Vom Hauch bis zum Gewittersturm

Mit multinationalem Team hat die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander ihr fünftes Album „The Wind“ (Jazzland Recordings/edel Kultur) eingespielt. Wie der Namensgeber fließt es grenzenlos zwischen Indien, Afghanistan, Europa und Amerika.

Es passiert etwa in der Mitte ihres neuen Werks: Für die stürmische Jagd einer Wolke über den Himmel greift Simin Tander zum Sprechgesang, rappt fast die Poesie des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. „Diese Dramatik mit den archaischen Bildern von Natur und Donner, das hat mich berührt, weil es so klar ist und eine unglaubliche Kraft hat“, sagt sie. „Nursling Of The Sky“ ist zugleich ein Schaukasten dafür, was mit ihrer erprobten Rhythmusgruppe möglich ist: Die funky groovenden Kletterlinien des schwedischen Bassisten Björn Meyer und die tribal galoppierende Kraft des Schlagwerkers Samuel Rohrer vereinigen sich hier zu elektrisierender Energie. Die hat so gar nichts Romantisches mehr an sich und konnte „nur mit diesen beiden, die eine starke individuelle musikalische Sprache auf ihrem Instrument entwickelt haben“ gezündet werden. Mit beiden hatte die Deutsch-Afghanin schon auf dem Vorgänger „Unfading“ gearbeitet. Komplettiert wurde das Quartett damals durch die Viola d’Amore des Tunesiers Jasser Haj Youssef, was insgesamt zu einem eher gedeckteren Klangspektrum führte – ihr damaliger Ausdruckswunsch mit einer Stimme, die sich schwangerschaftsbedingt tiefer gefärbt hatte.

Jetzt ist aber Harpreet Bansal neue Partnerin im Quartettgefüge: Die indische Geigerin, geschult im Raga-System, sorgt für helleres Kolorit: „Ihr Ton ist sehr warm und voller als das, was man von einer Geige normalerweise kennt, aber sie hat auch dieses endlos in die Höhe steigende. Und sie ist eine Meisterin darin, meinem Gesang zu folgen. Bei manchen Stücken ist sie wie ein verschnörkelter Schatten der Melodie, bei anderen spielt sie bewusst nur in die Pausen der Gesangsmelodie. Die Herausforderung war, dass ich auf meinem Pfad bleibe, obwohl da eine weitere ‚Stimme‘ ungefähr den gleichen Weg direkt hinter mir geht. Nur so ist das Gesamte wirklich stark.“ Man kann dieses faszinierende Miteinander von Bansal und Tander tatsächlich als Tanz einer Persönlichkeit wahrnehmen, die sich in verschiedene Nuancen auffächert. Gewissermaßen als „Windspiel“ gleitenden und suchenden Charakters.

Das Album „The Wind“ beherbergt denn auch die verschiedensten Ausprägungen, die die Bewegung der Luft haben kann, vom Säuseln und Hauchen bis zur ekstatischen Entladung. Verblüffend, wie das Quartett eine Synthese zwischen packender Körperlichkeit und der Sphäre des Ungreifbaren in Töne gefasst hat. „Ich scheine eine Vorliebe für die Elemente zu haben“, schmunzelt Tander, die in ihrem neuen Werk Bezüge an die Wasser-Hommage „Where Water Travels Home“ von 2013 entdeckt. „Der Wind hat für mich eine symbolische Bedeutung für etwas, das durch die verschiedenen Epochen und Sprachen zieht und alles miteinander verbindet.“ Das wird durch das denkbar breite Repertoire auf dem Werk belegt. Als Gegenpol zur virilen Shelley-Vertonung wirft Tander die Hörenden mitten hinein in die Ära des neapolitanischen Liedes mit „I‘te Vurria Vasà“ von Edoardo Di Capua („O Sole Mio“), befreit es aber von allem opernhaften Schmelz und Pathos, nur mit begleitendem Geigenhauch. Eine Bearbeitung eines norwegischen Kirchenliedes und ein spanisches Lullaby schaffen weitere Klangräume aus europäischen „Randzonen“. Der inspirative Geist des Windes, er lässt sich von keiner Grenze stoppen.

Simin Tander – „The Wind“ Album Trailer
Quelle: youtube

Linguistische Challenges sind fester Bestandteil in Tanders Repertoire-Auswahl. Schon vor zwölf Jahren setzte sie sich das ehrgeizige Ziel, im komplexen Paschtu zu singen. Näherte sich der Sprache ihres Vaters, indem sie eines seiner Gedichte vertonte, phonetischen Unterricht bei einem Freund der Familie nahm, der ihr auch viele Lieder der Region erschloss. Seitdem ist das paschtunische Idiom fester Bestandteil ihrer Alben geworden. Populäre Songs der Region, die oft aus Bollywood-artigen Streifen stammen, finden sich auf „The Wind“ gleich dreifach und haben eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. „Meena“ eröffnet das Album mit einem Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das Tander durch die populäre Sängerin Qamar Gula kennengelernt hatte. An „Jongarra“ zeigt sich, wie einfallsreich sie mit „jazzigen“ Reharmonisierungen arbeitet, das Original ist kaum noch zu erkennen: „Ich habe eine große Affinität zu Harmonien und Akkorden, die habe ich hier ausgelebt.“ Am lebhaftesten ist „Janana Sta Yama“, ein neckisches Stück der Schauspielerin Gulnar Begum.

Nie zuvor war Tanders Stimme ein so selbstsicheres, spielerisches Werkzeug. Vermehrt arbeitet sie nun mit Schichtungen. Eine der Eigenkompositionen, „Woken Dream“, zugleich einer der stärksten Momente des Werks überhaupt, zeigt, wie ein Song dadurch Zugänglichkeit auch für Hörende aus der Popkultur schaffen kann. „Natürlich ist es kein Pop-Album geworden“, stellt Tander klar. „Aber ich hatte schon den Wunsch, mich auf eine Art und Weise ganzheitlicher auszudrücken, weg von einer Nische zu gehen.“ Hier und da ist subtile, aber präsente Elektronik zu hören, getriggert von Rohrer am Schlagzeug. Überhaupt legt Simin Tander sehr viel Wert auf die Charakteristik des Sounds. Daher war es ihr wichtig, für den Mix und das Mastering Persönlichkeiten mit ausgeprägt „physischer Präsenz“ am Pult zu suchen. Gefunden hat sie sie im zweifach Grammy-nominierten Joshua Valleau und im Grammy-Gewinner Daddy Key, die mit der US-Pakistanerin Arooj Aftab, mit Kamasi Washington und Corinne Bailey Rae gearbeitet haben.

Ganz dem Wesen des Windes entsprechend schweift das Geschehen grenzenlos zwischen Indien und Afghanistan, dem Norden und Süden Europas und Amerika. Unser Interview findet in der heißen Phase vor der Bundestagswahl statt, die mit den bekannten Ereignissen die Selbstverständlichkeit solch schlagbaumloser Diversität künftig in Frage stellt. Mischt Simin Tander sich als kosmopolitische Künstlerin in politische Diskussionen ein? „Es geht heutzutage nicht mehr, dass man unpolitisch ist. Früher habe ich immer gesagt, dass mein Wunsch sehr persönlich ist, nämlich, den Reichtum der afghanischen und paschtunischen Kultur in die westliche Welt zu bringen. Das ist immer noch mein Hauptanliegen. Aber wenn es sich richtig anfühlt, mich nicht von der Musik zu sehr wegbringt, spreche ich jetzt auf der Bühne über Frauenrechte und die Situation in Afghanistan. Das ist auch eine Verantwortung, die ich als Künstlerin habe.“

Simin Tander: „Nursling Of The Sky“
Quelle: youtube

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing, Ausgabe 159

Quartett-Vorbote

Cover by Linnea Syversen

Gestern erschien die Single „Remembering“ der deutsch-afghanischen Stimmenkünstlerin Simin Tander, die auf diesen Seiten schon des Öfteren gewürdigt wurde. Tander hat seit einiger Zeit ein neues, multinationales Quartett um sich geschart, in dem Schlagwerker Samuel Rohrer (Schweiz), Bassist Björn Meyer (Schweden) und die indische Violinistin Harpreet Bansal ein spannendes Gefüge erzeugen. Besonders die Zwiesprache der glissandierenden Geigenlinien mit Tanders freier Vokalphilosophie inklusive suggestiver Silben in einer Fantasiesprache ziehen mich in den Bann. Ich bin gespannt auf das Album, das im März 2025 erscheinen wird.

Simin Tander New Quartet: „Remembering“
Quelle: youtube

Fließende Erdung

Foto: Matthis Kleeb

Sehr selbstbewusst und direkt schaut Simin Tander vom Cover ihres neuen Werks. Der Blick ist Programm: In den letzten zehn Jahren ging sie unbeirrt ihren künstlerischen Weg – von einer vielversprechenden Jazz-Newcomerin über die Interpretation von Sufi-Gedichten und Hymnen hin zu einer Klangwelt, die sich nun nicht mehr unter Jazz, Songwriting oder Pop fassen lässt. Doch von alldem steckt etwas drin in ihrem dritten Soloalbum Unfading, das auf dem Freiburger Label Jazzhaus Records erschienen ist.

Es hätte für sie so weitergehen können: Das Album „What Was Said“ mit Vertonung mystischer Lyrik für den großen ECM-Verlag bescherte ihr 2016 an der Seite des norwegischen Pianisten Tord Gustavsen große Erfolge, eine Welttournee und den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Doch in Simin Tanders Kopf reiften neue Visionen, die sich nur auf einem anderen Pfad, mit anderen Instrumenten verwirklichen ließen. „Die Besetzung war nicht unbedingt geplant, aber auch kein Zufall“, erläutert sie im Interview. „Ich hatte tatsächlich nach einem etwas dunkleren Sound gesucht, hatte zuerst noch ein Klavier im Kopf, wusste aber auch, dass das Schlagzeug einen dunkleren Groove spielen soll. In meinen Stücken sollte bei allem Fließenden, Sanften, nach oben Gewandten auch eine Erdverbundenheit vertreten sein. Und das ist für mich auf jeden Fall etwas sehr Weibliches.“

Im Schweizer Drummer Samuel Rohrer und dem schwedischen Bassisten Björn Meyer fand Tander zwei Musiker, die feingliedrig und zugleich flächig arbeiten können, einen Tieftöner, der sich in filigrane Höhen schrauben, ein Schlagzeug, dass auch mal sehr muskulös wirken kann. Das entscheidende fehlende Puzzleteil im Sound kam aus unerwarteter Ecke: „Ich hörte ein altes Jan Garbarek-Album. Da war ein Instrument drauf, das ich nicht einordnen konnte. Cello? Bratsche? Mich faszinierte der obertonreiche, zugleich aber tiefe, satte Klang. Ich recherchierte und fand heraus, dass es eine barocke Viola d’Amore ist.“ Mit dem Tunesier Jasser Haj Youssef agiert nun ein Könner auf diesem Instrument, der gleichzeitig den von ihr gewünschten orientalischen Aspekt einbringt.

Kein Zweifel, beim ersten Hören von Unfading muss man ein paar Hürden nehmen, denn die Kombination der Instrumente ist anspruchsvoll. Doch sie fallen mit der Zeit und machen den Weg frei für einen unwiderstehlichen Sog. Das liegt vor allem an Tanders Stimme: „Ich habe das Album im sechsten Schwangerschaftsmonat aufgenommen, man sagt, die Stimme wird da ein bisschen tiefer, oder wärmer vielleicht. Doch ich hatte mich zuvor schon ganzheitlich mit meiner Stimme auseinandergesetzt, versucht, die Stimme als Spiegel der Seele zu entdecken, immer weiter und transparenter zu sein.“ Sie sagt, das funktionierte ganz unterschiedlich: Ein spanisches Wiegenlied habe sie ganz breit ausgesungen, gar nicht geflüstert, ins englische Titelstück hingegen sei sie ganz „zart eingetaucht“.

Der Albumtitel signalisiert für Tander eine „sanfte, endlose Bewegung“. Verbunden sind die fünfzehn Stücke durch eine ausgeprägt weibliche Perspektive. Sie nahm ihren Anfang bei einer Dichtung von Sylvia Plath, die sie mit hypnotischer Wirkung in Szene setzt. Und sie hatte auch das Bedürfnis, wie schon auf früheren Alben in Pashto, der Sprache ihres Vaters, zu singen. Mehrfach tut sie das: einmal in einer Widmung an die Paschtunenheldin Nazo Tokhi des 17. Jahrhunderts, oder zeitgenössisch mit Versen der Lyrikerin Sohayla Hasrat-Nazimi, in deren Gedicht „Sta Lorey“ sie ganz funky wird. Auch Gulnar Begum, der großen Schauspielerin und Sängerin der 1960er, huldigt sie fast punkrockig. Nicht zu vergessen Tanders eigene Verse voll maritimer Symbolik und ihre spontanen Improvisationen. „Insgesamt empfinde ich ‚Unfading‘ als direkter und klarer im Vergleich zu meinem letzten Solo-Album“, sagt Simin Tander. „Ich möchte jede Melodie, jede Note zelebrieren und dabei auch die Stille sprechen lassen. Dieser Ansatz hat mich sehr reifen lassen.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 27.11.2020

Simin Tander: „Unfading“ album trailer
Quelle: youtube