauften Hauses ab – aber ein wenig geht er mit der Aura eines Unsterblichen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 6.10.2023

 

Intimer Ozean von Stimmen

Sílvia Pérez Cruz
Toda La Vida, Un Día
(Universal Spain)

live: Teatro Municipal Girona, Katalonien
21.04.2023

Ihr bislang umfassendstes Opus veröffentlicht die Katalanin Sílvia Pérez Cruz: Mit 90 Musikern, in 21 Songs und fünf Kapiteln erzählt sie die Stationen eines ganzen Menschenlebens von der Kindheit bis zur Wiedergeburt. Es gibt „Stubenmusik“ mit Geige, Cello und Kontrabass, in der „Planetes I Orenetes“, ein Lied mit fast schwalbengleichem Melodieflug und lydischer Skala heraussticht. Ein zu ausuferndes Flamenco-Drama , aber auch ein sagenhaftes Interludium mit Saxophonquartett („Sin“) gestalten den Abschnitt über die Jugend, der daran erinnert: Ursprünglich studierte Pérez Cruz Saxophon, wollte gar keine Sängerin werden. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.

Sílvia Pérez Cruz: „Sin“
Quelle: youtube

In den übrigen drei Kapiteln von Toda La Vida, Un Día dreht sich im Grunde alles um Stimmen, nicht nur um die der Protagonistin: Viele fast kontemplative Gastduette geben der fünfsätzigen Suite Konturen, sei es mit dem Portugiesen Salvador Sobral, der Mexikanerin Natalia Lafoucarde oder der unter Quincy Jones-Protektion stehenden Maro. Mit ihr hat sie eine brasilianisch gefärbte Miniatur („Estrelas Y Raiz“) eingespielt, die man trotz der kurzen Dauer von zwei Minuten nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Plötzlich bekommt ein italienischer Chor einen Auftritt, und immer wieder kehrt ein 30köpfiges Vokalensembles von Freunden zurück, das oft volkstümlich katalanisch koloriert, sich am Ende dann zum experimentellen Klangozean weitet. Elektronische Experimente wie noch beim Vorgänger halten sich im kleinen Rahmen, Reduktion ist gefragt: Das gilt auch für Pérez Cruz‘ Ton, der stets einen zurückhaltenden, nie dramatischen Gestus hat. Die immer noch größte Sängerin Iberiens hat aus den Schmerzen der Pandemie ein sehr heterogenes Kaleidoskop von Argentinien über Barcelona bis Island geformt, das trotz der vielen Mitwirkenden immer intim bleibt.


Und gerade wegen dieser Intimität kann sie die Songs beim Release-Konzert in Girona auch ohne Verlust der Klangfülle mit gerade mal vier Musikerinnen und Musikern auf die Bühne bringen: Die Kammer-Atmosphäre der Kindheit gestalten Carlos Montfort an der Geige, Marta Roma am Cello und Bori Albero am Kontrabass. Die Stärke des Quartetts besteht darin, dass die Akteure umsteigen können auf Schlagzeug (sehr feinfühlig: Montfort), auf kurze und effektvolle Trompetenfanfaren, auf Keyboard-Texturen. Einige der Stücke finden sich in A Cappella-Arrangements wieder, das Sax-Quartett ist für Streicher gesetzt, während Sílvia Pérez Cruz selbst mit erkennbarem Spaß zu ihrem Erstinstrument greift.

Da es für sie ein Heimspiel ist, kann sie aus einer Fülle von Anekdoten schöpfen: Launige Ansagen ziehen sich durch die Show, die auch mal in ganz andere mediterrane Gefilde abschweift, etwa mit einem Cover von Gino Paolis „Senza Fine“. Am Ende gibt es einen Intensivkurs ihres Ranchera-Klassikers „Mañana“, der erst abgeschlossen ist, als das Auditorium geschlossen Zeile für Zeile mitsingt.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Planetas I Orenetes“
Quelle: youtube

 

Ohrwürmer mit Posaune

CATT
Jazzhaus Freiburg
07.12.2022

Das Wendland – ein fruchtbarer Boden nicht nur für die Ökobewegung. „Zwischen Wäldern, Feldern, klassischem Pianounterricht und Posaunenchören“ ist Catharina Schorling dort aufgewachsen, verrät ihr Pressezettel. Als Mittzwanzigerin hat sie einen erstaunlichen Weg hinter sich: Versiert auf Klavier, Gitarre, Trompete, Posaune und Waldhorn veröffentlichte sie seit 2018 in viel Solo-Tüftelei zwei EPs und einen Longplayer, hat sich in etlichen Teamworks, etwa mit Niels Frevert und dem Filmorchester Babelsberg erprobt. Fürs zweite Album macht Schorling, Künstlermarke CATT, den Schritt zur Band. Die Show, die sie in dieser Besetzung im Jazzhaus hinlegte, ließ aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Junge bis sehr junge Frauen bevölkern das Gewölbe, dazwischen ein paar ältere Semester. Goldrichtig sind hier alle: denn Schorling kreiert zeitlose Liedkunst mit Ideenfülle und Raffinesse auf handwerklich höchstem Niveau. Song-Intros, die heute oft als verzichtbar gelten, sind bei ihr gleich mal klassisch ausgefeilte Prologe. Melodien schwingen sich von Ohrwurm-Passagen zu soulig jauchzenden Schleifen, wie etwa in „Moon“. „The Space“ hält als Überraschung organische Loops mit Trompete und Posaune parat, Folk-Tugenden mit Open Tuning auf der Gitarre begeistern in „I’m The Wind“.

Und dann die Band, der zweite Star des Abends: Mit knackigen Funkriffs grundiert Paul Rundel in „Willow Tree“, wechselt auch mal empfindsam zur Bratsche, flicht von seiner Moog-Station selten gehörte Keyboardeffekte ein. Drummer Michèl Martins Almeida hat genau das richtige Feingefühl, den Sound nicht mit zu viel Physis mundtot zu machen. Und immer wieder Gitarrist Felix Anton Remm: Sein grandioser Umgang mit Hall katapultiert hinaus in die Weiten des Alls, oder, im fantastisch sich steigernden „Sea“, mit Möwen-Sounds an den Küstensaum. „Ein Song kann eine Heimat sein“, bekennt Schorling. An diesem Abend hat sie vielen ein Obdach gegeben. Und die Erkenntnis: Songwriting aus Deutschland kann auch jenseits vom Feuilleton-Pop auf der einen und Radio-Dutzendware auf der anderen Seite richtig begeistern.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 10.12.2022