Vier Flöten und ein Trommelfell


Nancelot
Nancelot
(Unit Records)

Es gibt Zeitgenossinnen und -genossen, denen Block- und auch Querflöte gewaltig auf den Senkel geht. Für sie wird das Debüt des Quintetts Nancelot eine gewaltige Herausforderung sein – oder es wird sie im besten Fall bekehren. Um die Schaffhauser Musikerin Nancy Meier sind hier gleich vier Flötistinnen zugange, aber wie: Die geblasenen Linien umweben sich in vielschichtigsten Abwandlungen in epischen Stücken, die jedes für sich wie ein akustischer Kurzfilm mit fantasievoll gesponnener Dramaturgie sind.

Da blitzen mal barocke Sequenzstrukturen auf, zarte Syrinx-hafte Gebilde fliegen durch die Luft, oder Loophaftes wie in der vielzitierten Minimal Music rückt in den Vordergrund. Mit den perlenden, dichten harmonischen Sätzen unter der Melodie denkt man phasenweise auch an eine quirlige, schwerelose Improvisation auf einem Orgelmanual. Und verspielte, freie Interludien machen klar: Hier gibt es zwischen den vier Flöten eigentlich gar keine Hierarchien.

Der Clou ist jedoch, dass sich Meier, Eline Gros, Camille Quinton und Anett Kallai noch den deutschen Schlagzeuger Tilo Weber dazugeholt haben, der mal mit feinem Liebkosen die Melodien rhythmisch unterstreicht, zwischendrin aber auch mal in einem polternden Anflug viril konterkariert. Dringende Empfehlung: Entdecken Sie diese vier Damen und ihren Drummer im Eröffnungskonzert des Schaffhauser Jazzfestivals am 22. Mai!

© Stefan Franzen

Nancelot live: 22.05. Schaffhauser Jazzfestival, 01.07. Südtirol Jazzfestival, 20.11. Bird’s Eye Basel, 21.11. ReJazz Festival Berlin

Nancelot Album Trailer
Quelle: youtube

Maroquélectrique

Foto: Brice Bottin

Bab L’Bluz
Swaken
(Real World Records)

Dieser wilde Sound sticht aus der Vielzahl von Bands des schwammigen Genres Desert Blues heraus: Das Lyoner Quartett Bab L’Bluz um die marokkanische Sängerin Yousra Mansour und den Multiinstrumentalisten Brice Bottin setzt mit einer ansteckenden Kombination aus psychedelischem Bluesrock, Dub und den Klangfacetten der Ethnien zwischen Atlantikküste und tiefer Wüste die Gehörgänge in Brand.  „Wir verstehen uns als erweitertes Powertrio im Geiste der Bands von Jimi Hendrix“, sagte Mansour beim Release des Debüts Nayda! und spielte darauf an, dass der Gitarrenheld ja auch einige Inspirationen in Marokko empfing, vor allem von der rituellen Musik der Gnawa, der schwarzen Minderheit Marokkos.

In den fünf vergangenen Jahren hat die Band Fans von Skandinavien über Italien bis nach Australien gewonnen und vor Zehntausenden gespielt. Was ist ihr Geheimnis? „Es ist eine junge Band, die ein sehr junges Publikum zieht, und das auf Weltmusik- genauso wie auf psychedelischen Rock-Festivals. Früher wurden sie als ‚Gnawa-Rock‘ vermarktet, aber ihre Einflüsse gehen weit darüber hinaus“, so Bab L’Bluz Agent Norbert Hausen.

Das macht der Zweitling Swaken sehr deutlich. Hinter der seltsam klingenden Namensgebung verbirgt sich im marokkanischen Dialekt des Arabischen, dem Darija, das Wort für die Geistwesen, die einen Menschen besetzen können, auch der Begriff für den Besuch in einer anderen Dimension. Ob man an diese Art der Transzendenz glaubt oder nicht, beim Hören des Albums stellen sich zumindest Gefühle einer Besessenheit von Klängen ein.

Im Vergleich zum Debütwerk haben Bab L’Bluz an vielen Stellschrauben optimiert. Die Klangarchitektur ist breiter, noch mehr auf eine grandiose Panaroma-Wirkung angelegt, und trotz Wall Of Sound ist die Stimme von Yousra Mansour präsenter, wird oft chorisch vervielfacht. Zum anderen ist die Verstärkung der traditionell basierten Lauten ausgefeilter und cleaner. Mansour spielt eine Awisha, ein Instrument, das von der Gnawa-Basslaute Gimbri abgeleitet ist, eine Oktave höher klingt, und eingestöpselt wie eine besonders ruppige E-Gitarre tönt. Dazu kommen eine Electro-Mandola und eine ebenfalls elektrifizierte Ribab, eine einsaitige Fiedel aus der Berber-Kultur. Außerdem sind Gitarre, Banjo, die Flöte der westafrikanischen Fulbe-Nomaden und die durchdringende Schalmei Zorna im Aufgebot. Und eine Menge maghrebinischer Perkussion von den klappernden Qraqebs bis zur Rahmentrommel Bendir.

Bab L’Bluz: „Iwaiwa Funk“
Quelle: youtube

Weiter aufgefächert als auf dem Erstling ist auch die Verbeugung vor der Diversität der marokkanischen Kultur: Mit „Wahia Wahia“ greift die Band ein Volkslied der marokkanischen Beduinen auf und bauscht es zu einer gewaltigen, räumlich swingenden Hymne auf. Der auf einem Ton insistierende Gesang über Frauenrechte erzeugt im maurischen Song „Zaino“ einen fantastischen Sog mit den Wah Wah-Riffs auf der Awisha.

Ein Vokalstil aus dem Hohen Atlas wird im „Iwaiwa Funk“ verarbeitet, in „Ya Leilo“ finden gleich Einflüsse von vier Ethnien – der Tuareg, der Hassania, der Gnawa und der Houara-Berber – zu einem bassgetriebenen Groove zusammen. Einen kleinen Entspannungswimpernschlag bietet schließlich ein jemenitischer Folksong, bevor es in das hitzige Highlight „Karma“ hineinbiegt, ein Gesang der marokkanischen Aissawa-Sufis. Kämpferische Lyrics über patriarchale Strukturen, ein Lobpreis starker marokkanischer Frauengestalten und Aufrufe zu Toleranz und Mitmenschlichkeit ziehen sich als roter Faden durch „Swaken“. Ein wilder Ritt durch die marokkanische Klanghistorie mit der Rockenergie von heute.

© Stefan Franzen

Bab L’Bluz live: Afrikafestival Schwäbisch Hall, 31.5. – Zeltival Karlsruhe, 4.7.

Bab L’Bluz: „AmmA“
Quelle: youtube

Lichtstrahl als Wegweiser


Foto: Lucia Durietz

Electro Cumbia – ein Stil, der seit 10 Jahren in der globalen Musik mitmischt und von Kolumbien und Argentinien ausgehend den ganzen Erdball erobert hat. Schillernde Queen der Electro Cumbia ist die Argentinierin Mariana Alejandra Yegros, kurz La Yegros.

Was sich hinter dieser Musik verbirgt und wie La Yegros ihn auf ihrem neuen Werk HAZ („Lichtstrahl“) verarbeitet hat, das erfuhr ich im Gespräch mit der Sängerin aus Buenos Aires, die mittlerweile in Paris lebt.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag am Dienstag, den 14.05. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell.

La Yegros: „Donde“
Quelle: youtube

Ohren auf Weltreise – Jazzhaus Freiburg 5.5.2024

Liebe Mitreisenden,

herzlichen Dank für Eure Offenheit, mich am vergangenen Sonntag während der Lesung und Listening Session zu meinem Buchrelease im Jazzhaus Freiburg so stimmungsvoll, begeistert und anregend zu begleiten. Ungefähr 100 Gäste haben die Geburt von „Ohren auf Weltreise“ mit mir gefeiert und  sich auf fremde Töne eingelassen.

Danke an alle, die mich im Vorfeld in der Werbung und während des Abends mit Technik und Logistik unterstützt haben, insbesondere Ingo, Kathi, Kyara, Renate, Gina, Jürgen, Christopher, René, Wolfgang und Jens. Muito obrigado auch für Eure tolle Resonanz im Nachklang!

Besonders freue ich mich darüber, dass Matthieu Saglio mit mir die Bühne geteilt hat und nach meinem Part ein wirklich überirdisches Set gespielt hat. Merci mille fois, Matthieu!

Euer Stefan

 

50 Jahre Nelkenrevolution – Die politische Poesie von José Alfonso

Foto: Nick Boothman

Heute darf ich auf die Musikpassagen von SWR Kultur hinweisen, die zum 50. Jahrestag der portugiesischen Nelkenrevolution nochmals meine Sendung über den Liedermacher José Afonso ausstrahlt:

SWR Kultur – Musikpassagen
Donnerstag, 25.04.2024 – 20h03-21h
50 Jahre Nelkenrevolution – Die politische Poesie von José Alfonso

von Stefan Franzen

Sein Lied „Grândola, Vila Morena“ gab am 25. April 1974 das Startsignal für die Nelkenrevolution. Für viele Portugiesen ist José Afonso eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Landes. Nun wird sein Werk auf dem eigens gegründeten Verlag Mais 5 neu aufgelegt.

Lehrer, Sänger, Antifaschist – die biographischen Facetten des 1987 verstorbenen Liedermachers sind vielfältig. Mit bildreicher Poesie kämpfte er gegen die Diktatur, wurde zum Sprachrohr der Arbeiter und Studenten, zur Ikone des Neubeginns. Seine Musik gilt als pionierhaft: Sie vereint Volksliedtraditionen mit afrikanischen Einflüssen, eine ausdrucksstarke Stimme mit spannenden Arrangements. Im Gespräch mit Afonsos Tochter Helena und dem Musikproduzenten Nuno Saraiva sowie anhand seiner musikalischen Meilensteine zeichnet Stefan Franzen das Bild eines Mannes, der mit seinem humanistischen Ansatz wieder hochaktuell ist.

José Afonso: „Venham Mais Cinco“
Quelle: youtube

Radiotipp: Refugien – musikalische Zufluchten

Edvard Griegs Komponierhäuschen am Nordåsvannet, Januar 2009 (Foto: Stefan Franzen)

Refugien – musikalische Zufluchten
Die Musikstunde – SWR Kultur
15. – 19.04.2024, 9h05 – 10h00

von Stefan Franzen

Refugien, Rückzugsorte, Fluchtpunkte – gerade in unserer krisenbeladenen Zeit sind sie gefragter denn je.

Auch die Musikgeschichte kennt natürlich Refugien: Komponist*innen verkriechen sich gerne in spartanischen Häuschen oder genießen Waldeslust und Inselglück, Pop- und Weltmusiker*innen graben sich in Studios in der ländlichen Isolation ein. Als Refugium kann aber auch eine prächtige Villa oder eine steinerne Festung dienen.

Die Musikstunde begibt sich auf Zufluchtssuche zwischen dem brasilianischen Rio und dem norwegischen Bergen, zwischen Mallorca, Massachusetts, dem Iran und dem Wörther See. Mit Musik von u.a. Edvard Grieg, Sergej Rachmaninoff, Paul Hindemith, Kayhan Kalhor, Kate Bush, Joni Mitchell, Beirut, Etta Scollo und Gustav Mahler.

Zu hören live auf SWR Kultur oder in der SWR Kultur App / der ARD Audiothek.

Refugien – Musikalische Zufluchten (1-5) – SWR Kultur

Edvard Grieg: „Violin Sonata No. 3 in C Minor, Op. 45: II. Allegretto espressivo alla romanza“ (Eldbjørg Hemsing)
Quelle: youtube

Portugiesischer Frühling

Ana Lua Caiano
Vou Ficar Neste Quadrado
(Glitterbeat)

Lusitanian Ghosts
III
(Phonographic/Broken Silence)

Zum Beginn des Aprils wandert greenbeltofsound nach Portugal. Das ist naheliegend, denn am 25.4. jährt sich zum 50. Mal die Nelkenrevolution. Umso wichtiger in diesen Tagen an den Sturz der rechten Diktatur zu erinnern, als ja ein rechtes Bündnis bei den Wahlen vor kurzem explosionsartige Stimmenzuwächse verzeichnen konnte. Wir feiern das andere Portugal mit zwei herausragenden Scheiben.

Ganz weit weg von allen hinlänglich bekannten Portugal-Patterns wohnt Ana Lua Caiano. Die Musikerin aus Lissabon hat schon Lorbeeren auf der Eurosonic, der WOMEX und den Transmusicales eingeheimst, jetzt bekommt sie sie für ihr Debüt Vou Ficar Neste Quadrado auch von mir. Im Alleingang und komplett auf elektronischer Basis zimmert Caiano ein Universum, das die Ohren in einen Bannkreis zieht.

Hämmernde, schiebende und klackende Beats, genauso maschinell wie mit traditionellem Schlagwerk erzeugt, umwinden sich zu einem rhythmischen Mycel. Darüber baut sie harsche Vocals, die wirkmächtig die Silben der portugiesischen Sprache einsetzen, mal marschartig deklamiert, mal geflüstert, eingebettet in kompakte, geschliffene Chöre, die auch von alten Gesängen der portugiesischen Landbevölkerung Einflüsse beziehen. Und nie hat man eine konziser und hermetischer eingefangene Lockdown-Paranoia vernommen als in diesen Lyrics.

Ana Lua Caiano: „O Bicho Anda Por Aí“
Quelle: youtube

Ist portugiesischer Folkwave nicht ein wenig abwegig für diese Spalten? Nein, befindet der greenbeltofsound-Autor. Die Lusitanian Ghosts sind ein Sextett, das irgendwo zwischen einer düsteren Version der Waterboys und Crowded House musiziert, dazu auch noch mit englischen Texten. Allerdings tun sie das auf Lusitanian Ghosts III mit spannenden Zupfinstrumenten, die auf der roten Liste stehen.

Die Band um den kehlig-falsettigen Sänger Neil Leyton (hinter dem Moniker verbirgt sich Musikproduzent Nuno Saraiva) bemüht Chordophone wie die Viola Amarantina, Terceirense und Campaniça, die aus Nord- und Südostportugal sowie von den Azoren stammen. Und die zirpen als schöne Würze durch die rockigen Arrangements der Songs, unter denen sich auch eine Würdigung an den 50. Jahrestag der Nelkenrevolution befindet.

© Stefan Franzen

Lusitanian Ghosts: „Got Enough“
Quelle: youtube

Pluckernd-pastoral und funky

La Yegros 
HAZ
(X Ray Productions)

Welche erstaunliche Entwicklung die Digital bzw. Nu Cumbia genommen hat, lässt sich an der Karriere von La Yegros ablesen. Die früher oft dominierenden Techno- und HipHop-Anteile des von Bogotá bis Buenos Aires vertretenen Genres sind bei ihr in ein organisches Gesamtgefüge eingeflossen. Auf ihrem vierten Werk HAZ hat die Argentinierin auf diese Weise eine wunder- und durchhörbare Fusion geschaffen, die die Latinpop-Szene immer noch kantig genug bereichert.

Mit dem altvertrauten Team, namentlich Produzent King Coya und Komponist Daniel Martin, integriert die Frau mit der immer leicht wehmütigen Stimme indigene Flöten neben melancholischen Akkordeonlinien („Bailarín“), und rurale Blaskapellen pumpen über dem Schlurfrhythmus („Donde“). Keyboard-Bässe schreiten unter funky Gitarrenriffs, wenn die „Malicia“ zelebriert wird, und in „Todo Yo“ wetteifern schräge Pfeifen und Twang-Gitarren mit einer massiven Perkussionsabteilung. In „Perdedor“ grüßt dann mächtig die House-Kultur.

Aber es geht auch mal mit kompletter Abstinenz von Beats: Geradezu pastorale Holzbläser und ein pluckerndes Saiteninstrument namens Bichito Cordobés schmücken die „Bodas De Plumas“. Und im Finale „Nada“ schickt sie sogar noch eine Spur Flamenco-Rock ins Rennen. Ist das eine neue versöhnliche Brücke zwischen Shakira-Sphäre und dem Underground? Spätestens mit diesem Werk dürfte La Yegros‘ globaler Herrschaft auf den Tanzböden des Sommers jedenfalls nichts mehr im Wege stehen.

© Stefan Franzen

La Yegros: „Bailarín“
Quelle: youtube

Senegal-News II

Faada Freddy
Golden Cages
(Think Zik!/Word&Sound) 

Die Wahlen im Senegal sind gelaufen, erstmals konnte sich im ersten Wahlgang mit Bassirou Diomaye Faye ein Oppositionskandidat durchsetzen. Wir wünschen dem senegalesischen Volk eine friedvolle Machtübergabe. Und was könnte der Soundtrack zu diesem neuen Aufbruch im Land sein? Frisch und aufschwingend ist auf jeden Fall diese Scheibe:

Mit Golden Cages setzt Faada Freddy seine vor sieben Jahre begonnene gospelgefärbte Reise fort. Lediglich geschichtete Quintett-Stimmen, Körperpercussion und geklatschte Rhythmen schaffen mittels Cutting Edge-Produktion eine kompakte Architektur. Die klingt zwar geschliffen aber nicht glatt, eine organisch-vokale Tanzmusik, die die Errungenschaften von Zap Mama, Angélique Kidjo und Bobby McFerrin zugleich ins Jahr 2024 hievt und die Tugenden des klassischen R&B und Soul preist. Die geradezu humanistischen Texte des senegalesischen Ex-Rappers – oft auf Englisch, selten auf Wolof und Französisch – greifen auf Inspirationen zeitgenössischer afrikanischer Autoren genauso zurück wie auf den Montaigne-Freund La Boétie.

© Stefan Franzen

Faada Freddy: „Golden Cages“
Quelle: youtube