Fast neun Monate nach meiner Rückkehr aus Kanada blicke ich in mehreren kurzen Kapiteln zum Jahresende wieder über den Atlantik. Denn mittlerweile hat sich Einiges bei den Künstlern getan, die ich für die Canada 150-Serie besucht und interviewt habe. Mein Lieblingsviolinist Jaron Freeman-Fox ist dieses Jahr rastlos unterwegs zwischen Tuva und British Columbia. Zur Zeit macht er für das Projekt „Hardangers/Harbingers“ einen Stopp in skandinavischen Breiten – dieser Tage hat er mit dem Drummer Petter Berndalen in Stockholm eine fantastische Spontansession abgehalten, die er mit uns teilt. Wer mehr zu Jaron lesen möchte, hier gibt es mein Interview, das ich im Februar mit ihm in Toronto geführt habe.
Jaron Freeman-Fox
Die Freiheit der Westküste (#3 – Canada 150)
Foto: Nick Merzetti
Jaron Freeman-Fox (British Columbia)
aktuelles Album: Jaron Freeman-Fox & The Opposite Of Everything (Eigenverlag)
Kanada kann sich zwischen Halifax und Vancouver mit einer ganzen Riege erstklassiger Violinisten schmücken, doch unter den lebenden Meistern des Instruments ist er derjenige mit dem universellsten Ansatz: Jaron Freeman-Fox. Während meiner Reise war es nur möglich, ihn an einem ganz bestimmten Tag zu treffen, und dafür musste ich zehn Stunden im Zug sitzen. Wie sich schnell herausstellte, hat sich jede einzelne Minute der Fahrt gelohnt, denn selten habe ich ein so profundes und anregendes Gespräch führen können.
Als ich nachmittags um drei in der ruhigen Straße im Westen von Toronto eintreffe, sitzt Jaron auf seiner Veranda und frühstückt. Es ist noch Ende Februar und die trügerische Frühlingsluft, die vom Lake Ontario in die Stadt weht, lässt die Temperatur auf sieben, acht Grad plus hochschnellen. Jaron geleitet mich in sein Arbeitszimmer, wo seine Instrumente und sein kleines Studio untergebracht sind, und schon mit seiner ersten Antwort tauche ich in eine faszinierende Welt ein.
Jaron, wie stellte sich deine musikalische Kindheit dar? Welchen Einflüssen warst du ausgesetzt? War da von Anfang an die Geige?
Jaron Freeman-Fox: Mit vier wollte ich schon Geige spielen, mit sieben bekam ich dann eine. Ich wuchs ganz im Norden von British Columbia, in der Nähe zu Alaska auf, und dort zählte die Musik der Indigenen zu den Highlights. Was die, nennen wir sie mal „koloniale Musik“ angeht: Sie wird durch die Freiheit von Geschichte bestimmt. Das gilt für Kanada im allgemeinen, aber besonders für British Columbia, das ein sehr junger Bestandteil des Landes ist. Es gibt dort keine richtige eigene Tradition. Wofür ich dankbar bin! Im Gegensatz zu einem Fiddler, der in Schottland mit einer immensen Tradition aufwächst oder einem jungen Inder, dem man nahe legt, zuerst die indische klassische Musik zu lernen, ist es für mich einfach Fiddlemusik, ganz gleich, ob ich eine keltische Melodie oder Bluegrass lerne. Es gibt dort oben viele Musikfestivals, die nach dem Prinzip der Hippiezeit funktionieren. Die Leute kaufen einen Flecken Land, entscheiden sich, eine große Party zu schmeißen, und über die Jahre wächst es zu einem großen Festival. Und das macht die Musik da zu etwas sehr Eigenem. Als Teenager klagte ich darüber, dass ich keine Tradition hatte, die ich meine eigene nennen konnte, in die ich eintauchen konnte. Aber jetzt, wo ich älter werde, merke ich, dass es wirklich ein Spektrum gibt zwischen Geschichte und Kreativität: Je größer die Abwesenheit von Geschichte ist, desto notwendiger, dringlicher die Kreativität. Und das siehst du sehr gut an der kanadischen Westküste. Weiterlesen