Kleine Abgründe

Foto: Justin Higuchi

Sophie Auster
Jazzhaus Freiburg
15.11.2019

Musikerkinder von Musikereltern haben es schwer, sind ständig bohrenden Vergleichen ausgesetzt. Befreiter aufsingen und -spielen können die Sprösslinge von Literateneltern, sie haben sich ihre eigene Künstlersphäre erobert, und trotzdem umgibt sie der familiäre Nimbus. „Gerne mal die Eltern erwähnen“, wünscht sich Sophie Austers Promo-Firma von den Journalisten. Das ist aber gar nicht nötig ist, denn die 32-jährige New Yorkerin kann sich auf ihre eigenen Meriten berufen. Seit dreizehn Jahren ist sie eine der interessanteren Singer/Songwriterinnen im Gewühle der vielen Kolleginnen am Hudson, noch länger ist sie auf der Kinoleinwand zu sehen. Im Jazzhaus Freiburg feierte sie am Freitagabend ihren europäischen Tour-Auftakt.

Austers Songs leben auf der aktuellen CD Next Time von fülligem Popsound, träumerischen Hall-Räumen und cleveren Bläsertexturen. Doch sie haben die Klasse, auf der Bühne auch in einem kargen Trio-Setting zu funktionieren, denn allein diese Stimme nimmt sofort gefangen: mit suggestiv-souligen Tiefen, die ein wenig an Annie Lennox erinnern, aber auch mit leuchtenden Höhen in mäandernden, textlosen Uuuuh-Phrasen. Auster ist keine Rampensau, aber noch weniger Mauerblümchen, und da kommt ihr vielleicht die parallele Schauspielerinnenlaufbahn zupass: Sie setzt auf gezielte Flirts mit dem Publikum, ein angedeutetes Küsschen hier, eine hochgezogene Augenbraue da, Textstellen und Trommelwirbel untermalt sie mit tiefen Blicken und dem Spiel ihrer Finger. Fast ein wenig überzogen wirkt ihre schmerzvolle Mimik, denn nur ganz selten bricht diese Stimme aus dem Wohlklang aus, faucht mal andeutungsweise, steigert sich mal kurz in wütendes Glühen, wird nur für ein Songfinale zum Vamp. Vom reduzierten Drum-Set kommt dafür stets kernige und präzise Unterstützung, die an keiner Stelle die Vocals übertüncht, und aus den Keyboards schlüpfen sehr variantenreich mal glasig funkelnde Farben à la Sixties, mal knallig-bunte Achtziger-Anleihen wie in der aktuellen Single „If I Could“.

Zwischen diesen beiden Jahrzehnten spreizen sich oft die Bezüge des Songrepertoires, in dem sich Doppelbödigkeiten verbergen: Der „Dollar Man“ schleicht sich hintergründig mit Dub-Bässen an, das als Trinklied angekündigte „Tom Collins“ ist nicht raubeinig, sondern voll schmachtender Bitterkeit. Und zeigt sie im träumerischen „Mary Jane‘s“ nicht plötzlich den Stinkefinger? Dass Auster auch den hohen Gipfel klassischer Songwritingkunst erklimmen kann, zeigt sich in „Black Water“, eine grandiose Ballade mit melodischer Dichte und harmonischen Schattierungen im ruhigen Fluss. Ihre Eigenkompositionen bereichert sie mit Covermaterial, das alles andere als naheliegend ist: Die selten gehörte Freddie Mercury-Nummer „Cool Cats“ kommt zu femininen Ehren, und der frühe Soulhit „Baby, It’s You“ von den Shirelles erhält eine elegant modernisierte Politur.

In den Zugaben noch zwei völlig konträre Facetten der Sophie Auster: Ihr Hit „Mexico“, ein lauer Shakira-Verschnitt, bleibt weit unter ihren Qualitäten. Die strahlen nochmals in einem unveröffentlichten Stück, in dem sie mit akustischer Gitarre zur Folklady wird. Doch auch hier lauert ein kleiner Abgrund: Es ist einem Ex-Lover gewidmet, der sich ohne Ankündigung von ihr zurückzog – ein Thema, das fast aus einem der Romane ihres Vaters stammen könnte. Bei den nächsten Lesungen von Paul Auster und Siri Hustvedt also gerne auch mal die Tochter erwähnen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 18.11.2019

Sophie Auster: „If I Could“
Quelle: youtube

Mahler-Herbst I: Moravian Rhapsody

Endlich wird die Landschaft schön. Ein scheinbar endloser Weg von Krakau aus liegt hinter mir, unvorstellbar langatmige Zuckelfahrten durch polnisch-mährisches Grenzgebiet, kaum nennenswerte Hügel, geschweige denn Berge zu durchqueren, dann eine kurze rasante Strecke, als es auf Prag zuging. Ich jedoch steige in Kolín um, wo der Regionalexpress nach Jihlava abzweigt, Gustav Mahlers große Lebensstation der Kindheit und Jugend. Der Zug fährt in die Dunkelheit der mährisch-böhmischen Wälder hinein, sanft geschwungen die Topographie, sanft geschwungen auch die Trasse. Das Abteil habe ich für mich, viele Leute wollen nicht in diese Kleinstadt von 30.000 Einwohnern, die früher mal Iglau hieß und eine deutsche Sprachinsel bildete.

Eine Schaffnerin kommt herein, sieht mein Interrail-Ticket, gestikuliert aufgeregt, sagt „Autobus“ und wiederholt immer wieder den Namen Havlíčkův (die absurden Akzente habe ich nicht erfunden), und ich denke mir, während ich den Namen des Ortes pausenlos wiederhole, um ihn nicht zu vergessen: OK, Schienenersatzverkehr also auch in Tschechien. Zwei Stationen weiter, ein Typ mit Rockermähne und Lederjacke reißt die Abteiltür auf. Kurioserweise hat auch er einen Schaffnerknipsapparat in der Hand. Instintkiv begegne ich seiner Ansprache mit einem Kopfschütteln, woraufhin er etwas finster gefärbt „Tickets“ sagt. Offenbar hat der Zug eine regionale Grenze überquert, was den Austausch des Personals erforderte.

Ich verpasse den Ort mit dem Kringel auf dem „u“ nicht, da steht auch ein Bus, und eine halbe Stunde später komme ich im dunklen Jihlava an, vielmehr in einem Außenbezirk, in dem es zwar meine Herberge gibt, aber sonst nur eine riesige Sportbar, wo die Jugend Billard spielt und die Küche kalt bleibt. Auch der Supermarkt hat vor drei Minuten dicht gemacht. Das Abendessen fällt also mager aus, eine halbe Packung Mandeln, die Minibar offeriert ein alkoholfreies Pflaumenbier mit einem erschreckenden Etikett, das Zeug schmeckt ähnlich wie der Weißwein, der uns vor 14 Jahren in Rio de Janeiro als „vinho da casa“ kredenzt wurde, eine Mischung aus fauligem Obstkorb und Essig. Im Fernsehen wird Gott beerdigt, was im tschechischen Dativ putzig klingt: „s Karlem Gottem“.

Mit sehr dürftigem tschechischem Grundvokabular ausgestattet mache ich mich am nächsten Morgen per Stadtbus ins Zentrum von Jihlava auf. „Náměstí“ heißt Marktplatz (unter drei Akzenten pro Wort geht es nicht), ein riesiges, abschüssiges Rechteck mit einigen herausgeputzten, bunten Häusern und mehreren Kirchen, doch mein erstes Ziel ist das Dům Gustava Mahlera in der Znojemské ulici čp. 4, das Gustav Mahler-Haus in der Znaimer Straße 4. Hier ist der von mir so geschätzte Komponist und Seelenverwandte von frühester Kindheit an aufgewachsen bis er 15 Jahre alt war. Der Vater Bernhard, ein Schnapsbrenner und Wirt, hatte das Haus erworben, in einer Zeit, als die Ansiedlung von Juden ausdrücklich erwünscht war. Heute ist ein Museum in den Räumlichkeiten, das Mahlers Leben in Iglau von 1860-75 genauso akribisch wie lebendig dokumentiert. Jana Součková, die Leiterin des Hauses versorgt mich fachkundig und engagiert mit Materialien für den Rest des Tages, den ich auf den Spuren Mahlers verbringen werde.

Man kann sich dank der detailverliebten, mit viel Herzblut gestalteten Vita-Schau hinabsenken in dieses Leben: Eine große Bilderstrecke mit Fotos der Eltern und Geschwister, Dokumente aus seiner Kindheit, von Schulzeugnissen bis zu Zeitungsbesprechungen seiner ersten Konzerte in der Stadt sind auf den Tafeln erfasst, ein paar Instrumente der böhmischen und mährischen Bauernmusik, die ihn beeinflusste, schließlich auch Grafiken von Künstlern aus der Umgebung, die vom Werk Mahlers inspiriert sind. Hier, in diesen Räumen, machte er seine ersten musikalischen Gehversuche, aß, schlief und träumte, und hier litt er sicherlich auch, unter dem jähzornigen Vater und wohl auch damals schon unter dem Lärm aus der Gaststätte im Erdgeschoss, in der jetzt ein Café geplant ist.

Mahler war ein Hochsensibler, wenn es um Geräusche ging. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, hier in dieser Familiengeschichte herumzustapfen, fast komme ich mir vor wie ein Eindringling. Und wieder einmal bin ich, wie bei Villa-Lobos, Grieg und de Falla, der einzige Besucher: Am genius loci ihrer großen Klangschöpfer ist die Welt offenbar nicht interessiert, nicht einmal vor Ort: Von Jana erfahre ich, dass beim Zuspruch der Einheimischen gegenüber dem Museum noch viel Luft nach oben ist.

Apropos Luft: Der Tag ist schön, herbstliche Sonne strahlt über Jihlava und ich will davon profitieren, mache mich auf zum Stadtrundgang.
Das Zentrum ist hübsch und überschaubar, in seiner Mitte der riesenhafte Marktplatz: Unten, wo früher die Marktstände waren, spielte Mahler schon im Vorschulalter für die Beschicker Akkordeon, die obere Hälfte war der Garnison vorbehalten, die dort ihre Aufmärsche machte, die Sounds der Blechblaskapellen machten mächtig Eindruck auf das Kind, nicht von ungefähr kommen den Klarinetten, Trompeten, Posaunen, Hörnern und Tuben prominente Rollen in allen Mahler-Symphonien zu. Die mächtigen Steintürme der Jakobuskirche etwas abseits, hier sang Gustav im Chor, und sein Lehrer Heinrich Fischer, selbst Komponist, war eine prägende Vaterfigur in der Musik.

Hinter dem Kirchhof, an der Stadtmauer entlang und weiter nach unten öffnet sich der „Heulos“, das Igel-Tal, parkartig. Ich setze mich auf eine Bank und stelle mir vor, wie hier – das ist überliefert – der vierjährige Gustav von seinem Vater vergessen wurde, und inmitten des Grüns plötzlich den berühmten „Naturton“ hörte, ein schockartiges pantheistisches Erlebnis für das Kind, das er zu Beginn seiner 1. Symphonie, dem „Titan“, so eindrücklich verarbeitet hat.

Vorbei geht der Weg an Mahlers Gymnasium, heute Jihlavas Stadtbibliothek, hin zum ehemaligen riesigen Garnisonshaus. Von hier liefen die Kapellen hinaus und schmetterten die Klänge, die sich im akustischen Gedächtnis Gustavs für immer festsetzten. Innen befindet sich ein Restaurant mit Volxküchen-Charakter, die Düfte locken zum Mittagessen, aber die Aufmerksamkeit der Kellnerinnen und Kellner, teils rustikal gepierct und ein bisschen auf Punk getrimmt, zu erregen, gelingt mir nicht so schnell wie der Hunger es will. Also fällt das Mahl etwas spießiger aus, nebenan im gediegenen „Hotel Gustav Mahler“ mit rotem Plüsch und nachgebildeten Schriftstücken des Namensgebers an den Wänden.

Gesättigt gehe ich weiter zum Theater, wo der junge Musiker im Teenager-Alter erste Erfolge mit einem Klavierabend feierte, nicht mehr lange sollte es ihn dann hier halten, mit 15 ging er zum Studium nach Wien, nur noch für Elternbesuche kehrte er ab 1875 zurück auf seinen Jugend-Turf. Am schönsten huldigt Jihlava seinem berühmten Sohn im Gustav Mahler-Park: Die Statue von Jan Koblasa lässt den Künstler ganz aus Kopf und ätherischem Körper bestehen, ein durchscheinendes, unirdisches und doch elegantes, himmelsbrausendes Wesen ist in dieser Skulptur eingefangen, die vor allem dem Dirigenten Mahler gerecht wird. Die Umgebung ist etwas gewollt hingestaltet – ein Brunnen, dessen 10 Fontänen die 10 Symphonien verkörpern sollen, Vogel- und Fischplastiken, die auf Mahlers Naturliebe hindeuten sollen, aber so abstrahiert sind, dass ich sie kaum ausfindig machen kann. Trotzdem: eine schöne Oase, die auf den Fundamenten der ehemaligen Synagoge errichtet wurde, die die Nazi-Schergen dem Boden gleich gemacht haben.

Der große jüdische Friedhof, auf dem man immer noch ans Grab von Mahlers Eltern treten kann, liegt ein Stück außerhalb: Marie, von ihm abgöttisch verehrt und der aufbrausende Bernhard ruhen hier. Es ist ein wenig tröstlicher Ort, der aus der Zeit gefallen ist. Schon vor dem 2. Weltkrieg hat Jihlava / Iglau gelitten: Die spannende und teils bittere Geschichte der ältesten Bergbaustadt der Region, ist im Frauentor dargestellt, von den Hussiten über die schwedische Besatzung während des Dreißigjährigen Krieges bis zu den grausamen Ereignissen während der nationalsozialistischen Jahre. Oben lässt sich eine schwere Klappe lupfen und ich stehe auf der Plattform im Freien, der Blick schweift über die Türme und die angrenzenden Felder der Region Vysočina, das „Dach Europas“ wird sie kurioserweise genannt, es ist – auch wenn man bei der Anfahrt das gar nicht merkt – eine gewaltige Hochebene. Und auch aus dieser Entfernung grüßt Koblasas Mahler-Statue mit ihrer unverkennbaren Silhouette im Spätnachmittagslicht.

Ein letzter Rundgang, bei dem ich auch ein temporäres Wohnhaus von Friedrich Smetana entdecke, und dann ein denkwürdiger Moment, der mir offenbart, dass Mahler nicht der Einzige ist, dem hier Schaufensterplatz eingeräumt wird: In einem Etablissement, das zumindest von außen ein wenig Underground-Retro-Flair hat, breiten sich Devotionalien für den gerade verstorbenen Schlager-Karel aus: Zerfledderte Singles, in deren Mitte ein schwarzer Leuchter mit abgebranntem Teelicht thront. Sterben wie Gott in Mähren.

Der Tag neigt sich, ein letzter Weg zurück zum kühlen Igel-Tal und zur Musikschule gegenüber der Jakobuskirche: Aus einem Fenster dringen Klavieretüden, um die Ecke schlägt die Turmuhr sechs, und plötzlich dröhnt aus einem anderen Proberaum eine satte, tieftraurige Blaskapelle. Gustav hätte dieses Durcheinander gefallen. Als ich am nächsten Morgen – wie einst Mahler im tiefsten Winter – in einem völlig überheizten Abteil mit Kopfschmerzen Richtung Budweis schaukele, habe ich den „Titan“ auf den Ohren – und ja, auch wenn der „Naturton“ durchs Rattern des Regionalzuges kaum zu hören ist, der Ausbruch der Bläserfanfaren ist es. Und er passt einfach zu dieser Szenerie aus Wäldern und Feldern, die im gleißenden Herbstmorgenblau vor dem Fenster vorbeirollt.

© Stefan Franzen
das Gustav Mahler-Haus in Jihlava: https://www.jihlava.cz/de/dgm/

alle Fotos © Stefan Franzen

Dünnhäutiges Tagebuch

Patrick Watson
Wave
(Domino Records/Goodtogo)

Wie ändert sich der persönliche Klang eines Musikers, wenn ihm in schneller Abfolge viele Dinge genommen werden? Wenn ihn unerwartet eine Monsterwelle überspült, der er nicht standhalten kann? Wenn ihm sein Leben plötzlich nicht mehr wie sein eigenes vorkommt? Tod der Mutter, Trennung von der Partnerin, Abschied musikalischer Weggefährten: Das passierte Patrick Watson. Weniger aus dem Schmerz heraus, eher mit ihm, schuf er ein berührendes Album mit Songs so dünnhäutig wie Pergament, so zerbrechlich wie Porzellan.

Schon immer war Watson einer der sensibelsten Musiker von Montréal. Die wohl kreativste Songwriter-Metropole Nordamerikas hat über die Jahrzehnte so große Geister wie Leonard Cohen, Lhasa de Sela oder Rufus Wainwright hervorgebracht. Am St. Lawrence-Strom herrscht ein besonderes Werkstatt-Flair, hier schichtet man mit Vorliebe Pop, Klassik, Weltmusik, Chanson und psychedelischen Rock, und auch Watson ist ein Meister dieser Sprache, die Genres sprengt. Klassisch am Piano ausgebildet und mit einem starken Hang zum Cineastischen bildete er seine Klangwelt ab der Jahrtausendwende mit einem Quartett heraus, das die unterschiedlichsten Einflüsse von Kammermusik bis Hardrock vereint. Das Magnum Opus lieferte die Band 2006 mit Close To Paradise, baute eine großartige Dramaturgie aus epischen Stücken um seine stets brüchige Falsettstimme. Es ist ein Meilenstein der kanadischen Musikgeschichte, dessen Konzeptwucht Watson danach nie mehr angestrebt hat. Sein aktuelles Werk erreicht künstlerische Höhe mit einer ganz anderen Sprache.

Schicksalsschläge als notwendiger Motor für neue Inspiration – das kann zynisch klingen. Doch auf „Wave“ trifft diese Formel ohnehin nur bedingt zu. Das Werk tönt nicht nach der von Journalisten gebetsmühlenhaft herbeizitierten Katharsis, es ist ein Leidensalbum. Man hört, dass es dem 40-Jährigen nicht gut geht. Da singt einer, der gerade erst vom Krankenlager der Seele aufgestanden ist und wieder zaghaft die ersten Schritte versucht. Gegenüber den ausgefeilten Texturen früherer Alben muten diese zehn Miniaturen simpel gestrickt an. Einfach, aber nicht banal: Denn im Schmerz wohnt immer Würde und Menschlichkeit. Oft instrumentiert Watson nur mit verhalltem Piano, mit Tönen in hoher Lage, die kurz auffunkeln, wie Lichtreflexe, die beim Durchbruch der Sonne auf der sonst düsteren Meeresoberfläche tanzen. Oder mit ein paar lapidaren Gitarrentupfern und Streicherseufzern, wie in „Dream For Dreaming“, wo er darum bittet, jemand möge ihn doch aus diesem einsamen Traum herausreißen.

Patrick Watson: „Dream For Dreaming“
Quelle: youtube

Gelegentlich schleicht sich auch Geräuschhaftes in die Songs, garstige Keyboardriffs, schreiende Stimmen, übersteuerte Synthesizereffekte. Das ist kein wohliges, selbstgefälliges Baden in Niedergeschlagenheit. Im Titelstück, das aus gleißenden Keyboards mal ausnahmsweise fast zu Rockbombast à la Sigur Rós anschwillt, spürt man die Kraft der Welle, die ihn so wegspült, dass die Textfetzen seiner Falsettstimme fast nicht mehr verständlich sind. Latino-Flair kommt bei der „Melody Noir“ ins Spiel: „Ich habe ein Loch in meinem Innern, das ist so groß wie deine Berührung, und jedes Mal, wenn ich versuche, es zu füllen, wird es größer“, singt er mit fast körperloser Diktion, und die Geliebte verflüchtigt sich dabei zum Windhauch, zur schönsten Melodie, die er je gesungen hat. In die Bruststimme zu gehen, das würde die Melancholie dieses Albums aushebeln, und als Watson es endlich einmal wagt, merkt man, welch unendliche Kraft es ihn kostet.

Die Gelassenheit des hymnischen Finalwalzers „Here Comes The River“ spendet eine kleine Dosis Trost für alle Hörer*innen, die wie Watson in der Talsohle festkleben. Wenn du den Kopf nicht über Wasser halten kannst, musst du dich der Welle beugen, der Strömung hingeben, sagt der Text. Und dann wird es vermutlich weitergehen, irgendwie.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 02.11.2019

Patrick Watson: „Here Comes The River“
Quelle: youtube

Ein Studio-Konzert, in dem Patrick Watson seine ganze Platte spielt, hat CBC hier kürzlich verfügbar gemacht.

An Der Quelle

Solche Konzerterlebnisse zählen zu den absoluten Raritäten: Irgendwann kommt man in einen Flow rein, der es einem erlaubt, nicht mehr mit den Ohren, sondern dem ganzen Körper zu hören. So ist mir das nach langer, langer Zeit am Freitagabend in Zürich wieder bei Tony Allens „The Source“-Sextett geschehen. Nach 2008 in Paris und 2014 in Essaouira durfte ich der mittlerweile fast 80-jährigen nigerianischen Drummer-Legende das dritte Mal begegnen, und jedes Mal, ob – Konzert oder Interview – war inspirierend, intensiv und unvergesslich.

Auch ein Journalist muss mal überwältigt schweigen. Deshalb nur: Danke, Tony – für 80 Minuten polyrhythmische Finessen, spirituellen Jazz und groovigen Afrobeat an der Quelle. Weil ich in einer anderen Sphäre war, hat Markus Kurz die Fotos gemacht.

Tony Allen: „Cruising“
Quelle: youtube

Zeitreise durch den Soul

Brittany Howard & Michael Kiwanuka
Baloise Session, Basel
29.10.2019

Zwei, drei Mal die Ohren gerieben, doch dann steht fest: Ja, Brittany Howard hat sich John Lennons „Revolution“ unter den Nagel gerissen. Und wie! Mit ihrer neunköpfigen Band stampft sie durch einen heftig rollenden Südstaaten-Bluesrock, fast lässt sich die feuchte Erde riechen, die Beatles sind da kaum noch zu erkennen. Doch da sind wir schon bei den Zugaben, nachdem sie bei ihrem Auftritt auf der Baloise Session eine fantastische Stunde lang einen eigenwilligen Zickzack-Parcours – nicht nur – durch die Soulhistorie gefahren hat.

Howard, die mit der Formation Alabama Shakes den Soul der Sechziger mit Garagenrock paarte und dafür gleich vier Grammys bekam, ist seit diesem Jahr auch unter eigenem Namen unterwegs. Als Solokünstlerin stöbert sie ausgiebig in den Geschichtsbüchern von Soul, Funk und Blues, ist aber viel zu eigenwillig, um auch nur in die Nähe einer Epigonin zu geraten. Irgendwie spiegelt schon die Typologie ihrer Band eine gelungene Inklusion der musikalischen Epochen: Hinter der Leaderin mit Sekretärinnenbrille und Glitzerumhang versammelt sich eine Truppe, in der klassische Soul-Ladies, krautbärtiges Hipstertum und kahlgeschorene Moderne versammelt sind. Und diese Vielschichtigkeit setzt sich in der Musik fort: Aus Jackie Wilsons „Higher And Higher“ beschwört Howard mit ihrer Shouter-Stimme ein mittleres Erdbeben herauf, in „Stay High“ dagegen thront sie derart triumphierend im Falsett, dass man meint, Smokey Robinson hätte die Bühne betreten.

Ein wenig Disco-Soul wird in „You’re What I’m All About“ serviert, im katzenartigen Herumschweifen von „Goat Head“, ein hintergründiges Statement gegen Rassendiskriminierung, grüßt sie den Neo-Soul einer Erykah Badu. Etliches hat Brittany Howard Prince zu verdanken, den sie in „Breakdown“ covert: die grandiosen Leuchtspuren der Gesangsharmonien zwischen ihr und den beiden Backgroundvokalistinnen Karita Law und Shanay Johnson, oder die wie aus dem Nichts einsetzenden Gewitter der E-Gitarren (dreifach besetzt: Brad Williams, Alex Chakour und sie selbst).

Doch am überzeugendsten ist die Frau aus Alabama tatsächlich, wenn sie fernab aller Referenzen ganz sie selbst ist: in ihrer gewaltigen Zorneshymne auf die Liebhaberin, die sich von ihr trennt („Baby“), aber auch im sanften „Short & Sweet“, in dem sie sich nur mit Akustikgitarre zärtlichen Träumereien hingibt. “He Loves Me“, von Spoken Word-Attacken durchzogen, ist ihre Hymne an Gott, der sie auch liebt, wenn sie nicht in die Kirche geht, und in der anschließenden Ballade „Georgia“ köchelt Lloyd Buchanan eine ganze Gospelmesse auf seinen Orgeltasten gar. Schließlich fährt die Tochter aus einer gemischten Ehe auch noch ihre ganz eigene Predigt von Gewaltfreiheit und Rassengleichheit auf, die durch ein rhythmisch querständiges Schlagzeugsolo von Nate Smith gekrönt wird. Das Erbe von Martin Luther King, na klar, aber katapultiert in die Jetztzeit. Einigermaßen atemlos lässt das den Saal zurück.

Brittany Howard: Stay High“
Quelle: youtube

Entspannen kann man dagegen bei Michael Kiwanuka. Der Londoner ugandischer Herkunft war schon mal vor vier Jahren beim Open Air der Basler Kaserne zu Gast. Seine morgen erscheinende, dritte Platte ist ein spirituelles Meisterwerk, hallverliebt, mit Sonnenaufgangschören und vielen Streichertexturen. Auf der Bühne allerdings kommt diese Räumlichkeit nicht rüber. Da ist er mit seinen geradlinig gestrickten Songs eher dem Retro-Folkrock als dem -Soul verpflichtet: eine schrammelige und eine leicht psychedelische Gitarre, ein paar glitzernde Gimmicks aus den wimmernden Keyboards, fröhliche „Na-na-na“-Chöre der beiden Chordamen.

Es dauert etliche Songs, bis das Publikum sich auf Kiwanukas unprätentiöses Charisma einlassen kann. Mit geschlossenen Augen verbeißt sich dieser grundsympathische Kerl regelrecht in seine Phrasen, manche wiederholt er Mantra-gleich, zelebriert so eindrücklich sein Anderssein: „I‘m a black man in a white world“. Die Stimme, sie ist weniger „golden“ wie im Motto des Abends, man würde dieser Mischung aus Rost und Karamell eher einen Bronzeton attestieren. Es ist die Backgroundsängerin Emily Holligan, die mit einem grandiosen Solo das Eis bricht. Danach finden Kiwanuka und Band zu mehr Ausdifferenzierung: in einer wunderbaren Version des frühen Hits „Home Again“ mit funkelnder Fender Rhodes, mit einer seelenruhigen Fingerpicking-Miniatur. Und eine faustdicke Überraschung liefert der Folksoul-Barde mit einem schwofigen Stehblues, den er am Ende selbst mit einem Stromgitarren-Feuer in Brand setzt.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 31.10.2019

Michael Kiwanuka: „Piano Joint“
Quelle: youtube

Proyecto Drama


Die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz arbeitet seit einem halben Jahr an ihrem interdisziplinären „Proyecto Drama“. Hier koppelt sie Canciones mit Fotografie, Film und Make-Up-Kunst. Ob daraus auch ihre nächste CD entstehen wird?

Das Geheimnis kann ich hier noch nicht lüften – aber heute einmal das 8. Kapitel vorstellen, das im Titel „Grito Pelao“ zum einen anknüpft an ihr ebenfalls interdisziplinäres gleichnamiges Projekt mit der Tänzerin Rocío Molina, sie zum anderen aber zeigt, wie sie mit dem wunderbaren long time companion Mario Más an der Gitarre an Flamenco-Frühzeiten anknüpft – gefilmt im derzeit so turbulenten Barcelona und gerade gestern veröffentlicht.

Sílvia Pérez Cruz & Mario Más: „Grito Pelao“
Quelle: youtube

Kopenhagens intimes Klassik-Labor

Danish String Quartet Festival
Bygningskulturens Hus på Nyboder, København
3. – 5.10.2019

Das Danish String Quartet ist eine Klassikinstitution in der dänischen Kapitale. Und das, obwohl Rune Tonsgaard Sørensen (Violine), Frederik Øland (Violine), Asbjørn Nørgaard (Bratsche) und Fredrik Schøyen Sjölin (Violoncello) noch alle in ihren Dreißigern sind – ein junges Ensemble, das sich auf ungewöhnlichen Pfaden im Klassikbetrieb bewegt, denn sie verknüpfen immer wieder Töne der skandinavischen Folklore mit den großen Werken von Barock bis Romantik und kümmern sich auch um wenig gespielte Stücke der Moderne. Jedes Jahr leistet sich das DSQ ein dreitägiges Festival, das im familiären, intimen Rahmen in einem alten Kulturhaus im Norden Kopenhagens stattfindet, und zu dem sich das Ensemble Gäste aus aller Welt einlädt. Das Motto in diesem Jahr war die „spørgsmål“, um genau zu sein, die „ubesvaret spørgsmål“, also die unbeantwortete Frage, die in ihrer Gestalt als Charles Ives‘ „Unanswered Question“ auch im Fokus des zweiten Abends stand.

Als ich an diesem saukalten, windigen Frühoktoberabend meine Schritte in Richtung des Bygninskulturens Hus lenke, komme ich an endlos wirkenden puppenstubenartigen Reihenhäusern vorbei, die im knalligen Gelborange gestrichen sind (OK, ich habe mit dem Filter ein bisschen nachgeholfen): Wie ich später von einer Festivalbesucherin erfahren werde, sind das ehemalige Militärbaracken, die König Christian IV. bereits im 17. Jahrhundert erbauen ließ, für die Marine. Heute leben Hipster darin, die – natürlich, wir sind in Kopenhagen – alle Fahrrad fahren und ein Heidengeld für ihr stylishes Heim hinblättern. In diese Umgebung also ist das Festival eingebettet, auf das sich das Publikum schon frierend in langer Schlange am Eingang freut. Dann werden wir eingelassen, drinnen ein schöner, mit Schnitzereien vertäfelter Raum mit Rundumbrüstung. Ein paar Würfel stehen dekorativ an der Bühne, eine Mini-Montgolfière hängt von der Decke, und an der Bar mit Namen „The Oracle“ blinkt psychedelisch eine Kristallkugel. Zum Biergenuss auch während der Darbietungen wird man geradezu offensiv in den Programmtexten aufgefordert, soviel kann ich übersetzen.

Eröffnet wird das Festival vom angesagten isländischen Pianisten Vikingur Ólafsson, der in seinen Bachbearbeitungen wuchtig bis poppig-dramatisch wirkt, aber auch ein wenig maniriert mit abrupten Ausbrüchen und gezierten Gesten. In Bent Sørensens Komposition „Rosenbad – Papillons“ für Klavier und Streichquartett gefällt er mir besser. Das Stück aus einer Trilogie des bedeutenden dänischen Zeitgenossen, der auch selbst – leider exklusiv auf Dänisch – in sein Werk einführt, wird zur Entdeckung des Abends für mich: In seiner Klangsprache verbindet er einen romantischen Ton mit dissonanten Schichtungen, die Streicherarbeit ist oft ätherisch-glasig, viele Flageoletteffekte kommen zum Einsatz und Tremoli, geisterhafte Dämpfer-Effekte. Selten habe ich zwei musikalische Epochen in einer Komposition so aufregend kombiniert gehört. Beim abschließenden Ernest Chausson tritt noch eine Solo-Violine zur Besetzung hinzu, in Gestalt des Kammermusik-Spezialisten Alexi Kenney aus Kalifornien, der sehr physisch und fast jugendlich-heroisch spielt. Die – sehr beredte und fließende, kaum einmal pausierende – Tastenarbeit übernimmt Wu Qian. Es entsteht ein flimmerndes Spannungsfeld zwischen impressionistischen Harmonien, Wagner-Dramatik und dem melodischen Überfluss eines Schubert. Vor allem die Mittelsätze, eine ohrwurmhaft tänzerische „Sicilienne“ und ein „dickes“, schwermütiges Grave begeistern mich.

Enger geschnürt wird die Besetzung zunächst am zweiten Abend, das Eingangswerk hat aber ebenso Raritätencharakter: Ernst von Dohnányis C-Dur-Serenade für Streichtrio glänzt mit schönen Einfällen, etwa dem Bratschenthema im 2. Satz oder einer einfallsreichen Textur aus Pizzicati und Tremoli, ab und an bricht in der ersten Geige ein slawisch tönendes Schluchzen heraus. Mit dem anschließenden Mosaik um Ives‘ „Unanswered Question“ habe ich Schwierigkeiten: Das Ausgangsstück wird räumlich aufgefächert, die Streicher, Flöten und die Trompete gruppieren sich oben in den Ecken der Brüstung. Romantische Impromptus auf dem Klavier, fetzen- und floskelartige, aggressive bis geräuschhafte Miniaturen auf der Bratsche (Jennifer Stumm) und eine tieftraurige Schostakowitsch-Cellosonate (grandios in seinem intensiven, vollen Ton: Toke Møldrup) konterkarieren unten auf der Bühne, bis sich das Geschehen schließlich in ein Barockfenster öffnet: Henry Purcells „Chacony“ spielt das Danish String Quartet mit fast verzweifeltem Kreisen – hier wird die Frage nach dem Sinn musikalisch in großartiger Schmerzlichkeit eingefangen, mehr als 40 Jahre vor Bachs berühmter d-moll-Chaconne aus der zweiten Partita für Solovioline.

Geradezu konservativ nimmt sich dagegen der Finalabend aus: Aus dem Schumannschen Klavierquartett bleibt mir ein fliegender, „gehetzter“ zweiter Satz in Erinnerung, er erinnert mich and das Spukhafte aus den „Märchenbildern“. Und zum Schluss endlich wieder Skandinavisches: Das Streichoktett von Johann Svendsen ist so reich an verschiedenen Konstellationen und Zueinandergruppierungen und Dialogen von Stimmen, dass es nie langweilig wird. Mit seiner Ausreizung eines ständig präsenten Springrhythmus wirkt der erste Satz zwar fast ermüdend, doch im zweiten gibt es vielschichtige Anlehnungen an norwegische Folklore mit Doppelgriffen,Tremoli und Zupfpassagen, es riecht förmlich nach Tanzboden. Auch im langsamen Satz drückt die Atmosphäre der Volksmusik durch, wenn auch gemessener, subtiler, wie eine traurige, gesungene Weise, bevor spritzige, miniaturhafte Einwürfe das Finale prägen. Und als Zugabe: Eine bewegende, feingesponnene dänische (?) Volksweise in majestätischer Achter-Stärke.

alle Fotos © Stefan Franzen

Ein Festival in einem Land zu besuchen, dessen Sprache – und daher auch Ansagen und Programmtexte – ich nicht ansatzweise verstehe, war eine interessante Erfahrung. Denn so musste ich mich jenseits jeglicher vorauseilender Deutung auf die Aussagekraft der Musik selbst konzentrieren – und zwangsläufig blieben eine Menge Fragen offen. Doch vielleicht ist es genau dieser Effekt, den die vier Herren ohnehin erzielen wollten – denn wie schrieben sie im Geleitwort: „Normalerweise stellen wir Fragen, wenn wir Wissen erwerben möchten. Aber die wichtigen, ewigen Fragen sind die, bei denen die Antwort nicht klar und messbar ist.

© Stefan Franzen

…demnächst mehr: die „Gustav Mahler-Passage“ dieser herbstlichen Interrail-Tour in Tschechien und Südtirol…

Danish String Quartet: „Æ Rømeser“
Quelle: youtube

Jazzig-ägyptische Edelsteine

Natacha Atlas
Strange Days
(Whirlwind/Indigo)

Auf bislang nicht oft erkundetem Terrain finden wir Natacha Atlas mit ihrem neuen Werk: Strange Days ist das mit Abstand jazzigste Werk der Weltbürgerin mit ägyptischen Wurzeln. Umgeben von einer Band, in der der obertonverliebte ägyptische Geiger und Song-Mitautor Samy Bishai genauso zu finden ist wie Londons erste Jazzriege (Pianistin Alcyona Mick und Bassist Andy Hamill unter ihnen) überrascht es durchgängig, wie mühelos sie ihre Vokalmäander in die ausladenden improvisatorischen Gebilde einfügt. Auflockernd wirkt eine tänzelnde Bossaminiatur („Sunshine Day“), und mit „Words of A King“ betritt sie auch mal das Reich des süffigen R&B. Mit großem Streichorchester dagegen wird James Browns „It’s A Man’s World“ als nokturne Ballade inszeniert, bevor der umwerfende finale Edelstein „Moonchild“ mit fantastisch herbstlicher Bläsertextur aufwartet. Ohne Zweifel: Natacha Atlas‘ größter Wurf überhaupt.

© Stefan Franzen

Natacha Atlas: „Maktoub“
Quelle: youtube

Die Perlentaucherin

Die Trompeterin Yazz Ahmed ist eine der spannendsten Persönlichkeiten der quirligen Londoner Jazzszene. In ihren komplexen Suiten kombiniert sie die Traditionen ihres Herkunftslandes Bahrain mit Jazzimprovisationen. Auf ihrem neuen Album Polyhymnia ehrt sie herausragende Frauen – auch aus der muslimischen Kultur.

„Als ich ein Kind war, war mir gar nicht bewusst, wie wenig Mädchen Trompete spielen“, sagt Yazz Ahmed, die durch ihren Großvater, den Jazztrompeter Terry Brown zum Instrument kam. „Es war schwierig, irgendwelche Vorbilder zu finden. Doch heute gibt es etliche Kolleginnen und keine Vorurteile mehr, und die männlichen Mitmusiker haben sich daran gewöhnt. Es fühlt sich nicht mehr sonderbar an, ‚the girl with the trumpet‘ zu sein!“

Trotzdem ist Vieles ungewöhnlich und überraschend an dieser Frau: Ahmed wuchs im Golfstaat Bahrain auf, mit neun Jahren kam sie nach Großbritannien, wo sie ihre musikalische Ausbildung begann. Seit sie 2011 ihr Debüt veröffentlichte, ist der London-Jazz um eine aufregende Facette reicher, denn Ahmed überschreitet Genregrenzen. Mit den Worldbeat-Pionieren von Transglobal Underground, mit den Indierock-Stars Radiohead und Joan As A Policewoman erprobte sie sich, Klassikhörer überraschte sie durch ihr Arrangement von Gustav Holsts „The Planets“. In ihre eigenen Bandprojekten bezieht sie das Erbe ihrer arabischen Vorfahren mit ein: „Über Bahrains Kultur weiß man nicht viel in Europa“, sagt sie. „Es gab dort die Tradition des Perlenfischens, und wenn die Taucher von zuhause weg waren, dann sangen sie draußen auf dem Golf Lieder über ihr Heimweh, auch, um sich gegenseitig bei der Arbeit zu motivieren. Lieder darüber, dass sie möglicherweise reich zurückkehren würden, oder eben mit leeren Händen. Außerdem gibt es traditionelle Lieder, die Trommelgruppen von Frauen bei Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten singen. Diese Musik ist sehr perkussiv, rhythmisch, das Singen gleicht einer Beschwörung.“

Yazz Ahmed lernte diese Musik auf Reisen in ihr Herkunftsland kennen, und baute ihre Wurzeln atmosphärisch in ihre komplexen Kompositionen ein. Sie haben oft den Charakter von verschlungenen Suiten. Neben der Trompete spielt sie ein wunderbar weiches, sangliches Flügelhorn, und hier kann sie mit einer Neuerung aufwarten: Während die Viertelton-Trompete vom Algerier Bellemou Messaoud bereits in den 1960ern erfunden wurde und der Libanese Ibrahim Maalouf diese Tradition weiterführt, dürfte sie wohl die Erste sein, die diese Technik auch auf das verwandte Instrument übertragen hat, um die typisch arabischen Intervallschritte abbilden zu können. „Mit meinem Instrumentenbauer habe ich lange herumgebastelt, und das erste Flügelhorn hat auch gar nicht funktioniert. Danach hat er es verfeinert und perfektioniert, und endlich hat er es geschafft. Ich spiele das Viertelton-Flügelhorn nicht oft, aber wenn ich es tue, ist es eine Freude, diese Noten zu kreieren, die man auf einem westlichen Instrument niemals herausbringen würde!“

Heute sieht sich Yazz Ahmed als typisches Kind der Londoner Szene: „Offen, aufnahmebereit und experimentierfreudig“, so ihre eigene Einschätzung. Auf ihrem aktuellen Werk Polyhymnia geht der Fokus etwas weg vom arabisch getönten Sound: „Die Namensgeberin ist eine griechische Muse, ihr Name bedeutet ‚viele Hymnen‘, und die Stücke sind ja tatsächlich auch Preislieder, Hymnen auf herausragende Frauengestalten“, erläutert Ahmed. Ihre sechs ausgefeilten Kompositionen hat sie etwa der saudi-arabischen Filmemacherin Haifaa Al-Mansour („Das Mädchen Wadjda“) oder der von den Taliban verunstalteten pakistanischen Frauenrechtlerin Malala Yousafzai zugeeignet, aber auch den Civil Rights-Frauen Ruby Bridges und Rosa Parks, den Suffragetten und der Saxophonistin Barbara Thompson. „Sie alle sind für mich sehr kraftvolle, inspirierende Menschen“, sagt Ahmed. „Und es ist schon eine Herausforderung, in so viele verschiedene Charaktere hineinzuschlüpfen, sich in das hineinzuversetzen, was diese Frauen teilweise durchmachen mussten.“

Für die Besetzung wählte sie eine ebenfalls von vielen Frauen der Londoner Szene getragene Bigband, und sie entwirft mit ihnen eine couragierte, weibliche Dramaturgie. Junge Prominenz wie Saxophonistin Nubya Garcia und Trompetenkollegin Sheila Maurice-Grey von Kokoroko ist unter den Mitgliedern dieser großen musikalischen Familie. Ahmed selbst glänzt wiederum vor allem auf dem Flügelhorn in Solopassagen. „Es ist wirklich eine große Gruppe“, gibt sie zu, „und ich denke diese Tatsache spiegelt sich in einer durchweg hymnischen Stimmung. Das Album fühlt sich ‚chunky‘ an!“ Was mit dem deutschen Wort „fett“ nur halb so schön klingt.

Musikalisch geht es sehr divers zu. Die Widmung an Ruby Bridges, 1960 das erste schwarze Schulmädchen an einer zuvor weißen Schule in New Orleans, beginnt sie mit einem Funk-Groove, der dann mit harschen, dissonanten Tönen des Orchesters konfrontiert wird – ein musikalisches Spiegelbild der rassistischen Anfeindungen, denen Ruby auf dem Schulweg ausgesetzt war. In „One Girl Among Many“ bedient sie sich auch der menschlichen Stimme, um die eindrucksvollen Reden von Malala Yousafzai in Töne zu fassen. Auf verschlungenen Wegen über arabische Skalen und Jazzharmonien findet „Deeds Not Words“, das Stück zu Ehren der Sufragetten, seinen Weg schließlich zu einer triumphalen Metamorphose von „Shoulder To Shoulder“, dem Erkennungssong der Frauenbewegung aus jener Zeit.

Für ihre Verbeugung vor Rosa Parks griff sie gar auf eine Zwölftonreihe zurück, die ihre Bigband aber nicht als abstrakte Spielerei durchexerziert, sondern mit emotionalem Gehalt füllt. Und „Lahan Al-Mansour“ spielt mit den Melodien der arabischen Halbinsel, um die mutige Filmemacherin Haifaa Al-Mansour zu porträtieren. „Es gibt nicht viele Frauen in der Golfregion, die global so erfolgreich sind und öffentlich ihre Haltung bekunden“, so die Einschätzung von Yazz Ahmed. „Auch aus Bahrain kenne ich keine anderen Musikerinnen, und ich hoffe, dass ich junge Bahrainis inspirieren kann, ebenfalls zur Musik zu finden.“ Yazz Ahmeds nächstes Album, so lässt sich schon jetzt durchblicken, wird sich ausschließlich mit den Traditionen ihrer arabischen Heimat beschäftigen.

© Stefan Franzen
dieser Artikel erschien auf www.qantara.de

Yazz Ahmed: „Lahan Al-Mansour“
Quelle: youtube