Zum heutigen Aretha Day ein weiteres Kapitel in der weitmaschigen Serie Holler Love Across The Nation, die ich nach Aretha Franklins Tod begonnen habe. Aretha muss eine Schwäche für Big Maybelle gehabt haben, denn „Pitiful“ ist nach „Ramblin'“ der zweite Song von ihr, der’s auf das Album Soul ’69 geschafft hat: Eine wuchtige Dame im weißen Spitzenkostüm und Handschuhen, die in Newport 1958 so mächtig abgeräumt hat. Vielleicht hat die große Maybelle ja alles gemacht, was Aretha als Teenagerin unter der strengen Aufsicht ihres Predigervaters nicht machen durfte. Ihre heimliche böse Schwester sozusagen. In „Pitiful“ jedenfalls maunzt Maybelle ihr Selbstmitleid so aufbrausend heraus, dass man schier in Deckung geht. Da kann die Bluesgitarre noch so ruppig die Akkorde rausschrubben, ihr Begleitsänger noch so traurig die Stimme hängen lassen und die Bläser wie ein ganzer Fuhrpark altersmüder Lokomotiven aufheulen: Maybelle hat das Kommando und beschwert sich bitterlich. Man sieht’s förmlich vor sich, wie sie da mit den Händen in ihren ausladenden Hüften steht und ihr Baby anmotzt, dass sie zwar längst den Laufpass bekommen hat, der Lover sie aber trotzdem nicht freigibt. Er lässt sie weiterhin versauern, einen Hund würde man besser behandeln, singt sie.
Diese ganze angesammelte Wut kocht in Arethas Version noch vielmehr hoch. Mit einem gigantischen Aufseufzen beginnt die Bigband, und Aretha stöhnt ihr Genervtsein in einem Ton heraus, den sie wie einen Bogen bis zum Anschlag anspannt, bevor die Melodie auch nur anfängt. Träge schleicht das Sax von King Curtis um sie rum, missmutig klimpert das Piano, alle lassen sie die Schultern hängen. Doch dann kann sich der Verflossene auf was gefasst machen. Die gesamte Band hält auf Arethas Kommando inne: „It looks like it makes you happy, just to see me cry“, faucht sie dem Ex entgegen und steigert sich in eine Mischung aus verletzter Klage und heiligem Zorn hinein, der gesamte Bläserapparat steht ihr bellend zur Seite, wenn sie mal in den Pausen atmen muss. Puuh, das musste raus. Aber Aretha kann sich jetzt gar nicht mehr beruhigen. Als das Orchester den Rhythmus wieder aufnimmt, geht die Schimpfkanonade in den höchsten Lagen einfach ungebremst weiter. Könnte der zornigste Swing der Musikgeschichte sein.
„Ich bin Soul ‘69“ – eine Aretha Franklin-Platte erzählt SRF 2 Kultur – Passage
21.12.2018, 20h00 (Wdh. 23.12.2018, 15h03)
Eine Hommage von Stefan Franzen
Am 16. August dieses Jahres starb Aretha Franklin. Oft ist ihr Leben nachgezeichnet worden, von Biographen, Musikkritikern, Wegbegleitern. Eine Schallplatte allerdings hat wohl noch nie Franklins Vita erzählt. Im Januar wird „Soul ‘69“, das sechste Album der Sängerin für Atlantic Records 50 Jahre alt – und kurz vor ihrem runden Geburtstag lässt sie das Leben der Queen of Soul durch ihre Rille ziehen.
„Mein Körper ist voller Schrunden und Schrammen, aber meine Seele habe ich von Aretha“, sagt „Soul ’69“. Wenn die alte Schallplatte erzählt (Sprecherin: Sabine Trieloff), wird Aretha Franklins Geschichte lebendig: Von ihrer Geburt in Memphis zu den frühen Prägungen in der Gospelschule des Vaters, von ihrer Verehrung für Dinah Washington und ihrer Freundschaft zum späteren Motown-Star Smokey Robinson bis zu den Jazz- und Easy Listening-Jahren bei Columbia Records. Und schließlich ihre Metamorphose zur größten Soulstimme aller Zeiten bei Atlantic, mit Hits wie „Respect“ und „Natural Woman“. Hier wurde sie auch zur Ikone der schwarzen Bürgerrechtler und der für Gleichberechtigung kämpfenden Frauen.
Die Hörer tauchen in die Entstehung und die Musik von „Soul ’69“ ein. Franklins sechstes Werk für Atlantic Records hat eine Sonderstellung unter ihren Alben für das New Yorker Label: Produzent Jerry Wexler paarte Arethas vorwiegend weiße Begleitband mit der ersten Riege der New Yorker Jazzszene. Größen wie Ron Carter, Junior Mance, Joe Zawinul, King Curtis und David Newman waren bei den Sessions mit von der Partie.
Die zwölf Stücke, unter ihnen bekannte Songs wie „Crazy He Calls Me“, „Gentle On My Mind“ oder „Tracks Of My Tears“ überwinden stilistische Grenzen und Epochen: Franklin selbst wählte sie aus, vereint in ihrer machtvollen Soulstimme Blues, Gospel, Pop, Country und Folk, all dies gebündelt in den Bigband-Arrangements von Arif Mardin. Im Studio erwies sich jedoch Franklin selbst als die Dirigentin des Geschehens, die mit ihrer unvergleichlichen Vokalkraft das gesamte Orchester unter Kontrolle hatte.
„Soul ‘69“ entstand darüber hinaus in einer turbulenten Zeit für die Protagonistin: Kurz vor dem Start der Sessions wurde ihr enger Freund Martin Luther King erschossen, die Aufnahmen musste sie für ihre erste, triumphale Europatournee unterbrechen, und die dramatische Trennung von Ehemann Ted White hinterließ ebenso ihre Spuren in den Aufnahmen.
Aretha Franklins Gesang war zeitlebens geprägt von dem Dilemma zwischen der bitteren Erde und der himmlischen Glut, zwischen dem Käfig des Körpers und der spirituellen Sphäre. „Den Körper braucht es den für den Soul“, sagt die Schallplatte „Soul ‘69“. Denn in ihrem eigenen schwarzen Leib aus Vinyl erklingt die Stimme der Königin, lebt weiter, auch nach Franklins Tod.
Am 25.12. um 20h gibt es dann die Sendung „Aretha Franklin – eine spirituelle Sängerin auf der Bühne“, in der es um „Live At Filmore West“ und insbesondere um das Gospel-Album „Amazing Grace“ geht – hierfür ist auch ein Pfarrer ins Studio eingeladen. Dieser Tage wurde bekannt, dass Sydney Pollacks Film zu diesen Gospelsessions nach 46 Jahren tatsächlich Anfang 2019 in die Kinos kommen soll. https://www.srf.ch/sendungen/srf-2-kultur-musik/aretha-franklin-eine-spirituelle-saengerin-auf-der-buehne
Vielleicht kennt ihr das Gefühl: Ihr wacht morgens auf und merkt sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Die Sonne fällt schon durch die Ritzen Jalousien, die Vögel singen, fröhliche Stimmen dringen von draußen ins Zimmer. Es könnte so ein perfekter Sonntagmorgen sein, wie sie einem nur einmal im Jahr oder noch seltener geschenkt werden. Aber nein, da liegt ein Spuk über dem noch abgedunkelten Zimmer, bleischwer sind die Glieder, als würde einen ein Gewicht tonnenschwer aufs Bett pressen, und im Bauch liegt ein ganzer Schiffsfriedhof mit rostigen Wracks. „Without a word of warning”, ganz ohne Vorwarnung ist da eine unheimliche Präsenz zu spüren, ein Spuk, und plötzlich wird dieser Spuk auch greifbar. Es ist der Blues.
Der Blues lungert wie ein trauriges Gespenst herum, saft- und kraftlos kreiselt er von einer Ecke zur anderen, versperrt dir den Ausgang, nimmt dir die Kraft, die Decke zurückzuschlagen. Und das Gemeine ist: Du weißt nicht mal, warum er da ist, du weißt nicht, warum du dich traurig und einsam fühlst. Unerklärlich, ungreifbar, ohne Namen – so ist am Anfang dieser Blues, den Aretha schon 1960, 18 Jahren besungen hat, in einem Song des Chicagoers Curtis Reginald Lewis. Vor Aretha haben wenige diesen Song aufgegriffen, die Sängerin Helen Humes hat ihn 1948 etwas hilflos, wie ein bekümmertes Mädchen versucht, und sie springt auch ziemlich staksig zwischen Dur und Moll herum, fast ohne die schönen Blue Notes, diese Trübungen, die es ja gerade im Blues braucht.
Wenn Aretha das Wort “Blues” singt, dann zieht sie das “U” ins Unerträgliche, und dieses “U”, es fährt in die Eingeweide, mitten in den Schiffsfriedhof im Bauch, weil es eben ein Viertelton neben dem Ton liegt, der da eigentlich hingehört. Und sie beschreibt, mit einer Kette von gepeinigten blauen Noten, wie er sich da breit macht im Raum, der ganze “roooooom” wird zum “bluuuuuues”. Sie rätselt über ihre Traurigkeit, und wenn sie „sad“ singt, in fragender Zurückhaltung, dann ist es, als ob sie dieses „sad feeling“ untersuchen würde, von dem sie noch gar nicht weiß, woher es kommt. Denn das Gespenst, vielleicht steckt es in dieser ewig nörgelnden E-Gitarre, die keine Ruhe geben will, es ist nur ein Vorbote.
Da klingelt das Telefon, und ihr Baby ruft an: „Es ist aus mit uns!“ Und plötzlich wechselt die Musik in einen Durakkord, ausgerechnet jetzt. Das kann nur bittere Ironie sein, schockartige, aber auch süße Resignation nach dem Motto: Ach ja, mal wieder ein Typ, der sich vom Acker macht. Gestern noch ein Liebeslied auf den Lippen, heute: der Blues. Dich hab‘ ich nicht eingeladen, aber die geschlossene Tür kümmert dich ja eh nicht. Anders als Helen Humes nimmt Aretha jetzt, wo sie weiß, mit wem sie’s zu tun hat, es mit dem Blues auf, sagt ihm auf den Kopf zu: Dich kenne ich schon. Ja, sie heißt den Blues auf diesem grandios in die Länge gezogenen „today“ willkommen, wird eins mit ihm, absorbiert ihn mit all der gebotenen Melancholie, denn sie weiß, nur so wird sie mit ihm fertig. Und sie tut das mit all der Kunstfertigkeit der Phrasierungen, mit all der fast zynischen Verzweiflung.
„Funny”, fast lustig findet sie es, wie die Liebe sie wieder ausgebootet hat, von einem Tag auf den anderen, „lovers“ ist das erste Wort, das sie nicht etwa zärtlich unter die Lupe nimmt, sondern es regelrecht trotzig herausbellt in der Erinnerung an gestern. Und sie schwankt zwischen Zynismus und Wut, entscheidet sich schließlich für die letztere, und gerät ganz außer sich, ist gar nicht mehr niedergeschmettert, klettert rauf zu zwei markerschütternden Schreien. „Warum bin immer ich die Verliererin in JEDEM, in JEDEM Liebesspiel?” Und am Ende, irgendwo zwischen diesen beiden mächtigen “Oh’s” einer verletzten Löwin ist sie eins mit ihrem Schmerz, hat ihn gebändigt, verschlungen – und kein Zweifel: Sie wird ihn besiegen.
Neun Jahre später, auf der LP Soul 69 ist Aretha noch souveräner im Umgang mit dem Gespenst geworden, geht den Blues noch kühner an. Zieht das „Why“ ins Unermessliche, kniet sich in den tiefsten Lagen in das böse Wort „through“, mit dem ihr Lover das Ende besiegelt, fährt Karussell mit den „Everys“, schmachtet nochmal mit hörbarem Stöhnen nach dem „honey“. Erdreistet sich, die Liebe selbst geradezu furchteinflößend anzufauchen: Was soll das? Du kannst noch so viel geben, du wirst immer verlieren. Ja, sie zelebriert den Blues und bezwingt ihn dadurch noch eindrucksvoller. Aber es ist schon fast kein Ringen mehr, sie hat ihn von Anfang an in der Hand. Und dann das ganze Orchester hinter ihr: Ich weiß nicht. Die swingenden Saxophone, die den Ernst der Angelegenheit nicht so richtig erkennen wollen, die Trompeten, die in diesem Duell nur Störfeuer abgeben.
Diese Sache zwischen dem Blues und dir, das ist etwas, das sollte in der Kammer ausgetragen werden. Schrei ihn raus, bemächtige dich dieser Trauer, aber tu es in deinen eigenen vier Wänden. „Royalty does not weep in the street, hat die Radiomoderatorin Mildred Gaddis bei Arethas Trauerfeier gesagt. Und bei diesem Song passt das besonders: Wo die Königin ihren Schmerz nicht offen zur Schau stellt, mit einer Bigband im Rücken, sondern mit der Ray Bryant Combo im stillen Kämmerlein bleibt, da wirkt dieses Ziehen und Zerren noch viel ehrlicher, viel intensiver. Mit diesem Überfall endet Arethas erste Platte, und man ist fast versucht zu sagen: Was kann jetzt noch kommen?
Aretha Franklin „The River’s Invitation“ (Percy Mayfield) (aus: Soul ’69, 1969)
Dieser Song war verantwortlich für meine späte Soul-Erweckung. Mir standen sämtliche Nackenhaare zu Berge, als Aretha in der zweiten Strophe mit ihren Shouts loslegte – und dann hat sie mich bis heute nicht mehr losgelassen. Deshalb musste ich auf diesen Song eine etwas längere Lobeshymne schreiben.
Es mag Leute geben, die denken, „The River’s Invitation“ handle vom Selbstmord. Aber ich glaube nicht, dass Percy Mayfield, von dem der Song stammt, das im Sinn hatte. Da reist einer durchs ganze Land, hat jedes Fleckchen Erde umgekrempelt auf der Suche nach seiner Liebsten. Dass sie noch irgendwo am Leben sein muss, da ist er sich sicher, aber er kann sie nicht finden. In seiner Verzweiflung redet er mit dem Fluss. Und er bekommt auch eine Antwort. „Mein Lieber, du siehst ganz schön einsam und erbarmungswürdig aus“, sagt der Fluss. „Wenn du dein Baby nicht finden kannst, dann lass mich dir eine Heimstatt anbieten.“
Nein, „River’s Invitation“ ist kein Lied über einen, der ins Wasser geht. Es ist ein Song über Rastlosigkeit, übers Unterwegssein auf der Wasserstraße, bis ans Ende deiner Tage, weil du nur so über den Schmerz hinwegkommst: durch ständige, betäubende Bewegung. Der Texaner Percy Mayfield ist ein Meister des Vagabundentums. Sein anderer großerer Erfolg war auch so eine Rhythm’n’Blues-Hymne übers Weggehen, „Hit The Road Jack“, ihr kennt ihn von Ray Charles. Furchtbar, dass Percy während seines eigenen Unterwegsseins verunstaltet wurde, ein Autounfall hat ihn übel entstellt. Sein Flusslied mag nicht so packend sein und nicht so einen unverwechselbaren Basslauf haben wie „Hit The Road Jack“, aber es scheint mitten aus den Sümpfen des Südens zu kommen, aus den muddy waters, wo man gar nicht mehr weiß, was ist jetzt Wasser und was Land. Wo das Wasser das Land nicht nur einlädt, sondern es umschlingt. Die tiefen swingenden Bläser, dazu ein kreiselndes, kitzelndes Piano und die sonore Stimme von Percy – das versetzt einen in ganz alte Blueszeiten, obwohl er es in dieser ersten Version doch erst 1953 in die Welt setzte. Man kann sich schwer vorstellen, wie dieser Song noch glaubhafter werden kann.
Percy Mayfield: „The River’s Invitation“
Quelle: youtube
Bei Aretha wird er’s, weil sie ihn nochmal ganz anders anpackt. Hört euch diese groovige Gitarrenlinie an, die fast glitschig in die Höhe klettert. Der Jazzer Kenny Burrell hat die hingezaubert. Über diesem Groove steigt Aretha ein, zieht den Anfangston eine halbe Ewigkeit nach oben. Um ihre Stimme herum schleichen sich allmählich die Blechbläser rein, die Trompeten schreien auf, die Tuben grunzen, und als der Fluss antwortet, hat er das größte Mitgefühl, dass man sich vorstellen kann: „Oh you look so lonely, and so full of misery“ – Aretha als Flussgöttin lässt hier einen Mitleidsschrei los, der die Membran des Mikrofons wohl fast zersprengt hat, jedenfalls konnte der Toningenieur das damals gar nicht mehr gescheit auspegeln. Und immer weiter türmt sich das Orchester hoch, macht nur noch mal kurz Platz für ein schönes Pianoeinsprengsel. Doch so gigantisch sich die Bigband hier auch aufbäumt, Aretha nimmt es mit dem ganzen Apparat auf, schmettert über den schärfsten Trompetenattacken ihre Sehnsucht heraus nach dem ewig dahinrollenden Fluss.
Aretha Franklin: „The River’s Invitation“
Quelle: youtube