Chris Squire R.I.P.

Noch ein trauriger Anlass heute morgen: Chris Squire, extravaganter Bassmann von Yes ist gestorben. Was er auf dem Instrument anstellte, war das, wofür der Bass einer Rockgruppe eigentlich nicht gedacht war. Seine „kontrapunktische Arbeit“ und der Sound der Yes-LPs von 1970-1977 haben meine Jugend geprägt, viel mehr als ihre Rivalen Genesis oder Pink Floyd. Letztes Jahr durfte ich ihn noch sehen, in Mainz, mit einem Komplettdurchgang durch drei ihrer Alben. R.I.P., Chris.

Yes: „The Gates Of Delirium“ (Live 1975)
Quelle: youtube

Geboren als blaue Melodie

Seinen Sohn Jeff, ähnlich tragisch ums Leben gekommen, habe ich 1995 noch gesehen. Er selbst ist heute vor 40 Jahren gestorben: In memoriam Tim Buckley, begnadeter Traumtänzer zwischen Folk und Jazz, der von sich selbst in einem Song schrieb, er sei „als blaue Melodie geboren worden“. Ausgesucht habe ich einen somnambulen Track von seinem vierten Album Blue Afternoon (1969).

Tim Buckley: „Café“
Quelle: youtube

 

Schatzkiste #18: Himmlische Archaik

pitcvh gusman story - in the storm so longVarious Artists (1967-78)
In The Storm So Long
(Mississippi Records, 2008)

Hinter dieser Scheibe versteckt sich die abenteuerliche und ergreifende Geschichte des Waymon „Gusman“ Jones, einem Gospel-verrückten aus Savannah, Georgia. In den 1960ern eröffnete er einen Plattenladen, der zum Treffpunkt lokaler Gospelgruppen wurde. Jones nahm etliche unter seine Fittiche und machte Aufnahmen, die er auf seinen eigenen Labels Pitch und Gusman veröffentlichte. Mississippi Records, die Schatzgräber obskuren Vinyls aus Portland haben 12 Aufnahmen aus Jones‘ Bestand vor dem Vergessen bewahrt. Es rumpelt, knattert, krächzt und eiert – aber diese Einblicke in die glühende Spiritualität der Südstaaten aus einer vergangenen Ära ergreifen einen vieltausendfach mehr als der kommerzialisierte Plastikgospel von heute.  Danach muss die Gänsehaut sehr lange ins Abklingbecken. Danke an Gina für diese Perle!

The Lightly Singers Of Estill, South Carolina: „In The Morning When The Trumpet Sounds“
Quelle: youtube

Die Wahrheit über Afrika

gasmillaDie meisten Bands, die bei den hiesigen Afrofestivals präsentiert werden, haben nicht allzuviel zu tun haben mit dem Afropop der Jugend in Accra, Abidjan, Nairobi oder Jo’burg. Es scheint – mindestens – zwei Realitäten afrikanischer Musik zu geben: Hier die alten Flaggschiffe wie Angélique Kidjo, Salif Keita oder Youssou N’Dour fürs unverkennbar gealterte westliche „Weltmusik“-Publikum, dort die frischen Metropolenszenen, die die Insignien der MTV-Generation mit lokalen Zutaten zu kombinieren.

In London und Paris ist diese andere Afro-Wahrheit angekommen, in Deutschland wird sie weitestgehend ausgeblendet. Wer eine Lanze dafür bricht, ist das Team von Outhere Records. Jetzt sind sie mit eigenem Blog am Start. Auf urbanafricaclub.com  kann man die aktuellen Tendenzen zwischen Dakar und Addis Abeba bestaunen, mit kentnnisreichen Begleitinfos geschmückt. Die Songs  sind oft mit Auto Tune-lastigen Melodien und programmierten Beats gespickt, die unserem betulichen „Reinheitsgebot“ von exotischer Musik so gar nicht entsprechen. Begleitet werden die Hits von Clips, die ein amüsanter Spiegel der Jugendszene sind und oft witzige Geschichten erzählen.

Zwei habe ich mal rausgepickt, zum einen die beiden Ghanaer Gasmilla (Foto oben) und Capasta , die mit ihrer Story über eine misslungene Facebook-Bekanntschaft „Telemo“ („Carry“) zuhause gerade der Aufreger sind und dafür sorgen, dass in Ghana auch Männer ihr Gepäck auf dem Kopf tragen. Auch der Ivorer Bebi Philip hat’s in sich mit seinem letzten Schrei des Coupé Décalé-Genres, dem Balaumba-Tanz, der auch in Lederhosen funktioniert.

Danke an das Outhere-Team für ihre Entdeckungen!

Gasmilla ft. Capasta: „Telemo“
Quelle: youtube

 

Bebi Philip: „Balaumba“
Quelle: youtube

 

 

TFF-Vorfreude #2

gjermund larsenIn Norwegen ist das Hipstertum tief in die traditionelle Musik vorgedrungen, wie dem Bild oben und dem Video unten unschwer zu entnehmen ist. Der Geiger Gjermund Larsen steht mit seinem Trio an der Spitze einer Folkbewegung, die ihre Erneuerung auch aus dem Jazz bezieht. Zu hören beim TFF Rudolstadt, das nächste Woche Donnerstag mit einem Norwegen-Schwerpunkt startet. Mein Beitrag zur Mittsommernacht.

Gjermund Larsen: „Bachslått“
Quelle: youtube

 

Side Tracks #10: Aretha macht großen Bahnhof

aretha franklin - won't be long
flagge-vereinigte-staaten-von-amerika-usa-flagge-button-50x75Aretha Franklin: „Won’t Be Long“
aus: Aretha (Columbia, 1961)

Damit hat für die Queen of Soul Vieles angefangen: Der Song befindet sich auf ihrem ersten Studioalbum, das sie 1960 mit der Combo des Jazzpianisten Ray Bryant einspielte. Dank intensiver Gospel-Schulung war ihre Stimme mit 18 schon unfassbar weit entwickelt, was Phrasierung und Ausdruck angeht. Alle späteren Columbia-Aufnahmen bis zu ihrem Wechsel zu Atlantic Records Ende 1966 und dem Beginn ihrer Soulkarriere können nur schwerlich mithalten mit diesen frühen Aufnahmen. Bryants Rhythm Section und die Bläser imitieren grandios einen fahrenden Zug, während Aretha selbst am gospelgeladenen Klavier sitzt und von der Ungeduld singt, mit zitternden Knien am Bahnsteig auf ihren Liebling zu warten, der mit der 503 kommen wird.

Ob die Songschreiber J. Leslie McFarland und Aaron Schroeder (die kurz zuvor „Stuck On You“ für Elvis geschrieben hatten) bei der „503“ an einen bestimmten Zug dachten oder die Nummer nur wegen des Reims verwendeten? Hier ist jedenfalls die schönste 503, die ich gefunden habe, eine Lok der Great Northern Railway Company, die in den 1960ern westlich von Chicago verkehrte.

great northern 503

Aretha Franklin: „Won’t be Long“ (1961)
Quelle: youtube

Und es gibt zwei sehr unterschiedliche Live-Aufnahmen von diesem frühen Meisterstück des Eisenbahn-Souls:

Aretha Franklin at Shindig: „Won’t Be Long“
Quelle: youtube
Aretha Franklin live at the Steve Allen Show (1964): „Won’t Be Long“
Quelle: youtube

„Ich bin ein ballad guy“

Wenn nach wochenlanger Konzertdürre urplötzlich an allen Orten Deutschlands gleichzeitig hörenswerte Shows über die Bühne gehen, von denen man dann zwangsläufig die Hälfte verpassen muss, kann das nur eines heißen: Der Juli steht vor der Tür. Das Stimmen-Festival Lörrach hat sich unter seinem neuen künstlerischen Leiter Markus Muffler erkennbar von der Musik aus aller Welt abgewandt. Trotzdem präsentiert man im Dreiländereck einige Programmpunkte, die sich wohltuend vom üblichen Festivalbetrieb abheben.

Dazu gehört in allererster Linie der Auftakt am 2.7. mit Ivan Lins, einem der größten Songwriter der Welt (sorry, schon wieder so ein Superlativ, aber ich bin mit dieser Meinung nicht allein). Der Lokalkolorit-Clou: Lins hat auf seiner CD „Cornucopia“ mit dem brasilophilen Freiburger Musikprofessor Ralf Schmid und der SWR Big Band kollaboriert. Was es damit auf sich hat, im nachfolgenden Interview, das ich mit Lins geführt habe, als der völlig überraschend 2011 in Freiburg eintrudelte.

Und an dieser Stelle noch etwas verspätet:
Bom aniversário, Ivan!
Der Mann ist vorgestern unfassbare 70 geworden.
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TFF-Vorfreude #1

noura mint seymaliDas TFF Rudolstadt ist eines der ganz wenigen Festivals, die noch konsequent die globale Musikvielfalt präsentieren, nachdem viele andere Veranstalter in unseren Breiten und Längen immer mehr auf die anglo-amerikanische Konsensschiene einschwenken (oder schon immer auf ihr gefahren sind). Die so oft beschworene Interkulturalität Deutschlands, auf den Bühnen muss man sie mit der Lupe suchen. Umso mehr freue ich mich, dass es in knapp zwei Wochen an der Saale wieder losgeht, auch wenn ich 7 Stunden Anfahrt habe. Nur im thüringischen Städtchen lassen sich zum Beispiel Künstler wie die Mauretanierin Noura Mint Seymali erleben, mit der das Label Glitterbeat seine Vorliebe für Sounds aus dem Trockengürtel Westafrika untermauert. Seymali ist die Stieftochter der großen Dame der mauretanischen Musik, Dimi Mint Abba. Auf ihrem Album „Tzenni“ werden die traditionelle Stegharfe Ardine und Spießlaute Tidinit in ein kompaktes Rocksetting gefügt, das dank der E-Gitarre vom Gatten Jeiche Ould Chighaly auch mal psychedelisch werden kann – und überraschenderweise entfaltet die melismatisch verschlungene Vokalarbeit der Frontfrau dadurch noch mehr ungezähmte Flugkraft. Allein für dieses Konzert lohnt sich die Fahrt.

Noura Mint Seymali: „Tzenni“
Quelle: youtube

 

Der Duft der Nacht

debashish bhattacharya - from dusk till dawnDebashish Bhattacharya
Slide Guitar Ragas – From Dusk Till Dawn
(Riverboat Records/Harmonia Mundi)

Kleiner Nachtrag zum Festival Musiques Sacrées in Fès letzte Woche, wo dieser Mann ein beseeltes Duokonzert mit dem Malier Ballaké Cissoko gegeben hat: „Chaturangui“ könnte das schönste Wort im indischen Kulturraum sein. Diese vier Silben klingen nicht nur reizend, sie sind auch der Name für eine der vielen Eigenkreationen des Slidegitarristen und Instrumentenerfinders Debashish Bhattacharya. Mit der 24-saitigen Neuschöpfung, aber auch mit der indischen Ukulele Anandi hat der Meister aus Kalkutta seine Ausdrucksmöglichkeiten um ein Vielfaches erweitert. Nach etlichen cross-kulturellen Experimenten, etwa mit Bob Brozman oder John McLaughlin, konzentriert er sich hier solo auf die breite Ausgestaltung von Improvisationen, die einen von der Abenddämmerung durch die tiefe Nacht bis zum Sonnenaufgang führen. Eine virtuose, große Nachtmusik.

Debashish Bhattacharya & Subharsis Bhattacharjee live at Vilnius
Quelle: youtube