Dino Saluzzi
Albores
(ECM/Universal)
Es scheint eine Musik zu sein, wie geschaffen für den neuerlichen Corona-Lockdown: Ein Mann pflegt für eine Stunde intimste Zwiesprache mit seinem Instrument, das ihn sein Leben lang begleitet hat. Der 85-jährige Argentinier Dino Saluzzi, der das Bandoneón aus der Sphäre des Tangos schon vor Jahrzehnten herausholte, hat nach 30 Jahren wieder einmal ein Solo-Album eingespielt, teils inspiriert von Versen, die José Luis Borges oder sein Landsmann José Hernández geschrieben haben. Es sind alles andere als karge Klanglandschaften. Der betagte Altmeister besitzt nun eine emotionale Tiefe, die jedes seiner Stücke zu einer reichen Erzählung weitet, jede Phrase mit weitem Atem erfüllt, ja, die jeden Ton zum Erlebnis macht, da in jedem winzige seismische Regungen wohnen.
Das liegt daran, dass für Saluzzi das Bandoneón verlängerter Körper, Lunge und Seele ist. Sein Abschied für den georgischen Komponisten Gija Kancheli ist ein wehmütiger, ergreifender Dank an den Kollegen von der anderen Seite des Erdballs. In den „Ausencias“ begegnen kurze chromatische Reibungen der Melodik der Anden und der Pampa, ebenso im Klangfarbenspiel von „La Cruz Del Sur“, in dem die Melodik so delikat ins Pianissimo verschwindet, dass sie zuweilen nur durch das Klappern der Mechanik in der körperlichen Welt bleibt. Urbane Töne blitzen silbrig in einer Milonga auf, sie ist jedoch wie eine Erinnerung an einen Ballsaal nach dem Fest: Die Gäste sind schon gegangen, und der Musikant spielt nur noch für sich, umgeht das strenge rhythmische Korsett für eine freie Fantasie. Manchmal, wie in der harmonisch komplexen „Ecuyère“ oder dem endlos gewobenen, polyhonen Fluss von „Ofrenda“, könnte man auch fast an einen einsamen Orgelspieler denken, der in einer leeren Kirche auf seinem Manual meditiert, während tröstendes Licht durch die bunten Glasfenster fällt.
Am ergreifendsten vielleicht seine Widmung an den Vater „Don Caye“: Diese Variationen umarmen den Hörer wie ein nostalgischer Sog mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Albores“: ein großes und großartiges Solo-Recital des Nach-Innen-Horchens – und auch das Resümee eines langen Lebens für die Musik, für das Bandoneón. Und wenn man nach dem Hören noch fragt, was ein 85-Jähriger dieser manchmal so überdrehten Welt noch zu geben vermag, kann die Antwort nur lauten: alles.
© Stefan Franzen