Nahöstliche Nachbarschaftshilfen


Dudu Tassa & Jonny Greenwood
Jarak Qaribak
(World Circuit/BMG)

Ein ungleiches Duo? Nur auf den ersten Blick: Israels Rockstar Dudu Tassa hat jüdisch-irakisch-kuwaitische Vorfahren, Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat in eine irakisch-ägyptische Familie eingeheiratet und liebt die Musik des Nahen Ostens. Jarak Qaribak (dein Nachbar ist dein Freund) ist also ein spielerisches Manifest ihres gemeinsamen Herzblutes: ein Album mit bekannten Liebesliedern des gesamten arabischen Raumes von Marokko bis in den Irak, vom Duo sanft modernisiert.

Bewusst haben Tassa und Greenwood viele Gaststimmen eingeladen, um Versöhnung der arabischen Länder zumindest musikalisch zu zelebrieren. Herausragend das dubbige, von wehmütigen Bläsergardinen umwehte „Leylet Hub“ aus Ägypten, ohrwurmig „Ahibak“ mit 1001 Nacht-Streichern, perlender Kastenzither und der Schmachtstimme von Safae Essafi aus Dubai. Und Greenwood hat seine Viertelton-Lektionen auf Gitarre und Bass gelernt: mal im Dialog mit einer aufgekratzten Trompete („Jan Al-Galb Salik“), mal als trabender Rhythmusgeber für einen algerischen Klagegesang.

© Stefan Franzen

Dudu Tassa & Jonny Greenwood feat. Nour Freteikh: „Taq ou-Dub“
Quelle: youtube

Neo-Soul-Flow aus London

Als Mitmusikerin von Prince machte sie zuletzt von sich reden, dann war sie fünf Jahre weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Bis sie sich im Februar mit einem Paukenschlag zurückmeldete: Mit dem BBC Symphony Orchestra kleidete Lianne La Havas ihr Repertoire in ein mächtiges, symphonisches Gewand. Zu hören auch einige neue Songs, Vorboten ihres dritten, selbstbetitelten Opus das jetzt erscheint (VÖ: 17.7.). Neue Band, neue Einflüsse von Radiohead bis Joni Mitchell und ein neuer Neo Soul-Flow: Zeit für ein telefonisches Update mit der 30-jährigen Südlondonerin.

„Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt, hatte noch niemals zuvor mit einem Orchester gespielt“, erinnert sich La Havas an ihren Abend mit dem Symphonieorchester. „Aber dann: Wow! Das hat mir eine so große Kraft verliehen, fühlte sich so befreiend an und ich war einfach extrem glücklich, mit einem der tollsten Klangkörper der Welt meine Songs zu spielen.“ „Befreiung“ ist tatsächlich auch der Überbegriff für ihr drittes Studiowerk, das sie in L.A. ersonnen, aber in London eingespielt hat.

Es ist mittlerweile schon acht Jahre her, dass die Tochter einer Jamaikanerin und eines Griechen in die Soulwelt mit ihrem Debüt „Is Your Love Big Enough?“ hineinexplodierte. Ihre sonnengetränkte und frische Ausstrahlung setzte sie in trotzigen Soulhymnen mit querstehenden Gitarrenriffs, genauso aber in charmanten, fast jazzigen Miniaturen um. Der Nachfolger „Blood“ peilte coolen R&B an, hatte aber eine etwas glatte Oberfläche. Beide Welten hat Lianne La Havas auf dem dritten Werk austariert. „Das erste Album war experimentell, sprang zwischen allen Genres, die ich mag, hin und her, das zweite war produzierter. Dieses neue Werk liegt in der Mitte, klingt sehr live, hat viele Gitarren, großen Gesang, berücksichtigt aber auch alle meine Studioideen“, analysiert La Havas. Selbstbewusst, aber nicht abgeklärt tönt „Lianne La Havas“. Viele der Stücke wurden in L.A. ersonnen, ihrer Lieblingsstadt zum Abhängen. Eingespielt wurde aber in London, mit Musikern, die von ihrem langjährigen Produzenten und Keyboarder Matt Hales zusammengestellt wurden, aus verschiedensten Bereichen, von Pop über afrikanischer Musik bis zu Jazz, Soul und HipHop.

„Ich wollte zunächst mal austesten, wie ich mit dieser neuen Band im Studio arbeiten kann, dafür nahmen wir uns ‚Weird Fishes‘ von Radiohead vor, einen Song, den ich schon ewig auf der Bühne gespielt hatte“, sagt La Havas. „Es war perfekt! Alle meine Hoffnungen haben sich erfüllt, denn jeder brachte seine Individualität ein. Diese Jungs haben mir wirklich geholfen, meinen Sound zu definieren. Es ist nicht einfach britischer Soul, sondern es klingt durch und durch nach mir.“ Ermutigt durch diese Synergieeffekte, begann La Havas Lyrics zu schreiben, die sehr intim von all dem erzählen, was sie durchlebte während der letzten Jahre. Vom Wiedergewinnen des Selbstvertrauens nach einem Tournee-Burnout im hymnischen „Bittersweet“. Von der liebevollen Erinnerung an ihre verstorbene Großmutter, deren Lebensweisheiten sie mit dem hymnischen „Sour Flower“ ein Denkmal gesetzt hat. Und von neuer Liebe, die sich in „Read My Mind“ mit elegant-süffigem Neo-Soul-Flow die Bahn bricht.

Sie tut das mit einer Stimme, die immer noch ihr unverkennbares Vibrato besitzt, das nur Lianne La Havas hat, die sich aber auch verändert hat: „Meine Artikulation ist viel stärker geworden. Ich lasse keine Töne mehr aus, bin nicht mehr so nachlässig oder zu relaxt. Hoffentlich wird die Stimme, wie sie jetzt ist, für lange Zeit meine Stimme sein!“ Lianne La Havas souliger Planet hat auf diesem dritten Opus auch ein paar überraschende Satelliten eingefangen. „Green Papaya“ ist so ein Song, der unweigerlich an die kanadische Songwriterin Joni Mitchell denken lässt. Und tatsächlich: „Ich dachte immer, ich sei ein großer Joni-Fan, aber während der Aufnahmen lernte ich erstmals ihr Album ‚Hejira‘ kennen. Mir gefiel, wie sie und der Bassist Jaco Pastorius da ganz nackt, ohne Beats zu hören sind. Das inspirierte diesen Song, der ebenfalls ganz ohne Drums auskommt.“ Das ruhige, psychedelisch-folkige „Courage“ hat sie ihrer Liebe zum Brasilianer Milton Nascimento zu verdanken, es ist eine Auslotung der süffigen tropischen Harmonien der 1970er.

Und schließlich kann man immer wieder, in den Gesangsschichtungen und den Gitarrengrooves, auch ihren Mentor Prince durchhören. „Sein Tod war ein Schock für mich und es vergeht keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke“, blickt La Havas zurück. „Jeder spricht von seiner rätselhaften Natur, aber ich entdeckte eine sehr liebevolle Seite an ihm und seinen hartnäckigen Willen, Bewusstsein und Kreativität immer noch mehr auszuweiten. Er unterbrach diesen Prozess in keiner Sekunde. Das kristallisierte sich alles in seiner Forderung heraus: ‚Sei du selbst, und rechtfertige dich niemals dafür.‘ Für mich ist das sein Vermächtnis.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 15.07.2020

Lianne La Havas: „Can’t Fight“
Quelle: youtube

Katalanisches in Fernost

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida
MA. – Live In Tokyo
(Universal Music Spain)

Ihr neues Band-Album Farsa hat die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz wegen der Pandemie in den Herbst verschoben. Stattdessen veröffentlich sie digital nun eine Duo-Arbeit mit dem Landsmann Marco Mezquida am Piano. Vor zwei Jahren hatte ich das Glück, die beiden in Paris zu erleben, deshalb freue ich mich auf dieses Klangsouvenir an den Abend im Café de la Danse, auch wenn dieses hier 20 Monate später im Tokioter Blue Note eingefangen wurde, mit einem allerdings sehr ähnlichen Programm. Nur mit Stimme, Piano und ganz vereinzelt Gitarre ein Repertoire von Música Latina über Jazz und Pop bis zur sakralen Klassik zu bündeln, das kann leicht zum Sammelsurium werden. Nicht bei diesen beiden, die ein homogenes Universum daraus formen.

„MA“ geht auf das japanische Konzept des Raumes und der Stille zwischen zwei Dingen zurück – hier also des Atems zwischen zwei Noten, der Stille zwischen dem Verklingen und der ersten Reaktion der Lauschenden. Davon gibt es in diesem Konzert jede Menge. Wenn es auch noch recht „unauffällig“ mit Liedern aus der Feder von argentinischen und brasilianischen Cantautores eröffnet, geht es recht bald auf ungewöhnliche Pfade: Eine reizende Toy Piano-Miniatur von Radioheads „No Surprises“ und eine fast bluesige, in unterschiedliche Sektionen aufgefächerte Adaption des portugiesischen Volkslieds „Barco Negro“ schaltet das Duo nacheinander, die abgründige mexikanische Melancholiehymne „La Llorona“ wird mit perkussivem Piano vorgetragen. Wie Pérez Cruz‘ Stimme einen Folkklassiker improvisatorisch komplett umkrempeln kann, macht sie mit „The Sound of Silence“ vor, „Siga El Baile“ bringt dann überschäumende Tanzstimmung unters sehr zurückhaltende japanische Publikum. Am verblüffendsten dann das Medley aus Bruckners „Christus Factus Est“, „Lonely Woman“ und My Funny Valentine“: acht Minuten, die religiöse Erhöhung, eruptives Tastengewitter und verletzliche Jazz-Intimität in sich fassen. Das geht schlüssig nur bei solchen zwei Ausnahmetalenten.

Sílvia Pérez Cruz & Marco Mezquida: „Barco Negro“
Quelle: youtube

Der Einsamkeit auf der Spur (#1 – Canada 150)

matt holubowski 01 Foto: Geneviève Ringlet

Matt Holubowski (Québec)
aktuelles Album: Solitudes (Audiogram)

Zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Kanada beginne ich heute eine Serie über aktuelle Musiker des Landes. Bis zum 1.7., dem 150. Geburtstag des Dominion, der oft als Wiege des heutigen Staates gesehen wird, kommen hier ungeschnitten Künstler aus vielen kanadischen Provinzen zu Wort, um ihre Arbeit vorzustellen und teils auch einen distanzierten, kritischen Blick auf die Feierlichkeiten zu werfen. Jeden Sonntag wird es ein neues Kapitel geben, bevor meine Serie dann ab Juni auch in verschiedenen Printmedien und Radios Thema ist.

Matt Holubowski macht den Anfang. Den 28-Jährigen habe ich auf dem Festival Montréal en Lumière getroffen, wo er die Eröffnung im ausverkauften Club Soda gespielt hat. Matt, Sohn eines polnischen Einwanderers und einer Quebecoise ist kein gewöhnlicher Popstar, obwohl er die kanadische Version von The Voice gewonnen hat. Der belesene Sturm- und Drang-Poet steht für die doppelte Identität Québecs und Montréal, die kreativen Brüche und Früchte, die die einmalige zweisprachige Situation von Montréal und Umgebung verursacht.


Matt, du bist in einem zweisprachigen Haushalt aufgewachsen. Wie zeigt sich das in deinem Songwriting? Ist es ein unterbewusster Prozeß sich beim Schreiben für eine der beiden Sprachen zu entscheiden? Sind spezielle Stimmungen mit der jeweiligen Sprache verknüpft?

Holubowski: Wie ich einen Song forme, hängt von der Situation ab, in der ich gerade bin. Wenn ich zum Beispiel ein englisches Buch lese und dieses mich inspiriert, dann wird der Song auf Englisch sein. Schaue ich einen französischen Film gilt das gleiche. Gewöhnlich kommen die Ideen auf Englisch leichter zu mir, ich habe einen etwas größeren Hang zum Anglophonen, was meine Vorlieben für Kultur und Literatur angeht. Aber wenn in einem Gespräch irgendetwas in einer der beiden Sprachen passiert, kann auch das ein Auslöser für einen Song sein. Weiterlesen

Wolkenmädchen

lianne-la-havasFoto: okayplayer.com

2013 erzählte sie mir im Interview, sie arbeite mit Prince, wollte aber nichts Genaues verraten. Seit wenigen Tagen ist nun mit der Geheimniskrämerei vorbei. Dass das Teamwork von Lianne La Havas und Mr. Nelson in eine so pure, himmeljauchzende Schönheit münden würde, wie mit der Single „Clouds“ – hätte ich nicht erwartet. Zumal ich mit dem Herrn über Paisley Park öfters Probleme hatte.  Diese paar Minuten aber möchte ich derzeit auf Endlosschleife hören.

Prince feat. Lianne La Havas: „Clouds“
Quelle: musicplayon

Ich bin gespannt, ob sich Minneapolis bei London revanchieren wird, dann, wenn das neue Album der griechisch-jamaikanischen Songstress erscheinen wird. Unterdessen geizt Miss La Havas noch mit neuem Material, covert lieber Radiohead und Little Dragon. Mal vor Leuten, mal vor Kühen.

Lianne La Havas live at Glastonbury 2013: „Weird Fishes“
Quelle: youtube
Lianne La Havas, Barn Sessions: „Twice“
Quelle: youtube