The Quartetness of the Universe

Im März konnte ich sie in Toronto bei der Weltpremiere von Nicole Lizées Stück „Black MIDI“ sehen, wo sie öfters mal die Instrumente zur Seite legten, um lustige Schwirrschläuche und elektronische Rappelkisten zu betätigen. Ein Vierteljahr später habe ich Kronos Quartet-Gründer David Harrington an der Strippe, um mit ihm über ein denkbar gegenteiliges Projekt, das neue Album Folk Songs zu sprechen.

David, wie entstand die Idee zu Folk Songs? Kam das von Kronos oder von den beteiligten Sängern?

David Harrington: Bob Hurwitz, der Präsident von Nonesuch zu jener Zeit, hatte die Idee, den 50. Geburtstag des Labels zu feiern. Ein Bestandsteil davon sollten Konzerte sein. Er wusste, dass Kronos über die Jahre hinweg mit vielen Sängerinnen und Sängern gearbeitet hatte, von Dawn Upshaw über Asha Bhosle bis zu Tom Waits und Tanya Tagaq, viele Sänger aus den verschiedensten Ecken der Welt. Für mich klang die Idee mit dem Konzert sehr verlockend, also stellte Bob uns Rhiannon Giddens, Sam Amidon, Olivia Chaney und Nathalie Merchant vor. Die Musik von Rhiannon und Natalie kannte ich schon. Über eine Arbeitsphase von mehreren Monaten dachten wir darüber nach, was die schönsten Songs wären, und als wir die Liste kürzten, überlegten wir dann, wer der Arrangeur der jeweiligen Melodie werden sollte, wer am besten unsere Möglichkeiten in die Arbeit der jeweiligen Sänger übersetzen könnte. Weiterlesen

Side tracks #22: Von Mile End in die Welt (#6 – Canada 150)

Erik West Millette (Québec)
aktuelle Alben: West Trainz / Train Songs (L-Abe)


Ganz am Ende des Künstlerviertels Mile End in Montréal stößt man auf die Avenue Van Horne. Hier ist ein kleiner Park im Gedenken an die 2010 verstorbene Lhasa de Sela eingerichtet, auf einer anderen Freifläche stehen grandiose Schrottskulpturen von Glen Lemesurier, und hinter einer schweren Eisentür verbergen sich die Werkstätten etlicher Künstler. Hier hat auch Erik West Milette sein Headquarter, Chef des West Trainz-Projekt, ich möchte behaupten, des fabelhaftesten musikalischen Eisenbahn-Unternehmens unserer Zeit. Erik empfängt mich am Tor, als Gastgeschenk habe ich eine Ausgabe des deutschen Eisenbahnkuriers zum 125. Geburtstag der Höllentalbahn dabei.  In wenigen Minuten sind wir tief in der Historie der Canadian Pacific Railway drin – und in seiner eigenen Geschichte, die sich von Louisiana bis Québec quer über den nordamerikanischen Kontinent zieht.

Erik, kannst du zu Anfang etwas über deinen musikalischen Werdegang erzählen?

Erik West Millette: Ich bin klassisch ausgebildet, auf dem Kontrabass, dem Cello und in Komposition. Ich habe auch elektroakustische Musik gespielt. Ich habe in Russland studiert, danach einige Meisterklassen in Lübeck besucht. Es war fantastisch, sechs Monate lang in Norddeutschland zu sein. Da ging es hauptsächlich um historische Musik, Bach und andere Organisten. Da war ich zwanzig, später war ich am Rimsky-Korsakoff-Konservatorium, um Prokojieff und Rimsky-Korsakoff zu studieren, auch Meisterklassen auf dem Kontrabass zu machen. Danach habe ich eine Weile in Südfrankreich studiert, bevor ich nach Québec zurückkam, nach Montréal. Ich habe auch Gitarre, Keys und die Hammond B3 gespielt, die liebe ich. Sehr bald finge ich an, selbst Instrumente zu entwerfen, denn ich bin ein Klangforscher und suche nach der Seele des Sounds.

Dein Großvater war Eisenbahner, hat das dein Interesse für das ganze Thema geweckt?

West Millette: Auf jeden Fall. Mein Großvater Leo West hat für die CNR gearbeitet, die Canadian National Railway. Als ich vier Jahre alt war, hat er mich mit allen Leuten in der Kaboose bekannt gemacht, dem letzten Waggon, in dem die Arbeiter mitfahren, auch mit dem Lokomotivführer, und ich war sehr beeindruckt. Das war eine Diesellok, den Geruch fand ich toll. Meine Familie kam über New Orleans, Kansas, Chicago und New York hierher nach Montréal, mein Opa war Afroamerikaner und verliebte sich in eine Upper Class-Lady aus Québec City. Ich habe also immer noch Familie in Louisiana und Florida. Mein Urgroßvater arbeitete außerdem für die Canadian Pacific Railway und parallel war er musical director – vielleicht kam von ihm die Inspiration, die Themen Musik und Eisenbahn zu mischen. Weiterlesen

Multi-Tasking mit Mallets (#4 – Canada 150)

Foto: William Mazzoleni

Joëlle Saint-Pierre (Québec)
aktuelles Album: Et Toi, Que Fais-Tu? (Eigenverlag)

Sie habe ich in einer Kneipe namens Le Verre Bouteille im Norden Montréals entdeckt, in Sichtweise des schiefen Olympiaturms. Dort treten immer wieder Musiker aus dem Songwriterfach auf, die man als ausländischer Kanada-Gast nicht unbedingt auf der Rechnung hat – am fraglichen Abend meines Besuches dort während des Montréal en Lumière-Festivals Mathieu Berubé, Chassepareil und eben sie. Joëlle schreibt ihre eigenen Lieder, zu denen sie sich aber nicht auf der Gitarre oder am Piano begleitet, sondern: auf dem Vibraphon. Das dürfte sie ziemlich einzigartig machen – nicht nur in Kanada.

Das Vibraphon ist ein Instrument, das man ja nicht oft im Chanson oder in der Popmusik findet. Wie hat deine Beziehung, deine Liebe zum Vibraphon angefangen? Kannst du beschreiben, was es für dich bedeutet?

Joelle Saint-Pierre: Als ich ein Kind war, habe ich Piano gelernt und dann Drums. Mit 12 bin ich aufs Konservatorium in Saguenay gegangen und habe dort das Fach Perkussion und klassische Perkussion belegt, ohne zu wissen, was mich erwartet. Ich musste mich da auch mit den Perkussionsinstrumenten mit Klaviatur befassen, also Marimba, Vibraphon und Xylophon. Die haben mir am meisten Spaß gemacht, denn die sind sehr spielerisch. Das Vibraphon spiele ich sehr zart, denn ich mag den Klang, wenn der Anschlag leise ist, die Obertöne sind reicher und das finde ich beruhigend. Der Klang des Vibraphons führt mich zu einer gewissen Einfachheit zurück, und das ist mein Ziel: in meinen Chansons die einfachen Sachen zum Ausdruck zu bringen. Weiterlesen

Die Freiheit der Westküste (#3 – Canada 150)

Foto: Nick Merzetti

Jaron Freeman-Fox (British Columbia)
aktuelles Album: Jaron Freeman-Fox & The Opposite Of Everything (Eigenverlag)

Kanada kann sich zwischen Halifax und Vancouver mit einer ganzen Riege erstklassiger Violinisten schmücken, doch unter den lebenden Meistern des Instruments ist er derjenige mit dem universellsten Ansatz: Jaron Freeman-Fox. Während meiner Reise war es nur möglich, ihn an einem ganz bestimmten Tag zu treffen, und dafür musste ich zehn Stunden im Zug sitzen. Wie sich schnell herausstellte, hat sich jede einzelne Minute der Fahrt gelohnt, denn selten habe ich ein so profundes und anregendes Gespräch führen können.

Als ich nachmittags um drei in der ruhigen Straße im Westen von Toronto eintreffe, sitzt Jaron auf seiner Veranda und frühstückt. Es ist noch Ende Februar und die trügerische Frühlingsluft, die vom Lake Ontario in die Stadt weht, lässt die Temperatur auf sieben, acht Grad plus hochschnellen. Jaron geleitet mich in sein Arbeitszimmer, wo seine Instrumente und sein kleines Studio untergebracht sind, und schon mit seiner ersten Antwort tauche ich in eine faszinierende Welt ein.

Jaron, wie stellte sich deine musikalische Kindheit dar? Welchen Einflüssen warst du ausgesetzt? War da von Anfang an die Geige?

Jaron Freeman-Fox: Mit vier wollte ich schon Geige spielen, mit sieben bekam ich dann eine. Ich wuchs ganz im Norden von British Columbia, in der Nähe zu Alaska auf, und dort zählte die Musik der Indigenen zu den Highlights. Was die, nennen wir sie mal „koloniale Musik“ angeht: Sie wird durch die Freiheit von Geschichte bestimmt. Das gilt für Kanada im allgemeinen, aber besonders für British Columbia, das ein sehr junger Bestandteil des Landes ist. Es gibt dort keine richtige eigene Tradition. Wofür ich dankbar bin! Im Gegensatz zu einem Fiddler, der in Schottland mit einer immensen Tradition aufwächst oder einem jungen Inder, dem man nahe legt, zuerst die indische klassische Musik zu lernen, ist es für mich einfach Fiddlemusik, ganz gleich, ob ich eine keltische Melodie oder Bluegrass lerne. Es gibt dort oben viele Musikfestivals, die nach dem Prinzip der Hippiezeit funktionieren. Die Leute kaufen einen Flecken Land, entscheiden sich, eine große Party zu schmeißen, und über die Jahre wächst es zu einem großen Festival. Und das macht die Musik da zu etwas sehr Eigenem. Als Teenager klagte ich darüber, dass ich keine Tradition hatte, die ich meine eigene nennen konnte, in die ich eintauchen konnte. Aber jetzt, wo ich älter werde, merke ich, dass es wirklich ein Spektrum gibt zwischen Geschichte und Kreativität: Je größer die Abwesenheit von Geschichte ist, desto notwendiger, dringlicher die Kreativität. Und das siehst du sehr gut an der kanadischen Westküste. Weiterlesen