Rudolstadt 2025: Nachlese in Bildern

Sechs Jahre Pause. Als ich 2019 das letzte Mal beim größten deutschen Folk- und Weltmusik-Festival war, wusste niemand, was eine Corona-Pandemie ist. Die Zahl der kriegerischen Schauplätze hat sich seitdem vermehrt, ebenso die der faschistischen Regierungen, einige davon demokratisch gewählt. Völkerrechtsverletzungen sind auch in Deutschland von höchster Ebene aus salonfähig geworden. Die Erderhitzung ist weiter fortgeschritten, was sich dieses Jahr nicht nur an den hohen Temperaturen, sondern noch konkreter bemerkbar machte: 15 Kilometer entfernt vom Festival wütete ein Waldbrand, die Sirenen der Feuerwehr waren ein ständiger Kontrapunkt zu den Konzerten.

Wo sind die Utopien der frühen 1990er,  in denen ich das damals noch junge Festival Jahr für Jahr besuchte? Die Vision von der Einen Welt hat Schrunden und Furchen bekommen, und auch das Publikum, ob hippie-esque oder bildungsbürgerlich, ist kräftig gealtert. Nachwuchsbesucherinnen und -besucher, Familien: Es gibt sie zwar, sie sind aber in der Minderzahl. Roots Music scheint in Deutschland ein schleichend aussterbendes Genre zu sein, was zum Glück nicht so krass der Fall ist in anderen europäischen Ländern wie etwa in Skandinavien und dem Baltikum, auf den Britischen Insel oder auf der Iberischen Halbinsel, wo junge Leute nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne stehen.

Von dieser Bühne herunter wurde Völkerverständigung durch Musik immer noch vielfach beschworen, beklatscht und für vier Tage auch gepflegt. Verbrüder- und Verschwesterungen der Ethnien aus dem Gastland Mali waren spürbar, Völker, die gut miteinander auskommen, während die Fundamentalisten das Land seit 2012 mit kulturfeindlichem Terror überziehen. Eine durchschlagende Wirkung von musikalischer Verständigung aufs politische Parkett lässt sich dort wie andernorts beim besten Willen nicht feststellen. Wer am schönen und tröstlichen Glauben von Klängen als friedensstiftenden Kräften festhält, belügt sich selbst.

Trotz allem: Dass es dieses Festival, gewuppt von einem großartigen, warmherzigen, engagierten und präzise arbeitenden Team, zum 33. Mal geben durfte, in einer Umgebung, in der die Faschisten so viele Stimmen bekommen wie alle demokratischen Parteien zusammen, ist ein großes Geschenk und keine Selbstverständlichkeit. Hoffen auf eine vernünftige Politik wird während der nächsten Jahre nicht ausreichen, um diese weiter zu garantieren. Die Zivilgesellschaft ist gefragt.

Ali Bilali Soudan: Eine Tuareg-Band ohne überdrehte Desert Blues-Elektrik (alle Fotos: Stefan Franzen)

Kündete von der zeitlosen Qualität der frauendominierten, südostmalischen Wassoulou-Musik: Sadio Sidibé.

Nach Italien spannte der Ngoni-Spieler und Sänger Baba Cissoko eine bluesige Brücke.

Das Idrîsî-Ensemble unternahm den Versuch einer Rekonstruktion spätantiker Vokalmusik.

Musik aus dem Alentejo ging mit Viola Campaniça, Geige, Harmonium, Tabla eine Zwiesprache mit afghanischen Klängen ein – im Projekt Além Kabul.

Ein erster internationaler Musikstar der südmalischen Dogon-Ethnie: Petit Goro

Schon lange eine feste Größe: Ali Farkas Tourés Sohn Vieux

Seelenvolle Stimmen aus den lettischen Wäldern im Sonntagmorgen-Gottesdienst: Saucêjas

Stimmenwucht auf der Heidecksburg von Gospel bis Chanson: Ledisi

Afro-kolumbianische Tanzparty im staubigen Park: Choibá Chirimía

Lektion in tscherkessischer Historie: Svetlana Mamresheva von Jrpjej

Altmeisterin der Kalebasse: Mouneissa Tandina, Ex-Mitglied der Rail Band, mit dem Mali 70 Orkestra

Intime Seelensprache: Der Rumäne Daniel Lazar (Geige) und der Bosnier Almir Meškovic (Akkordeon)

Bajuwarisch mit Witz, Virtuosität und Innovationskraft: Maxjoseph

Listenreich I: 22 Songs für 2022

Arooj Aftab (USA/Pakistan): „Saans Lo“
Quelle: youtube
Tim Bernardes: „Mistificar“
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Georg Breinschmid & Caro Athanasiadis (Österreich): „Wer ist der Tod?“
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CATT (Deutschland): „How Can I Become“
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Constantinople & Ghalia Benali (Iran/Kanada/Tunesien): „Mawlay“
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Niels Frevert (Deutschland): „Weite Landschaft“
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Kevin Johansen feat. Natalie Lafoucarde (Argentinien/Mexiko): „Tú Ve“
Quelle: youtube
Joolaee Trio (Iran/Deutschland): „Be Hich Diyar“
Quelle: youtube
Lady Blackbird (USA): „It’ll Never Happen Again“
Quelle: youtube
Liraz (Israel/Iran): „Roya“
Quelle: youtube
Marala (Katalonien): „A La Vora Del Rio Mare“
Quelle: youtube
Orquestra de Músiques d’Arrel de Catalunya feat. Anna Ferrer: „L’Occult Natural“ (Katalonien):
Quelle: youtube
Marialy Pacheco feat. Nils Wülker (Kuba/Deutschland): „Cartagena Bliss“
Quelle: youtube
Pulsar Trio (Deutschland): „Bacheweich“
Quelle: youtube
Abe Rábade (Galicien): „Menciñeira Núa“
Quelle: youtube
Julio Resende (Portugal): „Vira Mais Cinco“
Quelle: youtube

Oumou Sangaré: „Wassulu Dun“
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Lucas Santtana (Brasilien): „Vamos Ficar Na Terra“
Quelle: youtube
Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Zawose“
Quelle: youtube
Thee Sacred Souls (USA): „Can I Call You Rose?“
Quelle: youtube
Trio SR9 feat. Blick Bassy (Frankreich/Kamerun): „One Last Time“
Quelle: youtube
Vieux Farka Touré & Khruangbin (Mali/USA): „Diarabi“
Quelle: youtube

Listenreich II: 22 Platten für 2022

Arooj Aftab (USA/Pakistan): „Vulture Prince“ (Verve)
Ghalia Benali / Constantinople / Kiya Tabassian (Tunesien/Iran/Kanada): „In The Footsteps Of Rumi“ (Glossa/Note 1)
Tim Bernardes (Brasilien): „Mil Coisas Invisíveis“ (Psychic Hotline/Cargo)

Georg Breinschmid (Österreich): „Classical Brein“ (Preiser)
Sona Jobarteh (Gambia): „Badinyaa Kumoo“ (Eigenverlag)
Misagh Joolaee & Sebastian Flaig (Iran/Deutschland): „Qanat“ (Pilgrims Of Sound)

Eva Kess (Deutschland): „Inter-Musical Love Letter“ (SRF 2)
Kolinga (Frankreich/Republik Kongo): „Legacy“ (Underdog Records/Broken Silence)
Lady Blackbird (USA): „Black Acid Soul“ (Foundation Music/BMG)

Leyla McCalla (USA/Haiti) „Breaking The Thermometer“ (Anti-)
Orquestra de Músiques d’Arrel de Catalunya (Katalonien): „Trencadís“ (Propaganda Pel Fet)
Marialy Pacheco (Kuba/Deutschland): „Reload“ (Wanderlust Recordings/Zebralution)

Abe Rábade (Galicien): „Botánica“ (Karonte/Galileo)

Júlio Resende (Portugal): „Fado Jazz“ (ACT(edel)
Emiliano Sampaio Jazz Symphonic Orchestra (Brasilien/Österreich): „We Have A Dream“ (Alessa Records)

Oumou Sangaré (Mali): „Timbuktu“ (World Circuit/BMG)
Abel Selaocoe (Südafrika/Großbritannien): „Hae Ke Kae – Where Is Home“ (Warner)
Somi (USA/Ruanda/Uganda): „Zenzile – The Reimagination of Miriam Makeba“ (Salon Africana)

Thee Sacred Souls (USA): „Thee Sacred Souls“ (Daptone)

Vieux Farka Touré & Khruangbin (Mali/USA): „Ali“ (Dead Oceans/Cargo)
Trio SR 9 (Frankreich): „Déjà Vu“ (NøFormat/Indigo)

Maya Youssef (Syrien/Großbritannien): „Finding Home“ (Seven Gates)

Zwei Wüsten wohnen in ihrer Brust

Vieux Farka Touré & Khruangbin
Ali
(Dead Oceans/Cargo)

Wenn sich eine Ikone aus Mali zusammentut mit einem Trio aus Texas, ahnt man, dass die Wüste eine gemeinsame musikalische Verständigungsbasis liefern kann. Beim Sahel-Rocker Vieux Farka Touré und dem psychedelischen Gitarrendub-Trio Khruangbin aus Houston ist das dann auch tatsächlich der Fall. Um den Songs der malischen Desert Blues-Ikone Ali Farka Touré, Vieux‘ Vater, Tribut zu zollen, ist dieses Teamwork die ideale Konstellation: Die manchmal spröden Originale werden fülliger, bekommen einen unwiderstehlichen Groove. Was bei Ali eher noch meditativ-versponnen war, wie zum Beispiel das hier von Orgel-Stupsern verzierte „Lobbo“, wird jetzt tanzbar.

Reizvoll auch, wie die ruppige Gitarre von Vieux sich mit den sanft glimmenden Riffs von Khruangbin-Saitenmeister Marc Speer zu einem ungleichen Paar verzahnt („Diarabi“). Die verzwirbelten Fünfton-Schleifen tummeln sich zwar oft in träumerischen Hallräumen, bekommen dann aber vom trockenen Drumkit her plötzlich auch mal einen knackigen Impuls: Das kann dann, wie in „Tongo Barra“, regelrecht funky werden. Timbuktu trifft Texas unter einem nächtlichen Funkelfirmament.

© Stefan Franzen

Vieux Farka Touré & Khruangbin: „Diarabi“
Quelle: youtube

Der Sahelrocker und die Elfe

toure easterlin - touristesVieux Farka Touré & Julia Easterlin
Touristes
(Six Degrees/Exil)

Der rührige Sohn von Ali Farka Touré hat in den Jahren nach dem Tod seines Vaters einen gewaltigen Karrieresprung gemacht, der nun acht Alben umfasst. Sein neues Teamwork ist eine Paarung, wie man sie sich kaum ausdenken kann: Der Saitengott vom Rand der Wüste trifft auf die experimentellen Vokalmäander von Julia Easterlin aus New York, die Philip Glass und Björk als Idole zitiert. Von dieser Polarität zwischen ruppigen Bluesskalen und elfenhaften Gesangslinien lebt Touristes: Dylans „Masters Of War“ funktionieren die beiden um zu einer Klage auf das gebeutelte Mali und die Weltpolizei Amerika, „Took My Brother Down“ ist ein bewegender Nachruf auf den in Ferguson erschossenen Michael Brown. Hinter „I’m Not Done“ ist unschwer Nirvanas „Where Did You Sleep Last Night“ zu erkennen, das ursprünglich mal ein Appalachen-Traditional war. Und in „Little Things“ legt ein grandioser Sahelgroove mit der Spießlaute Ngoni das Fundament für die sanften Irrlichter Easterlins. Was hier förmlich nach einem akustischen Pophit reicht, geht auf das Traditional „Kaira“ zurück, das schon Vieuxs Vater Ali aufgenommen hat. Diese Scheibe klingt wie eine lustvolle Zeugung aus Erde und Luft.

Hier stellen Vieux und Julia in einer Unplugged-Version die Single „Little Things“ vor – und geben dem Musikjournalisten-Nachwuchs eine Chance.

Vieux Farka Toure & Julia Easterlin: „Little Things“
Quelle: youtube