Allgemein
Rudolstadt-Nachlese in Bildern II: Der Samstag
Der Maori-Musiker Jerome Kavanagh (Small Island Big Song)
Small Island Big Song
Yoyo Tuki (Rapa Nui – Osterinsel) & Charles Maimaroisa (Salomonen-Inseln) von Small Island Big Song
Alena Murang aus Sarawak, Borneo an der Sape-Laute (Small Island Big Song)
Die indigene Musikerin Ado Kaliting Panical vom Volk der Pangcah aus Taiwan (Small Island Big Song)
BraAgas (Mähren)
Monica Njava von Toko Telo (Madagaskar)
Hudaki Village Band (Ukraine)
Luedji Luna (Bahia, Brasilien)
alle Fotos: Stefan Franzen
Rudolstadt-Nachlese in Bildern I: Der Freitag
Soweto Soul (Südafrika)
Die 29. Ausgabe des Rudolstadt Festivals stand im Zeichen des Iran,
der pazifischen Kultur der Austronesier und vieler Highlights von Brasilien bis Russland.
Ein dreiteiliger Streifzug in Bildern.
(alle Fotos: Stefan Franzen)
Ali Ghamsari (Iran)
Ayça Miraç Quartett (Türkei-Lasistan-Deutschland)
Hamnava Ensemble (Iran)
Tribute to Márkos Vamvakáris (Griechenland)
Stiller Meister der Flausen – João Gilberto ist gegangen
Es war im Juli 2003, ein glühend heißer Sonntag am Genfer See, und das Montreux Jazz Festival hatte einen fast unwirklichen Gast. Wenig bis nichts hatte man von ihm gehört seit etlichen Jahren, doch da saß er tatsächlich auf der Bühne des Auditorium Stravinski, mit dicker Brille, Anzug und seiner Gitarre, die nur er so spielen konnte. Und uns war klar, dass wir zu den wenigen Auserwählten gehörten, die ihn in seiner zweiten Lebenshälfte hören durften mit seiner näselnden Stimme, die wie das Säuseln des Windes an einem ruhigen Strandabend in Ipanema klang, ein Abend, wie es ihn noch gab, als er seine Sechssaitige nach Rio brachte.
Vielleicht ist es die sanfteste Revolution der Musikgeschichte, die João Gilberto Prado Pereira de Oliveira 1958 losgetreten hat. Als erfolgloser Bohèmien lebt der krausköpfige Bursche mit den treuherzigen Augen in Rio zunächst jahrelang in den Tag hinein, mit seiner Gitarre war er aus Bahia gekommen, um am Zuckerhut das Glück zu suchen. Doch er verschwindet zunächst wieder ins Hinterland, nach Diamantina zu seiner Schwester, wo er an einer neuen Erfindung tüftelt. Und diese Erfindung macht ihn zum Tagesgespräch: In besessenen Monaten des Gitarrenübens auf einem winzigen Klo – des guten Echos wegen – entwickelt er eine verzögerte Phrasierung zwischen Instrument und Stimme, komplexe Harmonien und zarte, fast gesprochene Lautmalerei wie in seinen frühen Songs „Hô-bá-lá-lá“ und „Bim Bom“. Und irgendwie gelingt es ihm, das perkussive, erdige Flechtwerk des Sambas auf sechs Saiten zu einem Swing der mühelosen Schönheit zu bündeln. Die er seitdem immer weiter perfektioniert.
Sie wird die Formel der Jugend: Seinem neuen Gitarrenbeat, der bald Bossa Nova genannt wird (wörtlich etwa: „neue Flause“), verfallen in Rio die Söhne und Töchter der Bourgeoisie, musikalische Vordenker werden aufmerksam, unter ihnen der Komponist Antônio Carlos Jobim. Der hat ein Lied in der Schublade, mit Gilbertos intimer Stimme und dem neuen Zupfmuster würde sich das toll anhören, denkt er. „Chega de Saudade“ verändert Brasilien: Hinweggefegt der schwülstige Muff, der traurige Herzschmerz des alten Samba Canção. Von „peixinhos“ und „beijinhos“ künden nun wortspielerische Verse, „so viele Fischlein schwimmen nicht im Meer wie ich dir Küsschen auf den Mund drücken werde, wenn du zurückkommst.“ Drei LPs nimmt das Erfolgsduo Gilberto/Jobim bis 1961 auf, die rund 40 Stückchen begründen den Kanon der Bossa Nova mit späteren Welthits wie „Corcovado“, „Desafinado“ und „Samba De Uma Nota Só“. Leichtfüßigkeit mit Flöte, ein wenig Percussion, Pianotupfer und dieser unglaublich wendigen Stimme – eine raffinierte Schablone, die auch die USA besitzen wollen. Nach einem Carnegie Hall-Konzert wird Gilberto von der Bühnenkante hinweg verpflichtet. Das aufdringliche Saxofon von Stan Getz drückt seine Gitarrenkunst an die Wand, mit dem Ipanema-Girl und Gilbertos Frau Astrud wird die Bossa Nova amerikanisch und schmollmundig. Und in Deutschland singt Manuela den Twist: „Schuld war nur der Bossa Nova“. Der Geschlechterirrtum hat sich bis heute in der Presse hierzulande hartnäckig gehalten.
Musikalisch schließt man die Akte João Gilberto hier schon allzu oft. Zu Unrecht, denn er nahm weiterhin fabelhafte, immer reduziertere Alben auf, „João Voz e Violão“ etwa zur Jahrtausendwende, mit einem hauchenden, fagottgleichen Timbre. Doch die Medien pflegten lieber den Mythos vom einsamen Exzentriker. Je konsequenter er sich der Öffentlichkeit entzog seit den Siebzigern, zuerst im Ausland, dann in seinem Apartment im Süden Rios, in dem er seit vielen Jahren nachts lebte und tags schlief, desto arabesker sprossen Gerüchte. Er rede mit Katzen, kommuniziere mit der Welt nur über seine hundert Handys und spiele ununterbrochen Gitarre. Der deutsche Autor Marc Fischer hat ein ganzes Buch über die Suche nach dem Musiker veröffentlicht, ohne ihm begegnen zu können. Ob er tatsächlich von seiner eigenen Tochter Bebel entmündigt wurde, ob er zum Ende hin in Armut leben musste – diese Tragik tritt zurück hinter seinen Tönen. Wer nur zwei Minuten Musik von João Gilberto gehört hat – sofern er nicht „krank im Kopf oder fußlahm“ ist, wie es in dem von ihm interpretierten „Samba Da Minha Terra“ heißt – dessen Leben wurde für immer bereichert. Obrigado, João.
© Stefan Franzen
João Gilberto: „Bim Bom“
Quelle: youtube
Mahler-Sommer II: Ein Orchester für die Erde
Das Orchestra for the Earth vor Gustav Mahlers Komponierhäuschen in Toblach (Foto: Ellie Winter)
Ein Orchester für die Erde: Junge Klassikmusiker aus England engagieren sich für den Schutz des Planeten – im Geiste von Gustav Mahler, dessen Musik sie jeden Sommer an ausgewählten Orten seiner Vita aufführen. Unterstützt werden sie dabei von Mahlers Enkelin Marina.
Als Gustav Mahler 1908 in der Abgeschiedenheit von Toblach sein „Lied von der Erde“ fertigstellte, hatte noch kein Mensch das Wort „Klimawandel“ ausgesprochen. Es gab nicht bis zu 200.000 Flüge pro Tag, keine Plastikstrudel drei Mal so groß wie Frankreich auf den Ozeanen, keine systematische Abholzung von Wäldern.
Der österreichische Komponist mit böhmisch-jüdischer Herkunft hat einmal gesagt, dass er ein „Sänger der Natur“ sei. Neben den erschütternden existentiellen Kämpfen, die sich in seinen Werken abspielen, lässt sich von der frühesten Schaffensphase bis zum Ende immer eine tiefe Liebe zur Schöpfung, zur Natur im konkreten und abstrakten Sinn finden: Vogelgesänge, alpine Lautmalerei und Naturintervalle, auskomponierte Ruhephasen, mal in lyrisch-volkstümlichem Ton, mal flirrend-mystisch aufgeladen als Gegenpol zum „Getümmel der Welt“. „Wie ein Naturlaut“, so lautet die allererste Spielanweisung zu Beginn seiner 1. Symphonie, ein programmatischer Auftakt zu einem roten Faden, der immer wiederkehren wird, bis zum Ende: Denn „Das Lied von der Erde“, und insbesondere der 6. Satz, „Der Abschied“, stellt in Mahlers Werkkorpus die Krönung der Naturverbundenheit dar. Man kann dieses lange Finale als schmerzerfüllten Abschied des Sterbenden vom geliebten Planeten hören, hinein ins Ungewisse. Aber er lässt sich auch als sein Verschmelzen mit der ewig sich erneuernden Natur deuten – und gerade aus diesem Spannungsfeld von Endlichkeit und Ewigkeit erwächst seine Faszination.
Musik und Umweltbewusstsein: Diese Partnerschaft im Geiste Mahlers verkörpert – fast 110 Jahre nach seinem Tod – ein junges Ensemble aus England um den Gründer und Dirigenten John Warner. Es hat den Namen „Orchestra For The Earth“ (OFE) gewählt. Denn „Das Lied von der Erde“ hat heute eine weitere Dimension bekommen. Sein „Abschied“ ist nicht mehr eine persönliche Innenschau, er ist eine kollektiv drohende Realität für die ganze Menschheit. Die „immer aufs Neu‘ grünende“ Erde im Lenz wird wohl bald keine Selbstverständlichkeit mehr sein. „Wir glauben, dass klassische Musik sich der Bewegung zur Rettung unseres Planeten anschließen kann und muss“, so beschreibt das OFE auf seiner Seite seine Mission. „Orchestra for the Earth versammelt einige der herausragenden professionellen jungen Musiker und Komponisten, die sich dafür engagieren, die Welt zu schützen, die ihre Generation erben wird, und dabei nutzen sie die Musik, um andere zu motivieren, das Gleiche zu tun.“ Als Patronin hinter dem OFE steht ein prominenter Name: Keine Geringere als Marina Mahler, Gustav Mahlers 75-jährige Enkelin ist die Schirmherrin des Orchesters und wirbt etwa für dessen Aktivitäten beim großen Mahler-Fest in Amsterdam 2020.
Durch die Spende von Anteilen aus Konzertkarten unterstützt das OFE Organisationen wie das Eden Reforestation Project, den World Wide Fund for Nature oder die 10:10 Climate Action. Von jedem verkauften Konzertticket wird zum Beispiel in Partnerschaft mit Eden ein Baum gepflanzt. Nebenbei für deutsche Leser: Natürlich lassen sich im auch deutschsprachigen Raum auch andere Wiederaufforstungs-Organisationen unterstützen, wie etwa Prima Klima e.V. Hier hört die Arbeit des OFE allerdings nicht auf: Im Zusammenhang mit ihren Konzerten organisieren die Musiker immer wieder Vorträge und Diskussionsrunden, die das Umweltbewusstsein ihrer Zuhörer schärfen sollen.
An diesem Donnerstag, den 4. Juli startet das OFE zu seiner „Alpine Tour“ und spielt an Schauplätzen von Mahlers Leben seine Werke und die anderer Komponisten. Das Orchester gastiert in Malers böhmischem Geburtsort Kaliste (5.7.) und in Jihlava (Iglau, 4.7.), der Stadt seiner Kindheit. Es reist dann weiter zu seiner Sommerresidenz in Steinbach am Attersee (7.7.), wo in Zusammenarbeit mit dem Naturpark Attersee Traunsee in Gedenken an Mahlers Liebe zu den Blumen die „Fields Of Flowers“ eröffnet werden. Die Tour führt anschließend weiter nach Toblach in Südtirol (8.7.), Pörtschach (11.7.) und Maria Wörth (12.7.). Im Programm finden sich neben Kompositionen von Mahler unter anderem auch Werke von Arnold Schönberg, Johannes Brahms, Leos Janácek und Alma Mahler. Alle Infos zur Tour, zu den Aktivitäten des OFE und wie man die musizierenden Naturschützer unterstützen kann: https://www.orchestrafortheearth.co.uk/
Wenn wir wirklich überleben wollen, sollten wir uns auf keinen Fall auf Politiker verlassen – das zeigt sich derzeit tagtäglich. Ich ziehe meinen Hut vor diesem jungen Ensemble, dass die Zukunft des Planeten selbst in die Hand nimmt – und dieses Engagement mit den großartigsten Werken der klassischen Musik verbindet.
Gustav Mahler: Symphonie Nr.1, 1. Satz: „Wie ein Naturlaut“
(Yannick Nézet-Séguin, Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks)
Quelle: youtube
Mahler-Sommer I: Ausflug in die Ewigkeit
Das Chaarts Chamber Ensemble in der Alten Kirche Boswil (Foto: Markus Kurz)
Himmel und Erde
Alte Kirche, Boswil (CH)
29.06.2019
Ein Astronom als Referent in einem klassischen Konzert? Kühn und spielerisch zugleich spannt der emeritierte Professor Roland Buser in 30 Minuten den Bogen vom Urknall bis zum denkenden, Kunst schaffenden Menschen. Der Kosmos mit seinen riesigen Zwischenräumen (Inter-esse) sei Ort des Unterwegsseins von Anbeginn, den die Teilchen hätten Bedarf an Kommunikation – und der 73-Jährige tanzt förmlich über die Bühne, um das Interesse von Protonen und Neutronen aneinander zu veranschaulichen. Ein gelungenes Interludium an diesem musikalischen Abend, denn: Auch sensible Komponistennaturen waren immer im Universum „unterwegs“, um über den Platz des Menschen darin in Tönen zu dichten. Zwei gänzlich entgegengesetzte Klangentwürfe darüber, beide entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, stellte das Chaarts Chamber Ensemble unter Thomas Jung zur Eröffnung des Boswiler Sommers in der Alten Kirche vor – in den selten gehörten kammermusikalischen Fassungen.
Erst vor vier Jahren wurde George Mortons Arrangement von Gustav Holst „The Planets“ uraufgeführt. Wie soll das überhaupt gehen, einen solchen teils pompösen Orchestersound, in dem der Komponist die astrologischen Charaktere der Himmelskörper darstellt, mit nur 17 Musikern abzubilden? Erstaunlich gut, wie sich zeigte. Wie ein Einblick ins Gewebe der Partitur mutete das an: Das Klappern der Streicherbögen beim brachialen Mars, beim dem das Ensemble schliesslich zur gewaltigen Militärkapelle wird, das flinke Hin- und Herstieben der Melodieteile zwischen Holzbläsern und Streichern beim geflügelten Boten Merkur, die impressionistischen Akkorde vom Klavier beim geheimnisvollen Saturn – all das lässt sich in der Verdichtung hautnah erleben.
Den Jupiter nimmt Jung in sehr forschem Tempo, ein bisschen Jazz-Drive kommt sogar in das Hauptthema, und der anschliessende Hymnus lässt nichts vom satten Pathos der Orchesterfassung missen. Besonders ergreifend die innigen Venus-Gesänge von Cello (Chiara Enderle) und Geigen (Felix Froschhammer, Max Baillie). Einzig der mystische Neptun hätte eine abgestuftere Dynamik des Entschwindens in die Tiefe des Raums gebraucht – in der kleinen Kirche kaum realisierbar.
Ausgeklammert hatte Holst den blauen Planeten. Ihn stellte Gustav Mahler acht Jahre zuvor im „Lied von der Erde“ ins Zentrum, freilich nicht als astrologisches Sujet. Die sechs Vokalsätze für Tenor und Alt erzählen von der Liebe zur Natur, von Jugend und Schönheit, über denen aber Schatten von Einsamkeit und Endlichkeit schweben. Arnold Schönbergs Kammerfassung kostet das Ensemble unter Jung mit feinnerviger Virtuosität aus, jeder ist hier Solist. Tenor Thomas Mohr hat – der Kirchenakustik wegen, die etwas mehr Ensemblezurückhaltung vertragen hätte – anfangs Mühe sich zu behaupten, gestaltet aber die Spannung von bukolischer Trunkenheit hin zu süsser Todessehnsucht facettenreich von viril bis waidwund aus.
„Der Einsame im Herbst“, mit einer Oboe (Dina Heidinger), die den kühlen, melancholischen Hauch ergreifend einfängt, wird dank Franziska Gottwalds dunkel leuchtendem Alt zur plastischen Innenschau eines müden Herzens. Und nach den reizenden, fast schwerelosen Chinoiserien im Zentrum der lange „Abschied“: Die Chaarts-Musiker verbinden sich im Trauermarsch zu kollektiver, fast soghafter Todeserkenntnis. Und mit grossem Atem lässt Gottwald den Mond „wie eine Silberbarke“ heransegeln, zelebriert das Dilemma zwischen Endlichkeit des Menschen und ewigem Kosmos mit glühendem Schmerz.
© Stefan Franzen
erschienen in der bz basel, Ausgabe 01.07.2019
Perlenweberin in Brooklyn
Die Sängerin Céline Rudolph lotet mit Sinnlichkeit und vokaler Farbenpracht eine Welt zwischen Jazz, Brasilien, Afrika und Chanson aus. Über ihr neues Werk Pearls und ihre Arbeit in Brooklyn hat sie mit mir gesprochen.
Céline Rudolph, Ihr neues Album entstand in New York. Wie hat das Ihren Sound verändert?
Rudolph: Ich bringe R&B- und Soul-Elemente in meine Welt hinein, singe mehr Englisch. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass sich meine Identität ganz auflöst, also halte ich parallel dazu an meiner Vielsprachigkeit fest, und auch an meinen Fantasiesprachen, am Archaischen, Kinderliedhaften.
Hat sich in diesem neuen Stil auch – bewusst oder unbewusst – Ihr Vokaltimbre gewandelt? Wie hat sich New York auf Ihre Stimme ausgewirkt?
Rudolph: Ich spüre, dass da ein Schwenk vom Tropischen zum Städtischen passiert ist. Es ist jetzt nicht nur mehr das Besingen der schönen Seite, sondern auch das Nachdenkliche, Resümierende, existentielle Fragen. Ich bin unterwegs und erfahre dieses pulsierende, auch wahnsinnig laute Leben, dabei hilft es auch, bei sich zu bleiben – und womöglich hört man das dann auch in meiner Stimme.
Prägend für das Album war der Drummer Jamire Williams, der auch produziert hat. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?
Rudolph: Er hat in Berlin ein Konzert als Sideman gespielt, und seine kraftvolle Live-Energie hat mich umgehauen. Ich habe dann nach ihm recherchiert, seine Arbeit ganz intensiv gehört und mich schließlich entschlossen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wir haben Musik ausgetauscht, erst sehr intuitiv, dann entwickelte sich der Plan, Songs auszusuchen und ein Album zu machen. Ich selbst habe dann meinen langjährigen musikalischen Partner, den Jazzgitarristen Lionel Loueke mitgebracht, Williams hat aus seiner Heimatstadt Houston den Bassisten Burniss Travis für die Band vorgeschlagen. Für die Keyboards kam Leo Genovese von der Esperanza Spalding-Band dazu. Und in Brooklyn haben wir alles in drei Monaten zusammengesponnen.
Gerade die Keyboards sind ein wichtiges neues Element, sie erzeugen einen glasigen, träumerischen Sound.
Rudolph: Ich hatte zwar zuhause schon Experimente mit Fender Rhodes gemacht, aber in Brooklyn hat sich das richtig entwickelt. Der Toningenieur dort hatte eine ganze Sammlung von analogen Tasteninstrumenten, Mini Moogs, Orgeln. Wir haben dieses Element sehr betont, dadurch kommt auch eine Popfarbe hinein. Wir hatten so viel Spaß daran, dass die Keys formgebend für die Produktion wurden.
Stimmt es, dass Ihr Sohn für den Albumtitel Pearls verantwortlich ist?
Rudolph: Ja! Als ich ihm mal eine Geschichte erzählte, sagte er: „Mama, dein Kopf ist ja voller Perlen!“ Was für ein schönes Bild! Ich habe mir das aufgeschrieben und dann weiterentwickelt. Unsere Phantasien schweben und schwirren im Kopf rum, und was passiert mit denen eigentlich? Die Keyboards und diese ganzen leuchtenden Sounds sind auf jeden Fall eine Übertragung dieses poetischen Bildes.
Das neue Repertoire hat trotz Brooklyn-Prägung auch wieder afrikanische Farben, etwa im Stück „C’est Un Love Song“.
Rudolph: Entstanden ist der Song, als ich auf der Gitarre kleine Patterns gespielt habe. Lionel Loueke spielt westafrikanische Kora-Klänge in seinem Solo. Aber es sind auch Elemente aus dem Süden Afrikas zu finden. Ich selbst war sowohl in West- als auch in Südafrika, habe Afrika also schon mal quasi umrundet, und so ist das Stück eine Reminiszenz an den ganzen Kontinent, auch mit dem Französischen und Englischen im Text, da ja Beides dort gesprochen wird.
In „Aumbaeleo“ haben Sie Ihre Vorliebe für Fantasiesprachen mit Blues verknüpft. Ist das ein Genre, das Sie sich neu erschließen?
Rudolph: Etliche der neuen Songs haben tatsächlich Blues-Anleihen, auch der Titelsong selbst .Das habe ich vorher nicht gemacht, diese erdige Seite, die entdecke ich jetzt grade und es macht mir wahnsinnig Spaß, da reinzugehen.
Der außergewöhnlichste Songtitel ist „L’Ascenseur Pour L‘Equinoxe“. Da denkt man natürlich gleich an Miles Davis.
Rudolph: Ja, doch das Zitat von seinem „L’Ascenseur Pour L’Échafaud“ kam erst gegen Ende rein. Inspiriert ist es von dieser coolen Schwarz-Weiß-Welt der 1960er. Gleichzeitig ist meine Version ja nicht so lieblich, hat mehr Ecken und Kanten, das ist eher meine Tonwelt. Trotzdem hat es dieses Flair von Film Noir, und deshalb habe ich Miles am Schluss hinzugefügt.
Wie setzen Sie dieses Programm auf der Bühne um, welche Musiker werden Sie in Lörrach begleiten?
Rudolph: Ich komme mit einem eigens zusammengestellten Trio mit dem Bassisten Bänz Oester und dem derzeit in Basel lebenden Brasilianer Vinicius Gomes an der Gitarre. Wir werden Teile aus Pearls spielen, aber das Programm wird auch meine brasilianische Seite zur Geltung bringen. Also eine Mischung aus dem Neuen und der „Weltmusikabteilung“.
© Stefan Franzen
live: Céline Rudolph Trio: Rosenfelspark Lörrach, 26.7. als Support für Mayra Andrade bei Stimmen
CD: “Pearls” (Obesssions/Membran)
Céline Rudolph: making of „Pearls“
Quelle: youtube
Klassikkosmos auf dem Kirchhügel
Der Boswiler Sommer ist eines der kleinen Klassikfestivals der Schweiz, das durch ein fantasiereiches Programm in Kammerbesetzungen und eine intime, ländliche Atmosphäre Alleinstellungsmerkmale in der Region hat. Ich habe mit dem künstlerischen Leiter, dem Cellisten des Züricher Casal Quartetts, Andreas Fleck gesprochen.
Herr Fleck, Boswil ist ein Dorf mit nicht einmal 3000 Einwohnern im Kanton Aargau. Wie kommt ein so renommiertes Festival an diesen Ort und welche Rolle spielt die ländliche Umgebung für seinen Charakter?
Andreas Fleck: Günter Grass hat mal das Wort „Weltkunst auf dem Land“ geprägt. Er war wie viele Schriftsteller und Komponisten in Boswil zu Besuch, unter ihnen auch Pau Casals, Yehudi Menuhin, Wilhelm Backhaus. Die Geschichte ist ja die, dass eine Kirche, die nur noch als Abstellraum diente, und ein Pfarrhaus, das mit 20 Zimmern nebendran steht, in den 1950ern dem Verfall anheimfiel. Eine Gruppe junger Leute, darunter einer mit einer großen Musikaffinität, haben das zufällig gefunden und wollten das retten. Sie fragten einfach die größten Künstler für Benefizveranstaltungen an. Mit dem gesammelten Geld wurde renoviert, das Pfarr- zum Künstlerhaus, in dem heute über 100 Musikabende pro Jahr stattfinden. Dieses Gebäudeensemble mit Park liegt wie auf einer Insel oberhalb eines ganz normalen Dorfes mit Landwirtschaft und Industrie. Wenn man auf dem Kirchhügel ist, spürt man den historischen Ort mit einer ungeheuren Aura. Das geht allen so, die zum ersten Mal dort sind. Sie merken: Hier geht es nicht um mich, sondern um das, was hier entsteht. Das ist kein Ort der Eitelkeiten, kein „Cüpli-Festival“. Wir haben Kieswege, und da kommt man mit Stöckelschuhen nicht weit.
Den Boswiler Sommer gibt es seit fast 20 Jahren. Wie würden Sie die Eigenheiten im Vergleich zu anderen Klassikfestivals charakterisieren?
Fleck: Vor 19 Jahren gab es das noch nicht so oft, dass ein Festival ist von Musikern entwickelt und programmiert wird, in einer sehr familiären Art. Auf einem kleinen Fleck von circa 1000qm wächst alles zusammen. Inspiriert ist es vom Lockenhaus-Festival im österreichischen Burgenland, weil für uns auch die Kammermusik zentral ist. In der Regel wird alles in Boswil produziert, nichts kommt fertig an. Wir wollen mit den Musikern alles erarbeiten, oft in einem Prozess von 18 Monaten, das heißt für Künstler, die bei sechs oder sieben Konzerte mitspielen, proben und aufführen nonstop.
Die aufführenden Gäste werden vom Chaarts Chamber Ensemble begleitet – ist das quasi das Festivalorchester, das aus dem Boswiler Sommer hervorgegangen ist?
Fleck: Dafür muss ich etwas ausholen: Der Impuls, das Festival zu gründen, rührte aus einer Zeit, in der ich mit dem Casal Quartett hundert Konzerte pro Jahr hatte. Wir fanden es so schade, dass wir dabei immer für das Gleiche angefragt wurden: Schubert, Beethoven, Dvořák, Mozart, Haydn. Wir hatten dagegen Lust, mit Freunden an einen Ort zu gehen, und dort Programme zu machen, die aus dem Rahmen fallen. So ist das erste Festival dann auch ein sehr kammermusikalisches geworden, doch am Schluss wollten wir alle zusammen noch ein größeres Werk spielen. Und als das zum Orchester zusammenwuchs merkte ich: Wow, Kammermusiker haben einfach viel mehr Sound, weil sie es gewohnt sind, allein zu spielen und daher ein viel größeres Bewusstsein für das Ich haben innerhalb eines Ensembles, sie erzeugen eine hohe Dichte. In der Folge haben wir größere Werke mit wenigen Musikern aufgeführt, wobei wir zum Beispiel bei der „Eroica“ dieses Jahr bei einer Ensemblestärke sind, wie sie bei Beethoven ja eigentlich historisch korrekt ist. Man hat Individualisten, und die müssen überzeugt sein, dass es ihnen im Orchester auch Spaß macht, selbst wenn sie nicht mehr die einzige Geige oder das einzige Cello sind. Und so hat sich Chaarts aus dem Boswiler Sommer entwickelt.
Chaarts bettet zwei Artists Of The Year ins Programm ein, die Cellistin Ciara Enderle und den Oboisten Philippe Tondre. Welches sind Ihre Kriterien für die Auswahl dieser Resident Artists?
Fleck: Es sollten herausragende Instrumentalisten sein, die schon eine große Erfahrung mitbringen, Dinge mit anderen zu teilen, sich vernetzen zu können. Die hohe Kunst Kammermusik zu verstehen, ist: Hier trete ich in das Gesamte ein, und dort trete ich hervor. Und man muss Lust haben, etwas Neues zu probieren. Chiara Enderle spielt Szenen aus Prokofjews „Romeo und Julia“, die bisher für Bratsche und Klavier arrangiert wurden. Sie überträgt das jetzt einfach für das Cello, und das ist höllisch schwer. Vielleicht stößt sie da auch ein Tor auf für andere Cellisten. Das wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.
Die Klassiksparte beklagt oft eine Überalterung der Zuhörerschaft. Findet sich auch in Boswil der berühmte „Silbersee“? Oder locken Sie durch die jungen Mitwirkenden auch junge Zuhörer?
Fleck: Ich würde mich nie beklagen über den „Silbersee“. Jeder Zuhörer ist mir gleich lieb, ob jung oder alt. Die Tiefe dieser Musik, die kriegt einen irgendwann im Leben. Boswil hat ja über das Jahr verteilt sehr viele Veranstaltungen, die alle aus dem klassischen Bereich sind, es gibt gleich zwei Jugendorchester, die dann natürlich die Familie als Publikum mitziehen. Daher ist der Hauptanteil unseres Publikums zwischen 40 und 50, dann natürlich auch die Älteren, aber auch Junge, Studenten. Ich würde sagen, das Durchschnittsalter ist um 20 Jahre jünger als bei anderen Klassikfestivals. Das liegt auch an den lustvollen Programmen, die Berührungsängste nehmen.
Wie können Sie die zehn Tage finanziell meistern?
Fleck: Privates Geld von Firmen zu bekommen ist ausgesprochen schwierig, Events wie das Lucerne Festival ziehen alle Großsponsoren ab. Das Potenzial liegt eher im mäzenatischen Bereich, doch im Unterschied zu Basel ist der Aargau ein eher armer Kanton mit wenigen Stiftungen. Der große Anker ist der Staat mit dem Swisslos-Fonds. Da können wir uns drauf verlassen, dass wir einen bestimmten Rahmenbetrag bekommen.
Lassen Sie uns aus dem Programm ein paar Highlights herausgreifen. Als übergreifendes Motto haben Sie „Legendär!“ gewählt, aber es gibt auch andere rote Fäden, wie zum Beispiel Powerfrauen wie Carmen oder Scheherazade.
Fleck: Die Herangehensweise an das Thema „legendär!“ ist sehr divers. Es kann das sein, was ein Stück ausgelöst hat in der Geschichte seiner Zeit. Etwa im Programm „Pioniere“ mit Debussy und Glasunow, wo ein Werk eine neue Richtung einschlägt und dadurch zur Legende wird. Aber es gibt natürlich auch Figuren, die sich in der Musikgeschichte niederschlagen. „Legendär“ heißt auch immer erzählerisch, aufgeladen mit einer Geschichte. Und diese Geschichten haben es an sich, dass sie von Figuren bevölkert sind. Da wir kein Theater sind, müssen wir uns Werken zuwenden, in denen Figuren musikalisch existieren. Darüber hinaus bieten wir am Festival auch Formen an, in denen die Musik nicht immer nur die Hauptrolle spielt. Etwa einen „Casanova“-Abend, wo das Erzählte im Zentrum steht, und wir haben das Theaterstück über das „White Album“ der Beatles aus Zürich geholt, bei dem Chaarts immer mitgewirkt hat – in diesem Fall also ein Album, das „legendär“ wurde.
Sie konfrontieren Brahms mit Klezmer, und Sie führen mit Martinù, Janáček und Rimsky-Korsakoff die Zuhörer in den Orient. Ist das Inbezugsetzen der Klassik mit Volkskulturen auch ein Merkmal Ihrer Programmphilosophie?
Fleck: Ich finde es rückblickend seltsam, dass man die klassische Musik mit ihren zentralen Protagonisten oft als eine eremitische, enklavische Angelegenheit betrachtet hat. Und das, obwohl ihre großen Komponisten alle von Volksmusik umgeben waren, sie konsumiert und weitergesponnen haben, bei Brahms ist das ja nachgewiesen. Es macht den größten denkbaren Sinn, dass man diese Dinge auch wieder hörbar macht. Es ist auffällig, dass das Publikum extrem darauf anspringt, das Brahms-Klezmer-Konzert war das erste ausverkaufte. Mich persönlich interessiert diese Sparte mehr, als sich der Neuen Musik zuzuwenden. Hier liegen Schätze herum, die man wirklich nur ausgraben muss und dann intelligent neu besetzen.
Am Samstag eröffnen Sie mit Gustav Holsts „Planeten“ in einer sehr jungen Kammerfassung von George Morton und mit Mahlers „Lied von der Erde“ in der intimen Lesart von Schönberg. Einem doch eher plakativen, lautmalerischen Werk stellen Sie einen sehr persönlichen, schmerzvollen Abschied von unserem eigenen Planeten gegenüber. Reizte Sie dieser krasse musikalische Gegenentwurf?
Fleck: Für mich ist es die denkbar größte Spanne überhaupt, es geht hier um alles, was wir haben, und das wird in Musik umgesetzt. Fragen wie: Wer sind wir, wie klein oder wie wichtig sind wir? Die ganze Dimension des Menschen und des Kosmos steckt in diesem Programm, von Religion über Astrologie über Endzeitentwürfe bis zum Klimawandel: Wir merken, wir haben nur diesen einen Planeten und können uns auch nicht davon entfernen. Das ist thematisch extrem aufgeladen gerade. Wegen dieser Aufladung wollte ich noch den Astrophilosophen Roland Buser dabeihaben, der es schafft, in einer halben Stunde einen Bogen zu spannen zwischen diesen beiden Welten auf eine sehr unterhaltsame Art. Dass wir nur ein Staubkorn sind in diesem ganzen Geschehen, das kann er so charmant und witzig, gleichzeitig aber so sinnhaft erzählen. Ein intellektueller Spaziergang zwischen diesen beiden kolossalen Werken.
© Stefan Franzen
Das Interview erschien in „Der Sonntag“, Ausgabe 23.6.2019
Jenseits von Afrika
Santana
Africa Speaks
(Concord/Universal)
Wie man schon letzten Sommer in Colmar feststellen konnte: Carlos Santana macht auch in seinem dritten Frühling nicht sonderlich Anstalten, geistig seine Woodstock-Blase zu verlassen. Gleichzeitig ist er nicht bescheidener geworden, wie schon die Verlautbarungen zu seinem neuen Werk zeigen, bevor man auch nur einen Ton gehört hat: Miles Davis und John Coltrane würden sich fragen, wie er das bloß gemacht hätte, könnten sie sein neues Album noch hören. Aber er wolle ja nicht auf dicke Hose machen.
Carlos Santana hat im 50. Jahr seiner internationalen Karriere Afrika für sich entdeckt. Damit man das auch merkt, ist auf dem Cover eine Fantasie-Maske zu sehen, die freilich auch genauso aus einer indigenen Kultur Lateinamerikas stammen könnte. Und tatsächlich ist auf dem ganzen Album kein definiert afrikanischer Rhythmus zu hören, alles, was man hört, hat bereits die transatlantische Passage hinter sich. Und damit offenbart Santana nichts Neues, denn an den schwarzen Tönen zwischen Mexiko und Brasilien hat er sich ja schon immer abgearbeitet. Neu ist allerdings die Sängerin Buika – und mit ihr kommen wir zum Hauptproblem: Die Spanierin mit äquatorial-guineischen Wurzeln begeistert seit 15 Jahren mit ihrer glühenden Stimme im Flamenco- und Kuba-Kontext, die Entfaltung ihrer Vocals wurde dabei stets gefördert von der feinen Nuancierung ihrer Umgebung.
Doch die bietet ihr Carlos Santana nicht: Seine mitunter nachlassende Griffsicherheit in den Soli kompensiert er dadurch, dass er auch mal mehrere Gitarren übereinanderlegt, und seine trommelnde Gattin Cindy Blackman – die im Jazz ohne Zweifel ihre Meriten hat – patscht mit draller Wucht alles zu, was Afrika an polyrhythmischem Gewebe doch eigentlich ausmacht. Gegen diese dicke Kleisterei hat Buika sich also zu behaupten und hat nur eine Wahl: Sie muss des öfteren schreien, und wo sie das nicht tut, wurde ihre Stimme trotzdem ans Limit komprimiert. Wenn es mal etwas entspannter beginnt, wie in „Oye Este Mi Canto“, kommt zwangsläufig der Turboschalter hinterher. Ein Ruhepol hätte „Blue Skies“, Buikas Duett mit Laura Mvula werden können, doch es zerfasert sich über neun Minuten in uninspirierter Blues-Improvisation.
„Breaking Down The Door“ bietet gediegene Latinhit-Kost à la Shakira mit einem schönen Posaunensolo und Akkordeonriff, „Los Invisibles“ schert funky in den arabischen Raum aus, der verstorbene Rachid Taha hat hier mitgeschrieben. Aus „Luna Hechicera“ hören Geübte ein wenig senegalesische Wolof-Anleihen heraus, die aber wegpoliert wurden. Zum Finale gibt es ein klein wenig Afrobeat-Spannung in „Candombe Cumbele“, über die Blackman aber wieder völlig unnötig Paukenwirbel und Santana einen brüllenden Saitenexzess ohne Zielrichtung legt. Was in diesem Stück die nigerianische Legende Easy Kabaka Brown beigesteuert hat, die in den Credits erwähnt wird, bleibt eher ein Rätsel.
Verhindern können hätte das Fiasko ein Mann fürs Feinmotorische oder zumindest mit Erfahrung im Afro-Fach am Pult, aber auch da wurde eher ein Zupacker engagiert: Rick Rubin als Produzent hatte Leute wie Slayer, Kid Rock und Metallica als Kunden. Unterm Strich bleibt ein überdrehtes Latinrock-Album, das nichts mehr von der räumlichen, atmosphärischen Tiefe früherer Glanztaten in sich trägt und zudem fürchterlich anachronistisch wirkt. Denn gerade im afrikanischen Kontext sind es die leisen, kammermusikalischen Töne, die seit etlichen Jahren immer mehr den Trend beherrschen. Carlos Santana, der Friedensmann und Weltzusammenbringer, ist am schwarzen Kontinent auf ganzer Länge gescheitert. Man muss es tatsächlich auf den Nenner bringen: Africa speaks – but Santana didn’t listen.
© Stefan Franzen
Santana feat. Buika: „Breaking Down The Door“ (live)
Quelle: youtube
Museumsfahrt im blauen Zug
Milton Nascimento
Kaufleuten Zürich
19.06.2019
Einige der ergreifendsten Momente meiner Brasilien-Rezeption verdanke ich Milton Nascimento. Dazu zählen besonders seine lyrischen Songs der beiden frühen Clube da Esquina-Alben von 1972 und 1978. Als bekannt wurde, dass der mittlerweile 76-Jährige genau diese Songs auch in Europa noch einmal auf die Bühne bringen würde, war die Freude sehr groß. Es ist immer ein zweischneidiges Schwert, wenn eine Legende nach Jahrzehnten nochmals in die Frühzeit der Karriere abtaucht, es kann zur selbstreferenziellen Cover-Show geraten, doch im besten Fall kann überraschend Neues aus dem alten Material erstehen. Wie hat das in Zürich funktioniert?
Ganz am Anfang müssen wir über die Gesundheit des Künstlers sprechen: Milton war schon lange von Krankheiten geplagt, musste in den letzten Jahren auch mal Konzerte abbrechen. Auch im Kaufleuten ist gleich klar, dass es nicht zum Besten um ihn steht. Er wird vom zweiten Sänger und Gitarristen Zé Ibarra auf den Hocker geleitet und bleibt dort die ganze Show über mit dunkler Brille sitzen. Seine Stimme ist brüchig und nicht mehr trittsicher, doch er war nie ein Meister der reinen intonation. Was in seinen Vocals zählt, ist die hohe Kunst der Innerlichkeit, der fast gebetshaften Schmerzlichkeit, die in Hymnen wie „Claréia“ immer noch phasenweise durchleuchtet.
Das Septett, das Milton für diese Retro-Show zusammengestellt hat, macht seine Arbeit zweckdienlich, in den richtigen Momenten tritt die E-Gitarre von Wilson Lopez mit nachdenklich mäandernden Soli hervor, wie das einst Toninho Horta tat, Widor Santiago setzt mal folkloristische Akzente mit Flöte, mal geht er mit Sax – mehr als das die Clube da Esquina-Band je tat – aufs jazzige Parkett. Der Anfang ist holprig, gerade der Bandleader muss sich erst finden, doch ab dem rhythmische Haken schlagenden „Cravo E Canela“ stimmt die Synergie der acht Akteure. Milton baut einen spanischsprachigen Block ein, zeigt sich als ein Cancionero, der immer den ganzen südamerikanischen Kontinent ansprach und findet besonders hier mit der Band zu einer effektvollen, rockig-dramatischen Steigerung.
In der Mitte verlässt Milton zeitweilig die Bühne, und als Glockenschläge von der Percussion kommen, ist klar, dass Zé Ibarra die Leadstimme in „San Vicente“ übernimmt: Dieses genauso ergreifende wie mysteriöse Lied, getragen von Anleihen an Kirchengesänge, hätte der Altmeister nicht mehr gepackt. Ibarra singt die innige Hymne mit einer sehr reinen, weichen, fast zu geschmeidigen Stimme, die in der Música Caipira, Brasiliens schmalzigem Country-Genre, auch gut aufgehoben wäre. In anderen Stücken wechselt er sich mit Milton strophenweise ab, doch die kantige, poetisch dadurch umso charakterstarke Stimme des ehemaligen Esquina-Vokalpartners Lô Borges kann er nicht ersetzen.
Als Milton zurückkehrt, kann das Septett nochmals aus dem grandiosen Katalog der frühen Songs schöpfen: „Nuvem Cigana“ mit seinen eigentümlichen Akkordfolgen und „Paisagem Da Janela“ reihen sich aneinander, schließlich das träumerische „Trem Azul“, das vom Publikum – mit hochprozentigem brasilianischem Anteil – begeistert mitgesungen wird. Der „blaue Zug“, er bricht hier für viele ältere Zuhörer zur Museumsfahrt in die Siebziger auf. Leider ist die Luft ab da raus: „Maria, Maria“ und das zweite schöne Eisenbahnlied über die stillgelegte Strecke, „Ponto Final“, kann Milton nur noch erschöpft anstimmen. Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck: Milton Nascimento, nicht mehr auf der Höhe seiner Kräfte, hat den Versuch gewagt, den Kern seiner Schaffenskraft nochmals hochleben zu lassen. Eine stabile Band und viel Herzblut des Hautpakteurs haben einen meist würdigen Nostalgie-Abend auf die Bühne gebracht, bei dem das Ursprungsmaterial kaum angetastet wurde – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
© Stefan Franzen