Nahostgipfel in der Friedensstadt

Melissa Yıldırım, Foto: Nilay Islek

Das Morgenland Festival Osnabrück hat in der deutschen Festivallandschaft mit seinem Fokus auf Musik zwischen Levante und Zentralasien eine Ausnahmestellung. Zum Start der 18. Ausgabe am 21. Juni habe ich mit dem Festivalleiter Michael Dreyer über das musikalische Konzept gesprochen, über die politische Dimension, und darüber, ob ein Begriff wie „Morgenland“ noch zeitgemäß ist.

 

Herr Dreyer, wie kam die Friedensstadt Osnabrück zum Festival beziehungsweise das Festival zur Stadt?

Dreyer: Die Antwort ist ganz banal. Das Festival ist in Osnabrück geboren, weil ich zu dieser Zeit dort gelebt habe. Gerade in den ersten Jahren haben wir viel mit iranischen MusikerInnen gearbeitet. Ich bin damals häufig gefragt worden: „Warum machst du das Festival nicht in Berlin oder Hamburg, wo es große iranische Communities gibt?“ Aber Osnabrück ist wegen seiner überschaubaren Größe für beide Seiten toll, da begegnen sich Musiker und Publikum nach den Konzerten in der Einkaufszone, alles ist fußläufig. Unser Publikum ist über die Jahre mitgewachsen. Wo gibt es das, dass sich Hunderte von Leuten traditionelle uigurische Musik anhören? Wohl nicht einmal in Urumqi. Und natürlich passt der Titel „Friedensstadt“ wunderbar dazu, aber das hat sich nur zufällig so ergeben.

Auf der Website des Festivals heißt es, das Wort „Orient“ rufe unmittelbar positive wie negative Klischees hervor. Aber ist das mit „Morgenland“ nicht genauso? Ist dieses märchenhafte Wort noch zeitgemäß?

Dreyer: Als ich 2005 begann den Blick auf diese Region zu richten, hörte man aus dem „Middle East“ nur schlimme politische Nachrichten, kaum etwas über zivilgesellschaftliche Themen, geschweige denn Musik. Gibt es Jazz in Syrien, HipHop in Iran? Niemand schien das zu wissen. Der Name entstand aus einem optimistischen Spiel mit der Mehrdeutigkeit: Morgenland, aufs Morgen hingedacht. Da jetzt auch die englischsprachigen Besucher von „Morgenland“ sprechen, hat sich das verfestigt, ich komme da nicht mehr raus! Mit der Terminologie ist es nicht ganz einfach. „Orient“ vermeide ich, „islamische Welt“ trifft es natürlich auch nicht. Korrekt müsste man es „Westasien“ nennen. Und musikalisch könnte man sagen, eine Musik, die auf Maqam basiert. Aber auch das stimmt wiederum nur teilweise.

Als einen Schwerpunkt in der Ausgabe 2023 könnte man die Präsenz vieler junger Künstlerinnen ausmachen. Geschah diese Auswahl bewusst?

Dreyer: Das Morgenland Festival Osnabrück wollte immer Klischees entgegenwirken, und eines dieser Klischees besagt, dass die Gesellschaften östlich des Mittelmeeres sehr patriarchalisch geprägt sind. Aber was wir etwa im Iran schon vor den Unruhen gesehen haben, ist ja das genaue Gegenteil, nämlich, was für eine starke Kraft vor allem junge Frauen dort haben. Im Iran sind die am besten ausgebildeten Menschen die jungen, schlauen, aktiven, selbstbewussten Frauen, und sie sind oft Anstoß gesellschaftlicher Prozesse. Die große Anzahl von Frauen beim Festival trägt diesem Aspekt Rechnung.

Das Miteinander von Musikern aus dem „Morgenland“ mit den Musikern aus dem „Westen“ ist ja die Essenz des Festivals. Wie stellt es sich in einer globalisierten Welt dar? Gibt es noch mehr musikalische Durchmischung, oder im Gegenteil wieder eine Berufung auf die jeweils eigene Tradition?

Dreyer: Die eigene Tradition zu pflegen ist ja etwas sehr Schönes. Heikel finde ich, wenn man von kulturellem Austausch spricht, aber defacto spielen nur MusikerInnen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen ihre Soli über einem Bordun. Ich lade MusikerInnen ein, die offen sind für einen Austausch, der darüber hinausgeht. Das funktioniert gut mit MusikerInnen der Alten Musik, weil sie auch nicht wohltemperiert spielen, und im Jazz, weil alle als improvisierende MusikerInnen schon per se sehr offen sind. Es geht mir darum, dass man die Begegnung nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbricht, bei der beide Seiten ihre Komplexität und Schönheit verlieren, sondern beide Seiten sollen ihre Identität behalten und daraus Neues entstehen lassen. Das ist eine Metapher auch für ein gesellschaftliches Miteinander.

In den Begegnungen zwischen Ost und West spielt im Rahmen des Festivals nicht nur Alte Musik und Jazz, sondern oft auch der Orchesterklang eine Rolle. Dieses Jahr ist die kurdische Sängerin Aynur sogar mit dem gesamten Osnabrücker Symphonieorchester auf der Bühne.

Dreyer: Ich habe 2009 das Morgenland Chamber Orchestra gegründet. Das war eine Antwort auf Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, dem ich iranische MusikerInnen vermittelt hatte.  Damals dachte ich mir: Da treffen sich jetzt jüdische, arabische und persische MusikerInnen und spielen Schubert, Brahms, Schönberg. Das ist doch total verrückt! Warum laden wir nicht eher Musiker, Solisten und auch Dirigenten aus ihren Reihen ein und arrangieren ihre Musik. Im Morgenland Chamber Orchestra spielten Studenten aus Iran, Aserbaidschan, Syrien und Irak, und ein paar KollegInnen aus dem Osnabrücker Symphonieorchester. Es gab in diesem Rahmen etwa Konzerte mit Alim Qasimov, Djivan Gasparyan oder eben Aynur. Seitdem, und das ist 11 Jahre her, war es mein Wunsch, einmal Aynur mit einem vollen Symphonieorchester zusammenzubringen. Die Arrangements hat Wolf Kerschek geschrieben, ein begnadeter Musiker. Er leitet die Jazzabteilung der Musikhochschule Hamburg, arrangiert auch für Rammstein oder Helene Fischer, aber seine Liebe gilt ganz besonders dieser Art von musikalischen Projekten.

Eine weitere Klassik-Begegnung bezieht sich auf Vokalmusik. Die Cappella Amsterdam wird Werke der libanesischen Geigerin Layale Chaker und der iranischen Komponistin Aftab Darvishi realisieren. Wie sind die beiden Werke verbunden?

Dreyer: Layale Chaker hat dieses Stück für Chor und Violine zu Texten des irakischen Dichter Nineb Limassu geschaffen, der auf Neuaramäisch schreibt. Eigentlich wollten wir diese Komposition namens „The Bow and the Reed“ einem Konzert gegenüberstellen, für das der syrische Spezialist für frühchristliche, aramäisch gesungene Musik schlechthin, Nouri Iskandar, nochmals zu uns gekommen wäre, er ist jetzt 85. Es stellte sich als zu aufwendig für den Chor heraus und ließ sich auch nicht sinnvoll kürzen, da es sich um religiöse Musik handelt. Dann kam der Vorschlag von der Cappella Amsterdam, eine Auftragskomposition der Iranerin Aftab Arvishi mit Chor, Duduk und Kamancheh dazu zu gruppieren, auch das ist Poesievertonung, vom iranischen Dichter Hooshang Ebtehaj.

Layale Chaker & Sarafand: „Moonset Rain“
Quelle: youtube

Es sind dieses Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gast, die politische Brandherde sind: Iran, Türkei/Kurdistan, Palästina. Hat das Morgenland-Festival den Anspruch, sich in politische Fragestellungen einzumischen?

Dreyer: Nein, es ist sogar explizit das Gegenteil. Als wir einmal aus dem Iran zurückkamen, hat Henryk M. Broder in einem langen Artikel geschrieben, wir würden Propaganda für die Mullahs machen. Ich habe daraufhin Hunderte wütender Emails bekommen, man fragte mich: Wie können Sie Ihren Kindern noch in die Augen schauen? Man merkt, wie man von allen Seiten instrumentalisiert wird. Ich betone: von allen Seiten. Wir machen ein Musikfestival, wir geben überhaupt keine politischen Statements ab. Ich habe natürlich eine Meinung zu politischen Themen, doch die gehört hier nicht hin. Vielleicht ist es an sich schon ein gesellschaftliches Statement, wenn wir uns uigurischer Musik oder kurdischer Musik widmen.

Können Sie Ihre Motivation, dieses Festival zu programmieren, mit wenigen Worten zusammenfassen?

Dreyer: Man kann aus dem Negativen heraus agieren. Zurzeit reden wir viel über Postkolonialismus, Eurozentrismus, all das sind ganz wichtige Themen, um die wir uns kümmern müssen. Man kann aber auch sagen: Auf der Welt gibt es so viel tolle Musik, wie dämlich wäre es, die nicht zu hören. Und ich möchte aus dieser positiven Motivation heraus handeln. Für mich hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert seit ich elf war. Da bin ich zu meinem Nachbarn rübergelaufen und erzählte ihm: Hey, ich habe eine Platte von AC/DC gehört, und die ist so toll, die musst du hören!

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de am 19.06.2023

morgenland-festival.com

Aftab Darvishi: „Safar“
Quelle: youtube

 

Eine Feier der kurdischen Frau

Kawyar Hadi (Foto: Zeitgenössische Oper Berlin)

Nach den beiden Produktionen „Female Voice Of Iran“ und „Female Voice Of Afghanistan“ (greenbeltofsound.de berichtete) wendet sich die Zeitgenössische Oper in Berlin jetzt den Sängerinnen Kurdistans zu: Für den 24. und 25. Juni ist ein neues Festival namens „Female Voice Of Kurdistan“ geplant. Vor Ort haben die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der künstlerische Leiter der Oper, Andreas Rochholl, Vokalistinnen aufgenommen und sie interviewt.

„Gerade in diesem Jahr mit der Präsidentschaftswahlen der Türkei gibt es dort eine sehr, sehr angespannte Situation für Kurden“, erzählte Rocholl WDR Cosmo. „Umso mehr ist es unsere Aufgabe als Kulturinstitution, sich dem Reichtum der Kultur zu widmen, der Diversität. Und die Faszination dieser Diversität ist ein Antrieb unserer Arbeit.“

Unter den porträtierten Sängerinnen wird etwa Jînda Kanjo aus Kobanê sein, die in der kurdischen Sprache Kurmandschi singt und als Geflüchtete in der Türkei lebte. Weil sie an der TV-Castingshow „Kurd-Idol“ teilgenommen hatte, musste sie das Land verlassen und lebt derzeit im Irak. Mit dabei ist auch Kawyar Hadi aus Halabdscha, das Saddam Hussein 1988 mit Giftgas angreifen ließ, und mit Wajeda Khero wird auch eine jesidische Kurdin porträtiert. „Female Voice Of Kurdistan“ wird multidisziplinär zu erleben sein: durch Konzerte von vier der Sängerinnen vor Ort in Berlin, filmische Porträts und ebenso durch einen Youtube-Kanal. Die Konzerte finden in der Villa Elisabeth in Berlin statt.

Female Voice Of Kurdistan – Hybrid Music Festival 2023 (zeitgenoessische-oper.de)

Female Voice Of Kurdistan (Trailer)
Quelle: youtube

Track Sounds – Die Musik der Schienen

SWR 2 Musikstunde
Track Sounds – die Musik der Schienen
12.06. – 16.06.2023, 9h05 – 10h

von Stefan Franzen

Schnauben, rattern, pfeifen, quietschen und rauschen – für viele ist die Eisenbahn selbst schon Musik. Von den Signalhörnern der Lokomotiven bis zum rhythmischen Klappern der Schwellen sind die Sounds der Züge während der letzten 180 Jahre in Orchesterstücke, Kammermusik, Jazztunes, Minimal Music, Lied, Chanson, Folk- und Popsongs eingebaut worden.

Dina El Wedidi: „Bzogh Elamar“
Quelle: youtube

Doch Eisenbahnmusik ist weit mehr als Klang gewordenes Geräusch. Selten geht es in ihr um eine simple Fahrt von A nach B, gerade die Nebenstrecken und Abstellgleise erzählen die reizvollen Geschichten: von Wartenden am Gleis, von Bahnarbeitern und Hobos, von geheimnisvollen Abzweigungen und verpassten Chancen, vom Rauschen durch die Nacht, vom Geraten auf die schiefe Bahn. Züge gleiten und geleiten in die himmlische Sphäre, oder sie fahren in die Unterwelt, stürzen in höllische Schlünde.

Aaron Copland: „John Henry“
Quelle: youtube

In dieser Woche zeigt die SWR 2 Musikstunde einen Railroad Movie für die Ohren – lassen wir uns überraschen, wohin die Reise auf musikalischen Schienen geht.

Al Greene: „Back Up, Train“
Quelle: youtube

 

R.I.P. Astrud


Dass sie überhaupt Eingang in die Musikgeschichte gefunden hat, ist ihrer eigenen Beharrlichkeit zum richtigen Zeitpunkt zu verdanken. Am 19. März 1963 sitzen ihr Ehemann Joāo Gilberto und Antônio Carlos Jobim in den New Yorker A&R Studios und kämpfen mit den Aufnahmen zu einem Album. Knapp fünf Jahre zuvor hatten der Gitarrist und der Komponist zusammen die Bossa Nova aus der Taufe gehoben, als frische, freche und schlanke Gegenbewegung zum pathetischen Orchestersamba. Die Bossa ist seit einem Konzert in der Carnegie Hall nun Exportschlager in die USA geworden. Jazzsaxophonist Stan Getz wittert den Erfolg, hängt sich an die beiden dran. Doch im Studio will der Funke zum Amerikaner nicht so recht überspringen.

Als die Mikrophone João Gilbertos näselnde Stimme für das Stück „Garota de Ipanema“ einfangen, besteht seine Frau Astrud darauf, eine Strophe auf Englisch beizusteuern. Übers heimische Wohnzimmer hinaus hat die als Astrud Weinert geborene Tochter eines deutschen Immigranten und einer Brasilianerin bislang kaum Gesangserfahrungen aufzuweisen. Doch Produzent Creed Taylor unterstützt die Idee, denn so könnte sich das Album nicht nur unter Jazzfreaks, sondern breit in der englischsprachigen Welt verkaufen. „Tall and tan and young and lovely the girl from Ipanema goes walking…“ haucht sie ins Mikro. Der Rest ist Legende.

„The Girl From Ipanema“ wird – nachdem Taylor die portugiesische Strophe rausgeschnitten hat – ein Millionenseller, macht die Bossa Nova und Astrud Gilberto weltberühmt. Doch wäre es zu kurz gegriffen, die am Montag Verstorbene nur auf dieses Lied und das Album „Getz/Gilberto“ zu reduzieren. Nach der Scheidung von João 1964 nimmt sie bis Ende der 1970er einige feine Scheiben auf, in denen ihre verhangene, schmollmündige – und nie so ganz treffsichere – Stimme in großartige Easy Listening-Texturen gebettet ist. Das Repertoire reicht dabei von Brasil-Klassikern bis zu Burt Bacharach. Herausragend etwa „The Shadow Of Your Smile“, an dem sich auch der deutschstämmige Arrangeur Claus Ogerman beteiligt, oder „Look To The Rainbow“ mit dem Orchester von Gil Evans. Ab den Achtzigern macht sie sich schon rar. Doch bevor sie sich aufs Kunstmalen und den Tierschutz verlagert, überrascht sie nochmals – mit einem James Last-Teamwork und einem Duett mit George Michael.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 7.6.2023

Astrud Gilberto: „The Shadow Of Your Smile“
Quelle: youtube

Leipziger Trilogie

Danke, Leipzig, für dieses einmalige, unvergessliche Erlebnis.

 

Gustav Mahler, 7. Sinfonie: Symphonie-Orchester des Bayrischen Rundfunks, Daniel Harding

Gustav Mahler, 10. Sinfonie: City Of Birmingham Orchestra, Robert Treviño

Gustav Mahler, 9. Sinfonie: Budapest Festival Orchestra, Iván Fischer

alle Fotos Stefan Franzen

Intimer Ozean von Stimmen

Sílvia Pérez Cruz
Toda La Vida, Un Día
(Universal Spain)

live: Teatro Municipal Girona, Katalonien
21.04.2023

Ihr bislang umfassendstes Opus veröffentlicht die Katalanin Sílvia Pérez Cruz: Mit 90 Musikern, in 21 Songs und fünf Kapiteln erzählt sie die Stationen eines ganzen Menschenlebens von der Kindheit bis zur Wiedergeburt. Es gibt „Stubenmusik“ mit Geige, Cello und Kontrabass, in der „Planetes I Orenetes“, ein Lied mit fast schwalbengleichem Melodieflug und lydischer Skala heraussticht. Ein zu ausuferndes Flamenco-Drama , aber auch ein sagenhaftes Interludium mit Saxophonquartett („Sin“) gestalten den Abschnitt über die Jugend, der daran erinnert: Ursprünglich studierte Pérez Cruz Saxophon, wollte gar keine Sängerin werden. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.

Sílvia Pérez Cruz: „Sin“
Quelle: youtube

In den übrigen drei Kapiteln von Toda La Vida, Un Día dreht sich im Grunde alles um Stimmen, nicht nur um die der Protagonistin: Viele fast kontemplative Gastduette geben der fünfsätzigen Suite Konturen, sei es mit dem Portugiesen Salvador Sobral, der Mexikanerin Natalia Lafoucarde oder der unter Quincy Jones-Protektion stehenden Maro. Mit ihr hat sie eine brasilianisch gefärbte Miniatur („Estrelas Y Raiz“) eingespielt, die man trotz der kurzen Dauer von zwei Minuten nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Plötzlich bekommt ein italienischer Chor einen Auftritt, und immer wieder kehrt ein 30köpfiges Vokalensembles von Freunden zurück, das oft volkstümlich katalanisch koloriert, sich am Ende dann zum experimentellen Klangozean weitet. Elektronische Experimente wie noch beim Vorgänger halten sich im kleinen Rahmen, Reduktion ist gefragt: Das gilt auch für Pérez Cruz‘ Ton, der stets einen zurückhaltenden, nie dramatischen Gestus hat. Die immer noch größte Sängerin Iberiens hat aus den Schmerzen der Pandemie ein sehr heterogenes Kaleidoskop von Argentinien über Barcelona bis Island geformt, das trotz der vielen Mitwirkenden immer intim bleibt.


Und gerade wegen dieser Intimität kann sie die Songs beim Release-Konzert in Girona auch ohne Verlust der Klangfülle mit gerade mal vier Musikerinnen und Musikern auf die Bühne bringen: Die Kammer-Atmosphäre der Kindheit gestalten Carlos Montfort an der Geige, Marta Roma am Cello und Bori Albero am Kontrabass. Die Stärke des Quartetts besteht darin, dass die Akteure umsteigen können auf Schlagzeug (sehr feinfühlig: Montfort), auf kurze und effektvolle Trompetenfanfaren, auf Keyboard-Texturen. Einige der Stücke finden sich in A Cappella-Arrangements wieder, das Sax-Quartett ist für Streicher gesetzt, während Sílvia Pérez Cruz selbst mit erkennbarem Spaß zu ihrem Erstinstrument greift.

Da es für sie ein Heimspiel ist, kann sie aus einer Fülle von Anekdoten schöpfen: Launige Ansagen ziehen sich durch die Show, die auch mal in ganz andere mediterrane Gefilde abschweift, etwa mit einem Cover von Gino Paolis „Senza Fine“. Am Ende gibt es einen Intensivkurs ihres Ranchera-Klassikers „Mañana“, der erst abgeschlossen ist, als das Auditorium geschlossen Zeile für Zeile mitsingt.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Planetas I Orenetes“
Quelle: youtube

 

Futuristisches Alterswerk

Baaba Maal
Being
(Marathon Artists/Bertus)

Die Karriere des zweiten großen senegalesischen World-Stars nach Youssou N’Dour war großen Schwankungen unterworfen, von akustisch-folkigen Szenerien über fiebrigen Tanzsound bis zu bombastigem Afropop. Im Alter von 70 Jahren ist Baaba Maal, dem Tukulor mit der schneidenden Stimme, nochmals ein großer Wurf gelungen. Über Jahre nahm Being  in Brooklyn, Dakar und London mit dem schwedischen Produzenten Johan Karlberg Gestalt an.

Über betörender Perkussion, die auf dieser Scheibe fast überall die wirkmächtige Essenz darstellt, erhebt sich in der „Yerimayo Celebration“ Maals treibendes Falsett mit einer Synth-Stimme als Widerpart. „Freak Out“ featuret dagegen ein bezwingendes Duett aus Fleisch und Blut, mit dem malawischen Sänger Esau Mwamwaya. In „Ndungu Ruumi“ plustert sich aus wüstenbluesigen Skalen eine überwältigende Wall Of Drumsounds auf, in „Agreement“ setzt sich mit vielen Registertonnen ein nicht zu stoppender Wüstenblues-Zug in Gang. Für die Tanzhymne „Mbeda Walla“ spannt er die kantigen Verbalschläge des mauretanischen Rappers General Paco Lenol ein, und in „Boboyillo“ macht er mühelos den Brückenschlag zur Bass Culture der Urban African Music.

Den oft allzu gefälligen Popexotismus der Weltmusik in die Mottenkiste zu schicken und ein universell begreifbares afrofuturistisches Szenario zu entwerfen: für ein Alterswerk mehr als beachtlich.

© Stefan Franzen

Baaba Maal: „Yerimayo Celebration“
Quelle: youtube

The Unanswered Question

Yumi Ito
Ysla
(enja)

Von ihren letzten beiden Alben Stardust Crystals und Ekual (mit dem Gitarristen Szymon Mika) ist es ein großer Schritt zu diesem neuen Opus der Basler Sängerin und Songwriterin. Ja, ich schreibe ganz bewusst Songwriterin und nicht Jazzmusikerin, denn das ist eindeutig die Richtung, die Yumi Ito auf Ysla einschlägt. Bewusst und selbstbewusst schlägt sie mit ihrem Trio (Iago Fernández, dr / Kuba Dvorak, b) die Brücke zum Pop-Appeal, wirft aber nicht alles Bisherige über Bord, baut weiterhin strukturbildend das ein, was sie sich im Jazz erarbeitet hat.

Das macht sich vor allem in Itos Vokalkunst bemerkbar: Ihr Range hat in den freien Flügen der Scat-Passagen an Umfang nochmals zugelegt, in den betexteten Parts dagegen sind die tieferen Register körperlicher und gefestigter („Seagull“). Viele der Songs auf den Piano-Patterns aufzubauen, funktioniert toll, fast fällt einem bei „Is It You“ und „Love Is Here To Stay“ die Passacaglia-Technik aus dem Barock ein. Spannend auch die Klangästhetik. Heutzutage, wo gerade im Pop alles auf Kompression produziert ist und auf eine eher einheitliche Hall-Ästhetik, arbeitet Ito mit ihrem Team geschichteter: Hier gibt es mal Kathedralen-Hall, dann aber auch ab und zu Passagen, wo die Stimme plötzlich trocken und unmittelbar vor den Hörenden steht (wie in der aufgekratzten „Drama Queen“). Ein Relief statt einer langweiligen Ebene.

Das gilt auch für die Instrumente: Das Klavier ist manchmal so unmittelbar und nah wie in der Mikrofonierung der Oscar Peterson-Aufnahmen von MPS, der Bass richtig physisch erlebbar („Rebirth“ / „After The End“). Die Drums gestalten immer wieder überraschend mit „Extrasystolen“, und sie öffnen einen eigenen Bezirk (am Ende von „Rebirth“). Ito greift außerdem auf eine weitere tiefe Streicher-Rolle zurück. Das Cello kommt dem Kontrabass dabei nicht in die Quere: Es schafft eine ganz eigene Klangfarbe, fast wie eine Gambe, und fügt sich homogen ins Sounddesign. Als architektonisches Element nimmt man die Synthesizer von Chris Hyson wahr, sie färben fast unmerklich, wie eine Herznote in einem Parfum.

Und der besondere Kniff: Durch die offene, unerbittlich wiederholte Frage am Schluss („Does the seagull think it’s lonely?“) bleibt die Platte auch ein Stück weit „unversöhnlich“ und nicht „schön abgerundet“, so wie Yumi Ito das auch auf „Stardust Crystals“ schon mit ihrem experimentellen Prag-Stück praktizierte. Eine 35minütige Konzept-Suite, ja, aber kein abgeschlossener Zyklus, sondern ein Finale mit einer „unanswered question“. Durch diese „Wunde“ am Ende gewinnt Ysla auf der Zielgeraden nochmal richtig hinzu.

© Stefan Franzen

Yumi Ito live: Jazzfestival Basel,  3.5.  (Gare du Nord), bejazz, Bern, 4.5.
weitere Termine auf yumiito.ch

Yumi Ito: „Drama Queen“
Quelle: youtube

Goodbye, Gordon

Zuerst gehört habe ich eines seiner Lieder in der deutschen Version von Daliah Lavi („Wär‘ ich ein Buch“). Danach wurde es während der Olympischen Sommerspiele von München und Montréal von der ARD als Begleitmusik zur Wahl der schönsten Sportlerin verwendet. Der Name Gordon Lightfoot sagte mir damals natürlich gar nichts, erst viel später habe ich mich mit der Biographie des Mannes befasst, dem dieser empfindsame Bariton gehört. Aber die melancholisch fließende, in sich ruhende Melodie von „If You Could Read My Mind“, hat mich damals so in Beschlag genommen, dass dieser Song tatsächlich zu einem der ersten Ohrwürmer meines Lebens wurde.

Gordon Lightfoot hat in Kanada den Status einer nationalen Legende. Die meisten seiner singenden Landsleute mussten in den 1960ern aus wirtschaftlichen Gründen in die Staaten gehen, und es gerät zu ihrem Stigma, dass viele von ihnen bis heute für Amerikaner gehalten werden. Lightfoot dagegen kehrt nach kurzem US-Intermezzo bald in die Heimat zurück. Mit seiner Lesart von Country und Folk formt er einen sehr persönlichen Ton – ein Ton, der sich nie patriotisch gibt, aber das Publikum glaubt, in ihm typisch kanadische Mythen zu entdecken: Starke Naturbilder tauchen in seinen Songs auf, sie handeln vom Unterwegssein in der weiten Landschaft, von der Geschichte der Eisenbahn, dem Untergang von Schiffen, den Arbeitern auf den Wolkenkratzern. Lightfoot, der privat mit vielen Dämonen von Alkoholismus bis zu notorischer Untreue kämpft, singt auch oft über die Liebe, manchmal zynisch, nie sentimental, aber durchaus philosophisch, wie eben in „If You Could Read My Mind“.

Nun ist die Nationalikone im Alter von 84 Jahren gegangen. Erinnern möchte ich an ihn mit der für mich überragenden Liebesballade „Softly“.

Gordon Lightfoot: „Softly“
Quelle: youtube

Wohin statt Woher!

Rabih Lahoud von Masaa (Foto vom Künstler zur Verfügung gestellt)

Drei deutsche Jazzmusiker und ein deutsch-libanesischer Sänger-Poet: Aus dieser Kombination entsteht bei Masaa eine einzigartige Klangwelt. Die Stimme der Band, Rabih Lahoud, reflektiert im Interview über das Ankommen in Deutschland, sein Verhältnis zu einer sich verändernden arabischen Sprache und über die Kategorisierungen in Weltmusik und Jazz.

aktuell: SRF 2 Kultur strahlt meinen Beitrag mit Masaa am Dienstag, den 2.5. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell aus: Radio SRF 2 Kultur – SRF

Rabih Lahoud, wenn man das neue Masaa-Album Beit (Veröffentlichung: 28.4.) hört, hat man den Eindruck, dass die Musiker sehr direkt die Hörer ansprechen, der Sound ist nah und warm. „Beit“ bedeutet ja auch „Haus“, „Heim“. Heißt das, Masaa sind nach Jahren der Wanderschaft zuhause angekommen?

Lahoud: Das würde ich bejahen, zumindest ist auch das mein eigenes Gefühl. Nach 20 Jahren bin ich jetzt hier ein bisschen mehr angekommen. Die Hälfte meines Lebens bin ich jetzt hier, mitgestaltend, nicht als Gast. Ich sage nicht mehr: „Hier bin ich woanders“. Sondern: „Jetzt bin ich hier“. Und diese Musik, diese meine Ideen tragen dazu bei, wie die Klanglandschaft hier ist.

Was bedeutet Beit als Albumthema genau, in einer Zeit, in der immer mehr Menschen gezwungen sind, ihren Schutzraum zu verlassen, in der viele Häuser zerstört werden, durch die gewaltige Explosion im Hafen von Libanon, durch den Krieg in der Ukraine? Haben diese Ereignisse Einfluss gehabt auf die Entstehung der Platte?

Lahoud: Ja, absolut. Das ist eine Überlegung, die sich intensiviert hat nach diesen Ereignissen. Ich sehe das Konzept von „Haus und Heim“ als ein doppeltes. Zum einen, das historische Sesshaftwerden der Menschheit. Zum anderen aber auch etwas Internes: Was bedeutet das wirklich, sich zuhause zu fühlen? Was für viele Menschen normal ist, jst heute für viele, viele nicht mehr selbstverständlich, sondern ein Privileg geworden. Am Ende des Titelstücks singe ich immer wieder: „Keine Häuser zerstören, Häuser bauen!“ Das kann man auch metaphorisch verstehen. „Hatdem“ heißt zerstören, „dammara“ aufbauen. Die arabische Sprache ist da sehr rhythmisch in ihrer Struktur, und daher hört sich das fast an wie ein Spiel mit Rap.

Daheim kann man sich ja auch in einer Sprache fühlen. Auf früheren Alben haben Sie auch auf Deutsch gesungen, das ist jetzt weggefallen, die meisten Ihrer Texte sind auf Arabisch, und die sind länger geworden als früher. Ist das Arabische trotz der langen Abwesenheit vom Libanon immer mehr Ihr Zuhause?

Lahoud: Ich glaube schon. Meine Beziehung zum Arabischen hat sich verändert. Ich fühle mich wohler im Sprechen, deshalb verwende ich vielleicht auch mehr Wörter. In meinem Alltag als Jugendlicher war vor allem der Klang der Sprache etwas Schönes, nicht die Bedeutung der Worte. Jetzt langsam haben für mich die Wörter neue Bedeutungen, neue Erfahrungen, ich habe das Gefühl, ich kann das zulassen. Es klingt jetzt mehr nach Rabih als nur nach Arabisch.

Wo steht die arabische Sprache heute als künstlerisches Ausdrucksmedium?

Mein Gefühl ist, dass die arabische Sprache etwas durch die osmanischen und europäischen Einflüsse eingebüßt hatte. Besonders im Libanon war dieser Einfluss ja groß und wir haben dort heute eine Mischung von Sprachen. Das ist einerseits wunderbar, denn der Mensch ist ein Wesen, das sich anpassen kann, um der Kommunikation willen Dinge transformieren kann. Das ist insbesondere ein libanesischer Wesenszug: Man verlässt Identitäten, um in Kommunikation zu bleiben, es geht darum, dass man sich versteht. Andererseits hat diese wunderbare Sprache dadurch auch ein bisschen ihr Herz verloren, indem sie sich vielleicht minderwertig oder nicht up to date fühlt. Denn es gibt viele Wörter der modernen Welt, für die das Arabische heute keine Entsprechungen hat. Das Arabische braucht meiner Meinung nach eine künstlerische Unterstützung. Es darf nicht die Fähigkeit verlieren, dass man Schönheit und Zärtlichkeit und Kraft ausdrücken kann.

Verändert sich die arabische Sprache auch durch die Umwälzungen seit dem „Arabischen Frühling“?

Lahoud: Ja, total. Ich fühle einen Umbruch, eine Wende, eine Veränderung im Bewusstsein der jungen Menschen, vor allem der Generation, die jetzt nachkommt, nach dem „Arabischen Frühling“. Die Sprache wird als etwas behandelt, das wiedergeboren werden muss. Ich habe den Eindruck, junge Leute verwenden in den Social Media Dialektausdrücke aus den einzelnen Regionen jetzt pan-arabisch, und dadurch entsteht eine neue Hochsprache, eine neue Ausdruckskraft. Das wird in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren auch in den Strukturen der arabischen Gesellschaft sichtbar werden.

Haben Sie nur zur arabischen Sprache eine neue Einstellung gewonnen, oder auch zur Musik Ihrer ersten Heimat?

Lahoud: Früher habe ich nicht mit arabischen Skalen gearbeitet, war eher auf Distanz. Inzwischen fasziniert mich die klassische arabische Musik und ich recherchiere über sie. Ich merke jetzt, wie wertvoll das ist, wenn wir diese Schatzkiste in den Masaa-Sound hineinnehmen. Ein Stück auf „Beit“, eine Widmung an den Musiker „Zeryab“ aus dem Córdoba des 8./9. Jahrhunderts, steht zum Beispiel im Nahawand-Modus. Das ist eine Skala, die mit dem europäischen Moll verwandt ist. Aber es gibt in der arabischen Musik eben viele Molls: In Aleppo hört sich Moll durch andere Mikrointervalle ganz anders an als in Kairo. Durch diese feinen Unterschiede öffnen sich ganz verschiedene Welten.

Im Stück „Nabad“ gibt es die schöne Zeile: „Nimm das Gewicht der Vorfahren weg“. Ist das ein Plädoyer dafür, dass wir uns als bloße Menschen begegnen sollten, unbelastet von politischen Altlasten der Vergangenheit?

Lahoud: Ja, in dem Sinne: Wir müssen leichter damit umgehen, mit welchen Menschen wir uns verbinden, um es der Zukunft zu ermöglichen, dass sie anders aussieht. Das gilt aber auch für das überholte Denken in musikalischen Stilen. Wir müssen uns von der jahrzehntelang gehegten Sortierarbeit befreien, in der es immer hieß: „Was ist Jazz, was ist Weltmusik?“. Das ist für mich auch ein Gewicht. Die Einordnung unserer Band in die „Weltmusik“ ist nicht immer böse gemeint, aber der Begriff fragt immer wieder: „Woher kommst du?“ Jazz in seinem ursprünglichen Geist fragt eher: „Wohin willst du? Was willst du mit dem machen, was du hast?“ Lass uns Musik so betrachten: Guckt sie wohin? In die Zukunft? Macht sie Hoffnung? Vibriert sie im Magen oder nicht? Und lass uns das suchen und stärken und fördern.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

Masaa: „Freedom Dance“
Quelle: youtube