Der Brasilianer Ed Motta ist einer der originellsten Soul- und Funkmusiker unserer Tage. Als verrückter Plattensammler, Comic-Freak, Film-Liebhaber, Kompiler des letzten Kapitels von Too Slow To Disco und überhaupt Genussmensch verfügt er über unzählige Inspirationsquellen für seine eklektische Musik. Dabei ist er strikter Traditionalist und schert sich nicht um aktuelle Trends. Nach einem Intermezzo in Berlin ist Motta in die Heimat zurückgekehrt, wo er sein neues Album „Criterion Of The Senses“ einspielte. Vor seiner Deutschlandtournee habe ich ihn Interview getroffen.
Ed, jemand hat bei der Erstellung des Pressezettels dein neues Album aus Versehen „Centurion Of The Senses“ genannt. Das wäre doch auch ein schöner Titel für dich: „Der Zenturio der Sinne“…
Ed Motta: Hahaha! Nein, es heißt wirklich „Criterion“. Der Titel bezieht sich auf die Art und Weise, wie ich Dinge auswähle, die Kriterien für die richtigen Akkorde, Stimmen und Noten, die Sounds und die Arrangements. Diese Detailarbeit, die für die acht neuen Songs ein ganzes Jahr verschlungen hat. Harte Arbeit für die Sinne, aber auch für das Hirn. Ich habe viele Sachen, die ich über Produktion gelernt habe, da reingesteckt. Der Sound mit den beiden Pianos und der Gitarre lässt die Akkorde fett klingen, größer als der Schwarzwald.
Dein letztes Album hast du in Pasadena mit einer US-Band eingespielt, auf Criterion Of The Senses sind es wieder brasilianische Musiker, die mit dir in Rio gearbeitet haben. Es klingt mal nach Marvin Gaye, mal nach nach Steely Dan und auch mal nach funky Disco. Aber klingt es auch brasilianisch?
Motta: Nein, gar nicht. Die Jungs sind alle Imitatoren wie ich. Du kannst unsere Herangehensweise mit der einer indischen Bluesband vergleichen: Auch wenn es Inder sind, wird es sich bei ihnen irgendwie nach Blues anhören. Es steckt nichts Brasilianisches in dem Album, vielleicht ein Hauch davon in der besonderen Harmonik. Aber unterm Strich ist es viel mehr Steely Dan als Brasilien, die Akkorde klingen mehr nach Donald Fagen als nach Tom Jobim. Das ist eben mein Leben, meine musikalische Realität.
Auf Perpetual Gateways hast du strikt Gitarren vermieden, jetzt sind sie wieder da, ein Track hört sich sogar fast nach Nile Rodgers, dem Rhythmusgitarristen von Chic an.
Motta: Ja, dieses Album ist fast eine Ode an die Gitarren, ein Gitarren-Manifest. Und es ist schade, dass man heute nicht mehr viel Gitarre hört, verglichen mit der Musik aus der Zeit vor meiner Generation, die ja so auf Turntables und Electronics steht. Das wirst du nie in meiner Musik hören. Niemals! Es wird bei mir immer organisch sein, Musik, wie sie vor der Punk -und der HipHop-Bewegung der 1980er war.
Dabei hast du mit „Shoulder Pads“ ein Stück auf dem Album, in dem du den Achtzigern nachtrauerst…
Motta: Ja, aber nicht der Musik! Damals waren britische Indie-Bands wie The Cure in Brasilien ganz groß, gar nicht meine Sache. Doch ich vermisse die Schulterpolster, die Vokuhila-Frisuren, die coolen Fernsehserien. Wenn ich aus der Schule zurückkam, habe ich mir angeguckt, wie „Magnum“ ein Schinken-Käse-Sandwich verdrückt hat. Deshalb verwenden wir seine Titelmelodie auch als Intro zu meinen Shows.
Seit zwei Alben textest du auch selbst, und du bist von Science Fiction, Agentenstories und auch Literatur beeinflusst. Genießt du deine neue Rolle als dein eigener Textschreiber?
Motta: Total, denn endlich kann ich meine Vorliebe für diese Sachen mit der Musik verbinden. Es sind Film Noir-Atmos mit Verschwörungen, Spielern und Gaunern, Geschichten wie in Don Siegel- oder John Cassevetes-Filmen, die ich erzähle. Und einmal kommt auch Kafka in einem Text vor, den ich wirklich in Prag geschrieben habe, als mal wieder ein Flug gestrichen wurde. Das passiert mir in Europa andauernd: Mein Gepäck geht verloren oder mein Flug wird gecancelt. Eine wirklich kafkaeske Situation.
© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 2.11.2018
Tourdaten:
3.11. Hannover, Jazz Club – 7.11. Karlsruhe, Tollhaus – 8.11. Freiburg, Jazzhaus – 9.11. Stuttgart, Bix – 10.11. Erfurt, Franz Mehlhose – 11.11. Wiesbaden, Walhall-Theater – 14.11. Ingolstadt, Bürgerhaus Alte Post – 15.11. Berlin, Quasimodo – 16.11. Kassel, Thetaerstübchen – 17.11. Dresden, Jazztage – 18.11. Dinslaken, Stiftung Ledigenheim Dinslaken-Lohberg