„180 Tage in einem tiefen Traum, in tiefem Frieden, nicht wie einer, der schläft, nicht wie einer, der stirbt, aber fast.“ Salvador Sobral singt die Eingangszeilen seines neuen Albums in verletzlichem Falsett, und dazu scheppert und poltert das Schlagzeug wie ein verschleppter Herzschlag. Dieser Mann hat eine Menge hinter sich. Kurz nachdem er 2017 den Eurovision Song Contest gewonnen hat, wird bekannt, dass sein eigenes Herz ihn nicht mehr lange am Leben erhalten würde. Kurzatmig, mit 25 Litern überflüssigem Wasser im Körper übersteht er kaum die Torturen des ESC, seine Schwester Luísa, Ko-Autorin des Siegertitels „Amar Pelos Dois“, fängt ihn auf, wo es geht.
Ein halbes Jahr zermürbender Warterei folgt. Doch Sobral findet einen Spender, und nach erfolgreicher Transplantation kehrt der heute 29-Jährige Schritt für Schritt ins Leben zurück, legt nun ein wunderbares neues Werk namens Paris, Lisboa vor. „Dieser erste Song auf dem Album steht für meine Katharsis“, sagt Sobral am Telefon aus Lissabon. Auch seine Sprechstimme hat dieses Empfindsame, Poetische, das ihn beim Singen so auszeichnet. „Es ist der Moment, in dem ich von Neuem starte, meine Wiedergeburt. Danach beginnt das eigentliche Album, frisch und leicht.“ Doch der Weg dorthin ist ein Kraftakt. Nach der OP geht er durch eine lange Reha-Phase, Sobral hört sich seine alten Alben an, versucht, die Kraft zum Singen zurückzugewinnen. „Natürlich hatte sich meine Stimme nicht nur auf physischer, sondern auch auf psychologischer und emotionaler Ebene verändert“, erinnert er sich.
Der Spross aus einer portugiesischen Adelsfamilie begeisterte sich schon früh für Jazz, nahm an der Castingshow „Ídolos“ teil, studierte an der Taller de Músics in Barcelona. Seine Auffassung vom Genre ist allerdings eine sehr freigeistige: „Ja, ich sehe mich selbst als Jazzmusiker, aber ich habe einen ganzen Haufen Bands, und in jeder erforsche ich verschiedene Charaktere und Persönlichkeiten. In meinem englischen Projekt Alexander Search bin ich eher ein Rocker, in einer anderen Band steht der Tanz im Vordergrund. Ich will ja schließlich nicht vor Langeweile sterben!“
Diese Experimentierfreude erklärt auch, dass er sich auf das Abenteuer ESC eingelassen hat. Heute sieht er diesen Ausflug mit seinem ganzen außermusikalischen Bohei sehr kritisch, spricht sogar davon, dass der Grand Prix „seine Prostitution“ war.
Wenn man Paris, Lisboa, Sobrals drittes Werk anhört, erkennt man schnell, dass er ein denkbar untypischer ESC-Sieger ist. Der Titel ist an „Paris, Texas“ von Wim Wenders angelehnt, dessen Filme Sobral mag, nicht musikalisch, aber wegen des Schwebezustands zwischen den beiden Orten. „In ihm befand ich mich die letzten achtzehn Monate, physisch und sentimental, denn meine Liebe lebt in Paris. Paris bedeutete für mich Befreiung nach dem Krankenhaus, endlich konnte ich wieder reisen! Ich ging ins Kino, in Museen, spazierte endlos durch die Straßen.“ Seine „Liebe“ ist die französische Schauspielerin Jenna Thiam, mit ihr ist er inzwischen verheiratet, sie hat das reizende Chanson „La Souffleuse“ für das Album beigesteuert.
Ein Album, das meist in Quartettbesetzung gekonnt durch die Stile etlicher Weltgegenden steuert, jazzige Improvisation mit englischem Songwriting und südamerikanischer Sonne verknüpft. Ein kubanischer Bolero erzählt vom Meer, ein Samba aus Brasilien, Sobrals größtes musikalisches Steckenpferd, wandelt sich in eine Jazzballade. Und ein fast philosophisches Liebesgedicht von Fernando Pessoa löst sich in spielerische Leichtigkeit. Schwester Luísa ist auch dabei, mit ihr singt er nur zur Harfenbegleitung die Miniatur „Prometo Não Prometer“. Die Geschwister verstehen sich blind, sangen schon als Kleinkinder stundenlang miteinander auf Urlaubsfahrten.
Der eigentliche Star ist Salvador Sobrals wandelbare Stimme, deren frühere Flexibilität er sich fast zurückerobert hat, wie er erzählt. „Während meiner Jazzausbildung habe ich gelernt, wie ich die Timbres von Caetano Veloso, Billie Holiday und Sílvia Pérez Cruz in einen großen Topf werfe, sie vermische und dann kam diese Stimme heraus.“ Schelmisch fügt er hinzu: „Ich bin ja nur ein Dieb.“ Aber ein sehr cleverer, kann man hinzufügen. Am Ende von „Paris, Lisboa“ mündet alles in einen ausgelassenen Tanz mit der kleinen Rajão-Gitarre aus Madeira, eine Erinnerung an einen Inselurlaub. Auf dieser roots- und popgefärbten Jazzscheibe, die kräftig untermauert, wie ein Musiker seine Schaffenskraft zurückerlangt hat, ist es ist die letzte, sonnigste Station. „Jedes Mal, wenn ich diese kleine Gitarre höre“, sagt Sobral, „denke ich an den Sommer in Madeira. Und dann muss ich lächeln.“
© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 29.03.2019