SWR Musikstunde Von Wunden und Wundern – Musik und Heilung 26. – 30.08.2024, jeweils 9 Uhr 05
Die heilende Kraft der Musik wurde in der abendländischen Musikgeschichte von Hildegard von Bingen bis Ludwig van Beethoven, von Johann Sebastian Bach bis John Adams beschworen. Musikalische Heilrituale und Lieder über Medizin gibt es aber auf allen Erdteilen, genau wie klingenden Trost bei seelischem Schmerz und körperlichen Wunden.
Die Musikstunde erzählt von Heilern und Heiligen, von Göttern, Geistern und Quacksalbern, vom Lichtstrahl im Jammertal, von großer Hoffnung und kleinen Wundern. Klassische Klänge kontrastiere ich mit Liedern aus Mexiko, Brasilien, Belize, Marokko und Irland, mit Pop, Soul und Jazz von Björk über Marvin Gaye bis Shabaka Hutchings.
Shabaka: „The Wounded Need To Be Replenished“
Quelle: youtube
Im Alter von nur 58 Jahren ist der malische Kora-Erneuerer und -Virtuose Toumani Diabaté nach kurzer Krankheit am 19. Juli in Bamako gestorben. Er war der international bekannteste Griot Westafrikas. Seine Reise führte durch Jazz, Flamenco, Blues und Pop, doch seine Stegharfe stand dabei stets in intensivem Kontakt zum Mutterboden. „Ich stehe in der 71. Generation einer Familie von Spielern der Kora, und ich habe sie immer als Identifikationsinstrument der Mande-Kultur respektiert“, sagte er mir 2006 in einem Interview. Toumanis Vater Sidiki nahm 1970 die erste Kora-Platte der Musikgeschichte auf, der Sohn trat dann schon in jungen Jahren als Innovator auf: „Ich hörte auch westliche Musik, Jimi Hendrix, James Brown, Otis Redding, Steve Wonder. Seit damals wollte ich alles unternehmen, um eine universelle Pforte für die Kora zu öffnen.“
Toumani Diabaté entwickelte in seinem Spiel eine stupende Unabhängigkeit von Bass, begleitenden Mittelstimmen und Improvisation auf den 21 Saiten wie kein anderer vor ihm, zu hören bereits auf dem ersten Solo-Album Kaira von 1988. Wenig später tat er sich mit dem englischen Folkjazz-Bassisten Danny Thompson und den spanischen Gitanos von Ketama zusammen, um die heute legendären Weltmusik-Frühwerke Songhai 1 & 2 aufzunehmen. Mit der US-Blueslegende Taj Mahal beschritt er 1999 die viel begangene Brücke zwischen Mali und Memphis, und im Team mit Jazzposaunist Roswell Rudd fand er 2002 swingende Dialoge zwischen zwei fast unvereinbaren Instrumenten. Sogar vom isländischen Popstar Björk erhielt er Heimbesuch, als sie neue Klangfarben für ihr 2007er-Album Volta suchte, mit Bluegrass-Star Béla Fleck ging er ebenfalls auf die Bühne. Diabaté suchte die intime Zwiesprache in Duos, wie etwa mit dem Kora-Kollegen Ballaké Sissoko, seinem Songhai-Kollegen Ali Farka Touré, schließlich auch mit dem eigenen Sohn Sidiki. Er machte aber auch Furore mit der Gründung der Bigband Symmetric Orchestra, in dem er alle Facetten und Talente aus dem Gebiet des Mande-Einflussgebietes wie in einem Brennspiegel sammelte, und er ließ die Kora in Dialog mit dem London Symphony Orchestra treten.
Nebenbei definierte er die Rolle des Griots ganz neu: „Heute ist seine Aufgabe, die Kultur der Mande-Völker über Afrikas Grenzen hinauszutragen, um andere Kulturen zu treffen. Der Griot ist nicht mehr dazu da, den Preis für einen speziellen Präsidenten zu singen, nein, er ist für die ganze Gesellschaft da. Denn die Schule des Griots ist eine Schule des Lebens und des Todes, eine Schule, in der gelehrt wird, wie sich ein Mensch zu den anderen verhalten soll, wie ein Mensch Frieden stiften kann.“ Für Toumani Diabaté galt stets: „Wenn das Mande-Reich eine Person wäre, dann wäre der Griot ihr Blut.“ Nicht nur Afrika, die ganze Welt hat einen großen musikalischen Vermittler und Denker verloren.
Heute erscheint Stardust Crystals, das Album der Schweizer Sängerin, Komponistin und Bandleaderin Yumi Ito auch physisch. Zu diesem freudigen Anlass teile ich das Video des Titelstücks der CD, in dem es – hochaktuell – um die zerstörerische Kraft der Menschen gegenüber ihrem vermeintlichen Königreich, der Erde gibt. Mein Porträt gibt es hier nochmal zum Nachlesen. Und noch etwas Spannendes: In der SRF 2-Sendung Jazz Collection spricht Yumi über ihre Liebe zu und ihre Einflüsse von Björk – sie wird am Samstag ab 16h30 wiederholt.
Heute sollte das Jazzfestival in Schaffhausen mit einem Release-Konzert der Schweizer Musikerin Yumi Ito starten. Pandemiebedingt hat sich die Leitung entschieden, die Künstler in einem Digitalformat ihre Konzerte in reduzierter Form präsentieren zu lassen. Yumi Ito wird heute Abend 45 Minuten hier online mit ihrem Set zu hören sein, als Vorgeschmack auf ihr Orchestra-Album Stardust Crystals. Die eigentliche Veröffentlichung soll nun im September erfolgen, das neue Releasekonzert ist in ihrer Heimatstadt Basel für den 25.9. angesetzt, Infos folgen. Anlässlich des Schaffhausener Sets teile ich hier meinen Artikel aus dem Programmheft, der nach einem Interview mit ihr in Basel entstand.
„Ich habe am Rheinufer auf einer Wiese gelegen und in den blauen Himmel gestarrt“, erzählt Yumi Ito. „Und da habe ich plötzlich Klänge gehört, hatte die Vision von einem größeren Ensemble, das meine Songs spielt. Doch wie ich da hinkommen sollte: keine Ahnung!“ Der Weg zur Verwirklichung dieser Vision, er war spannend und gewunden. Doch am Ende führte er hinein in dieses gelungene Abenteuer voll eigenwilliger Zwischentöne und kleiner Geschichten mit Unebenheiten, mit Vertiefungen. Die 29-Jährige liebt das, was nicht allzu offensichtlich ist – und mischt daraus eine wunderbare, einzigartige Palette.
Um Yumi Itos Klangphilosophie zu verstehen, hilft es, in ihre künstlerische Biographie einzutauchen: Mit einer polnischen Mutter, Konzert- und Opernsängerin sowie Gesangspädagogin, und einem japanischen Vater, Konzertpianist, könnte die musikalische Laufbahn ja fast vorgezeichnet sein. Die Liedzyklen von Chopin schweifen durchs dreisprachige Elternhaus, in dem auch Fernost nachhaltig zu ihrem Erbe beiträgt: „Japan hat mich vielleicht durch die Art, wie ich denke und wie zielstrebig ich meine Projekte verfolge, geprägt. Das Geordnete, das Repetitive zieht mich an, dieses Minimalistische, das es auch im japanischen Design und bei japanischen Komponisten gibt.“
Doch neben ihren klassischen Pianostunden und dem mütterlichen Gesangstraining interessiert sich die Teenagerin bald für Pop-Vocals, fürs Keyboardspielen, hört Punkrock, sie will eine kräftige, soulige Stimme haben. Aber sie entdeckt auch – durch die Bossa Nova und Sängerinnen wie Gretchen Parlato – dass man die Stimme sprechend nutzen kann, nicht so voluminös singen, keine Verzierungen machen muss. Fürs Studium sucht sie sich den Jazz aus, findet als Leitsterne Ella Fitzgerald, Bobby McFerrin und Al Jarreau, letzterer ist als Juror bei einem Wettbewerb in Montreux begeistert von ihr. Der Jazz, er ist ja nur ein Gefäß, das ihr die größtmöglichen Freiheiten gibt: „Schon als Kind, als ich noch gar nicht wusste, dass es verschiedene Stile gibt, habe ich improvisiert und ich tue es bis heute fast täglich. Mich faszinieren diese Reibungen im Jazz, diese speziellen Akkorde, die ja auch im Impressionismus schon da waren. Aber gleichzeitig ist meine Musik auch viel vom ‚Nicht-Jazz‘ geprägt. Starke, eingängige Melodien sind mir wichtig, und mein Wunsch ist es, beides zu kombinieren, Komplexität mit Eingängigkeit zu verbinden. Es geht mir ganz klar darum, mich zu lösen vom Genre-Denken.“
Und das tut sie „breitbandig“: In Zürich, an der Hochschule der Künste, und in Basel am Jazzcampus lotet sie mit prominenten Lehrer*innen wie Lisette Spinnler, Guillermo Klein, Lucas Niggli und Mark Turner Komposition, Gesang und freie Improvisation aus. Natürlich auch die Standards: Doch die dehnt sie 2016 auf ihrem Debüt „Intertwined“ mit ihrem Quartett schon auf neunminütige, aufregende Gebilde. Und immer mehr – da ist der Hang zu starken Melodien – zeigt sich, dass sie kleine Geschichten aus ihrem Alltag und ihrem Umfeld in eigenen Songs festhalten und erzählen möchte, sie schreibt sie zunächst am Klavier. „Songs helfen mir, mich zu reflektieren. Ich kann regelrecht süchtig nach einem Song werden, der mir gefällt, höre ihn dann hundertmal“, gibt sie lachend zu. Der Campus mit seinem internationalen Studentenflair direkt am Dreiländereck bietet der „Nomadin im Herzen“ (Ito über Ito) für all das einen fruchtbaren Boden: Hier kann sie sich in den unterschiedlichsten Konstellationen, mit Gleichgesinnten aus allen möglichen Ländern auszuprobieren. Und als sie schließlich 2017 ihr grandioses Abschlusskonzert gibt, leitet sie fast ein Dutzend junger Musiker aus sieben Nationen an: Da steht schon die Urformation ihres eigenen Orchestra auf der Bühne.
Wir kehren zurück zur intuitiven Visionärin am Rheinufer die nicht weiß, wie die orchestralen Klänge in ihrem Kopf Wirklichkeit werden können. „Es erschien mir sehr unrealistisch“, erinnert sich Ito. „Doch dann habe ich mit meinem Cellisten Jo Flüeler darüber geredet, und der ermutigte mich: Mach einfach!“ Autodidaktisch schafft sie sich ein Arrangierprogramm drauf, beginnt, ihre Songs für Streicher zu setzen. Um die Musiker zusammenzustellen, nutzt Ito all ihre Kontakte von den Hochschulen, knüpft Querverbindungen zwischen all den prägenden Klangstationen ihrer Vita. Immer mehr Instrumente aus ihren akustischen Kopfgebilden kommen dazu, und die sind eher ungewöhnlich. Nein, eine Jazz-Bigband ist das definitiv nicht! Eher ein Large Ensemble, das mit einem Bein in der Kammermusik eines Claude Debussy steht, mit Harfe, Vibraphon und Flöte. „Mein Vater hat neben Klavier auch Flöte studiert, ich bin also als Kind ständig mit ihrem Klang in Berührung gewesen“, erklärt Yumi Ito ihre Vorliebe fürs Filigrane und zitiert auch die feingewobene Textur in den Werken von Toru Takemitsu als Einfluss.
Und so nehmen ein Repertoire, ein Bühnenprogramm, ein Album Gestalt an, der Titel „Stardust Crystals“ kristallisiert sich heraus. „Wir alle sind gemacht aus Kristallen von Sternenstaub“, heißt es im Titelsong. „Jeder verschieden und einzigartig, still aus dem Himmel herabfallend und in der Ewigkeit herumwirbelnd.“ Das könnte auch eine poetische Beschreibung für ihre Songs sein. Denn viele von ihnen, am Klavier noch embryonal und schlicht, wechseln jetzt ihren Aggregatzustand, werden hinggeweht zu anderen Färbungen und Harmonien, gehen manchmal abenteuerliche Wege der Metamorphose. „Meine Stücke funktionieren auch in ganz reduzierter Form, solo oder im Trio mit meinem Bassisten Kuba Dworak und Iago Fernandez am Schlagzeug“, sagt Ito. „Aber zu hören, wie sie orchestral erblühen können, mit so vielen wunderbaren Musiker*innen, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auf der Bühne zu spüren, das ist das Größte.“ Und diese Zusammengehörigkeit heißt auch: Jedes Bandmitglied ist in den ausdifferenzierten Arrangements gleichberechtigt, Jeder und Jedem ist der Part auf den Leib geschneidert, wird Raum für Soli eingeräumt. Stücke beginnen mal mit Geige, Viola und Cello, mal nur mit Harfe oder Array Mbira, mal mit Bassklarinette und Drums. Reizvolle Dialoge zwischen den Instrumentengruppen sind auskomponiert, man kann sie im Konzert geradezu räumlich miterleben.
Schauen wir uns doch ein paar dieser wirbelnden Sternenstaub-Kleinode näher an: Diese unbeschreibliche Kreuzung aus Empfindsamkeit und hymnischem Ton im Titelstück, sie erinnert an das Song-Universum von Björk. Die Streicherversionen aus dem Schaffenskatalog der Isländerin haben Ito in den Bann gezogen, genau wie die machtvolle nordische Sphäre der Insel selbst – drei Mal ist sie inzwischen da gewesen im Rahmen einer Künstlerresidenz. Ein Streichtrio nicht als romantischen Teppich auszurollen, sondern es in die rhythmische Arbeit miteinzubeziehen, da ist sie Björk wesensverwandt. Und auch in ihrer Eigenart, die Natur als beseelt zu sehen, die Zerbrechlichkeit des Planeten poetisch einzufangen. „Wir denken, wir sind die Könige der Erde, dabei zerstören wir unser eigenes Königreich“, so die Schlusszeile in dem Song, der von einer TV-Doku über die Arktis seinen Impuls empfangen hat.
Yumi Ito spürt, dass sie mit ihrer Musik immer wieder Geschichten erzählen will, die dem Innenraum, der Stille eine Stimme geben. Denn eine ähnliche ruhige Naturverbundenheit wohnt im „Old Redwood Tree“, ein Song, der so natürlich fließt, dass man seine ungerade Taktart gar nicht mehr wahrnimmt. In einer Frühversion kam der Groove noch vom Klavier, jetzt ist er auf die glasig-transparente Klangfarbe der Array Mbira, ein Daumenklavier des 21. Jahrhunderts von Izabella Effenberg übertragen. „Inspiriert ist das Stück von den Muir Woods in San Francisco, diesem Park von Mammutbäumen, der mich so beeindruckt hat, dass ich dachte, die Bäume sprechen zu mir“, so Itos Überzeugung. „Ich glaube, das Kristalline des ganzen Albums wird gut repräsentiert in diesem Stück.“ Und dann springt einen plötzlich ein Song mit einer kapriolenhaften, textlosen Melodie an, ein Ohrwurm, der sich festbeißt: „What Seems To Be“, entstanden aus einer ihrer vielen Improvisationsschnipsel, die Yumi Ito tagtäglich auf ihrem Smartphone aufzeichnet.
Sie singt das mit einer wie verwandelten Stimme – alles Nachdenkliche macht purer Freude und überschwänglicher Sinnlichkeit Platz. Dabei sind die Lyrics hintergründig: Es ist nicht alles so, wie es scheint, wir sollten zweimal hinschauen und immer kritisch bleiben. In dies Stimmungslage passt auch „Little Things“, ein Song darüber, wie wesentlich die kleinen Dinge im Leben sind, wie wichtig es ist, zu sich selbst zu stehen, Probleme mitzuteilen – gerade in Zeiten persönlicher Bedrängnis. Und genau darum geht es ihr auch in der Musik: das Anderssein, das Abweichen von der Coolness zulassen, nicht die glatte Fassade vorzuspiegeln. Man könnte auch sagen: die besonderen, auch schmerzlich gelebten Töne feiern.
„Schon als Kind habe ich mich als Sängerin und Schauspielerin gesehen, und diese schauspielerische Seite in mir ermöglicht es mir, dass ich in verschiedene Rollen schlüpfe. Doch ich bin dabei immer ich selbst“, erklärt Ito ihre vokale Wandlungsfähigkeit. Die sich in einem anderen Stück in Vollendung zeigt, ein Stück, dass unversehens wie ein Fremdkörper hereinplatzt: Der „Spaziergang in Prag“ ist eine Gruselmär‘ mit freier Vokalimprovisation, Kafka-esk und Zapppa-esk zugleich, ein mal schleichender, mal sprunghafter Gang durch die Gassen. Hinter jeder Ecke scheint der Golem zu lauern, wenn sich die Gesangslinien katzenhaft winden, ein plappernder Scat vom Zaun gebrochen wird, das Orchester sich in Kollektivimprovisation aufbäumt. Dieses Stück „Programmmusik“ spiegelt Yumi Itos Vielseitigkeit am überraschendsten wider.
Wo wird es für Yumi Ito hingehen? Das wagt man kaum vorherzusagen. Ihre Musik wird jedenfalls immer eine Weltsprache sein. Die Nomadin bekräftigt, es führe sie regelmäßig in die Ferne, um sich Inspirationen zu holen. Reisen sieht sie – nicht nur für eine Künstlerin – als Nährstoff: „Es erlaubt mir, anders auf die Schweiz zu schauen, vielleicht auch mehr zu hinterfragen, auch die positiven Dinge hier stärker wahrzunehmen“, sagt die erklärte Liebhaberin des interkulturellen Basels. Nicht zuletzt diese Vielfalt am Rheinknie spiegele sich in der außergewöhnlichen Instrumentierung ihrer Orchestermusik. In den kleinen Unebenheiten, Vertiefungen. Und aus diesen erwächst: große Musik.
Dina El Wedidi Manam – Slumber (Kirkelig Kulturverksted, 2018)
Während der Demonstrationen auf Kairos Tahrir-Platz war sie eine der wichtigsten Sängerinnen. Nach ihrem Album Turning Back und ihrer Mitwirkung beim Nile Project hat sich Dina El Wedidi nun auf experimentelle Pfade begeben: Manam / Slumber ist eine 30-minütige Suite, die sie ausschließlich aus Geräuschen von ägyptischen Zügen und Bahnhöfen gebaut hat.
Dina El Wedidi sitzt in einem Pariser Hotelzimmer, von draußen dringen Klopf- und Bohrgeräusche einer Baustelle herein. Der Werkstattcharakter der Umgebung passt eigentlich gut, um über ihr neues Werk zu sprechen. Manam hat sie es genannt, Slumber (Schlummer), und die sieben Kapitel bestehen tatsächlich ausschließlich aus Sounds der Eisenbahn und ihrer Stimme. Man würde dieses Thema eigentlich als typisch männliche Domäne ansehen. Wie kommt eine junge Frau damit in Berührung?
„Auf meinem Album Turning Back habe ich eine neuartige Fusion mit Folk-Stilen versucht und dabei mit etlichen Musikern zusammengearbeitet“, sagt El Wedidi. „Doch jetzt war ich neugierig auf das Thema Sounddesign, ich wollte meine Fähigkeiten erweitern, nicht nur Musikerin, sondern auch Produzentin sein. Die Idee zu Slumber ist durch einen Freund ausgelöst worden, der für ein Website-Archiv Geräusche der ägyptischen Eisenbahn benötigte. Als ich diese für ihn sammelte, entdeckte ich schnell, wie vielfältig diese Sounds sind. Zu der Zeit beschäftigte ich mich auch mit Zeitmaschinen, und der Zug wurde für mich zu etwas, das symbolisch mit der Zeit verbunden ist.“
Etliche prominente Beispiele kommen einem in den Sinn, wenn es um die Verwendung von Zuggeräuschen in der Musik geht: Etwa Kraftwerks Trans Europa Express, Björks Soundtrack zu „Dancer In The Dark“ oder das Werk „Different Trains“ des Minimal Music-Protagonisten Steve Reich. El Wedidi hat besonders von Reich Inspirationen aufgegriffen. Doch sie ging weiter: „Für mich war die Frage: Wie kann ich den Zug zum Hauptakteur machen, wie die Melodien, Harmonien und Rhythmen finden? Es brauchte eine ganze Zeit, um den Zug zum Instrument zu formen.“
Unterstützt hat sie der deutsch-amerikanische Soundingenieur Brian Smith, der sie mit der Software Ableton vertraut machte. Und so wuchs aus der Geräuschkollektion bald eine fantastische, elektronische Eisenbahnsymphonie. Manchmal lassen sich in den langen, elegischen Tönen die Sirenen der Lokomotiven nur noch erahnen, das Rattern der Rhythmen nicht mehr eindeutig auf die Ursprünge auf der Schiene zurückführen. Doch dann gibt es immer wieder Stimmen von Bahnhöfen, ganz konkretes Tuten und Rumpeln, beeindruckend zu sogartigen, technoiden Rhythmen verschachtelt.
Gesammelt hat Dina El Wedidi auf der Verbindung zwischen Kairo und Alexandria sowie auf der Strecke nach Süden, in der der Zug schließlich Luxor und Assuan erreicht. „Der wichtigste Trip war derjenige im Nachtzug nach Luxor“, erinnert sie sich. „Dort im Schlafwagenabteil hört man die Zuggeräusche ganz klar, ebenso im Bummelzug nach Assuan, der statt einer Stunde auch mal sieben braucht, weil die Bahn total veraltet ist. Aber genau diese staubigen, veralteten Züge mit den spitzen, hohen Frequenzen interessierten mich.“ Es sind Geräusche, wie sie in unserem europäischen, von Hochgeschwindigkeitszügen geprägten Netz kaum noch zu hören sind.
Dina El Wedidi geht in ihrer Eisenbahnsuite aber weit über das bloße klangliche Ereignis hinaus. Slumber ist für sie auch eine Reflektion über die Spannung zwischen der Realität und dem Unterbewussten, den Zwischenräumen, die sich während einer nächtlichen Zugfahrt im Halbschlaf öffnen. Ein solcher Zustand ist im lautmalerischen Song „Headache“ eingefangen, ein Dialog zwischen der Außenwelt mit dem Zugrattern, dem Wasserverkäufer vor dem Abteil einerseits, und andererseits den Gedanken im Innern des Kopfes während einer Migräne-Attacke. „Ich meine das natürlich nicht so dramatisch, sondern durchaus mit Humor“, betont Dina El Wedidi lachend. Andere Texte sprechen von den Fesseln, die eine Heimat oder eine Liebe erzeugen können, oder den verschiedenen Zuständen des Gefangenseins, seien sie physisch oder mental.
Was auch auf Ägyptens aktuelle Situation verweist. Für mutige Künstler kann es derzeit gefährlich werden, wie sich am Beispiel des kürzlich verhafteten Poeten Galal El-Behairy gezeigt hat. „Ägypten ist ein großartiger Ort, um Ideen zu empfangen“, sagt Dina El Wedidi. „Doch ich bevorzuge es, für die Verwirklichung im Ausland zu sein, da dort mehr Inspirationen und Ereignisse auf mich einwirken. Von Zeit zu Zeit muss ich außerhalb des Landes durchatmen.“
Als ehemalige musikalische Aktivistin auf dem Tahrir ist sie sich bewusst, dass mit der heutigen Situation nicht das eingetreten ist, wovon die junge Generation einst träumte. Dennoch findet sie zuversichtliche Worte: „Wenn ich durch die Welt reise, sehe ich viele Künstler in anderen Ländern, die unter ebenso großen Problemen leiden. Zensur ist ein globales Thema geworden, in den USA und Europa genau wie in Afrika und dem Nahen Osten. Was soll man dagegen machen? Am besten, man versucht weiterhin, das zu tun, woran man glaubt. Das ist meine Rolle.“ Auf Slumber hat sie eindrucksvoll und spielerisch Freiräume ausgelotet, sich ein eigenes Zwischenreich in Wort und Klang erobert.
Für internationale Stars wie Björk, Anoushka Shankar oder das Cinematic Orchestra ist der Perkussionist Manu Delago auf den Bühnen der Welt unterwegs. Für sein neues Soloprojekt kehrte der Tiroler in seine Heimat zurück und hat mit Parasol Peak gleichzeitig so etwas wie ein neues Genre erfunden: den musikalischen Alpinismus. Zur Premiere seines Films und seiner CD habe ich ihn Zürich getroffen. Wie immer folgt hier das Interview ungeschnitten und ungekürzt.
Manu, wie wichtig ist Landschaft für dich selbst als Element, das dich zum Schöpfen, zum Kreativwerden anregt? Brauchst du die Landschaft als Inspiration oder kannst du in einer Stadt genauso schöpferisch wirken?
Ich bin ja nicht nur Musiker, sondern auch Komponist. Und als Komponist ist man ständig auf der Suche nach etwas Neuem. Und bei Alpinisten gibt’s auch die Suche nach etwas Neuem, die suchen halt nach neuen Gipfeln, die sie besteigen können oder neuen Routen, die sie erklimmen können. Ich bin sehr, sehr gerne in den Bergen. Ich bin ein Hobby-Alpinist, ich bin kein Extrembergsteiger. Aber ich glaube, bei diesem Projekt sind diese beiden Gedanken von etwas Neuem in den Bergen und etwas neuem Musikalischem verschmolzen, und so ist Parasol Peak entstanden. Ich bin mit Parasol Peak eigentlich ziemlich zu den Wurzeln zurückgekehrt: einerseits geographisch. Ich bin in Tirol, in Österreich aufgewachsen, lebe aber seit elf Jahren in London, und bin für das Projekt wieder zurück nach Tirol in die Berge. Es war aber auch zurück zu den Wurzeln im Sinne der musikalischen Instrumente, des Akustischen. Ich habe auf sämtliche Electronics verzichtet, wir hatten in den Bergen auch keinen Strom. Es war ein völlig akustisches Projekt, bei dem wir nicht nur unsere Instrumente bespielt haben, sondern auch die Natur bespielt haben, Bäume und Wasser und Steine und alles Mögliche, und auch teilweise unser eigenes Equipment, also wir haben Eispickel, Wanderstücke, Helme verwendet, um Musik zu machen .So war das eben ein Schritt zur Natur und zurück zu den Wurzeln.
Spielt auch die Sehnsucht nach der Heimat eine Rolle, da du als international gefragter Künstler nicht mehr oft zuhause bist?
Ja, ich wollte auf jeden Fall ausbrechen vom üblichen Alltag. Ich bin jetzt seit 10 Jahren international tourend unterwegs, verbringe meistens sechs bis acht Monate im Jahr on the road, im Flugzeug, im Tourbus. Mit diesem Projekt war es sicher mal eine gewisse Entschleunigung, ein Ausbrechen aus dem Alltag. Es war auch für die anderen Musiker ein ganz besonderes Projekt, wo wir alle mal etwas Anderes gemacht haben und in anderen Situationen Musik gemacht haben, und es war sehr inspirierend. Es war auch einschränkend in vielen Belangen, was die Möglichkeiten betrifft, wenn man sehr weit auseinandersteht, also teilweise bis zu 100 Meter auseinander, wo man sich nicht mehr hört, dann gab es auch Situationen, wo wir uns nicht gesehen haben. Es war also wirklich schwierig, es war extrem kalt, meistens zwischen 0 und 5 Grad. Aber diese Einschränkungen habe ich auch in die Kompositionen eingebaut, und diese Einschränkungen waren gleichzeitig sehr inspirierend, um diese Musik zu komponieren.
Nach welchen Kriterien wurden die Musiker für das Septett ausgewählt? Mussten sie auch alpine Kletterkünste mitbringen?
Ja, richtig. Ich kenne ungefähr 500 Musiker persönlich, und die Kriterien waren: Die Person muss ihr Instrument sehr gut spielen können, die Person muss ihr Instrument tragen können, und das durch Klettersteige, am Gletscher, also auch wirklich fit sein und keine Höhenangst haben. Und dann sind eigentlich nur sechs oder sieben Leute übrig geblieben. Das war eine sehr, sehr kleine Auswahl an Musikern, die ich mir da vorstellen konnte. Glücklicherweise waren die alle sehr motiviert für das Projekt und haben gleich alle ja gesagt.
Die Besetzung: Perkussion, Cello, Klarinette, Flöte, Trompete, Posaune, Akkordeon: Auf Transportleichtigkeit wurde keine Rücksicht genommen! Ist das eine besondere Instrumentierung, traditionelle Vorbilder?
Ja, die Instrumente habe ich wirklich ein bisschen dem Zufall überlassen. Ich wollte schon schauen, dass wir ungefähr eine ausgewogene Mischung haben aus hohen und tiefen Instrumenten. Mit Georg Gratzer zum Beispiel, der ja Holzbläser ist, hatten wir Bassklarinetten als tiefes Instrument, aber auch Flöten und B-Klarinetten als mitteltönige Instrumente. Einige Musiker haben auch zwei oder drei Instrumente gespielt. Aber grundsätzlich war die Auswahl auf Alpinismus und Portabilität und höchste Qualität des Musikerseins zurückzuführen.
Waren die musikalischen „Rastplätze“ vorher festgelegt? Gab es Vorerkundungen akustischer Art?
Ich bin mit Johannes Aitzetmüller, das ist einer der beiden Regisseure, alle Locations vorher abgegangen, auch noch viel mehr Locations, wir haben also wirklich sehr viel Locations-Scouting betrieben, und haben dann unsere acht Lieblingslocations ausgewählt. Die Kriterien dafür waren, dass die Locations sehr sehr unterschiedlich sind, dass sich eine sehr schöne Reise ergibt von unten bis oben auf den Gipfel. Die Musiker waren großteils nie an den Loacations. Ich habe ihnen versucht, das bei den Proben so gut wie möglich zu erklären. Aber viele Faktoren konnten wir einfach nicht vorplanen oder einproben, weil wir am Berg so weit auseinander waren, oder weil es so kalt war. Vieles war denn sehr offen oder war einfach eine Überraschung am Berg.
Waren die Stücke also durchkomponiert oder gab es auch noch Raum für Improvisation?
Es gab schon Raum für Improvisation, aber von der Idee und der Struktur waren die Stücke vorkomponiert. Ich war eben vorher an allen Locations, habe mich von den Locations inspirieren lassen, hab‘ geschaut, welche Sounds kann ich verwenden, was kann ich featuren in den Locations. Es gab dann auch Locations, wo bestimmte Musiker Freiraum hatten zum Improvisieren, wo sie sich einfach von der Landschaft inspirieren lassen können, oder wo es fast ein bisschen wie das Stille-Post-Spiel war, wo man von einem eine Phrase hört und gibt sie weiter und der Nächste übernimmt die Phrase dann wieder, weil wir uns eben nicht immer alle gegenseitig gehört haben. Manchmal habe ich zwei Musiker gehört, aber nicht die anderen vier, und die anderen vier haben wiederum jemand Anderen gehört und so weiter, und so haben sich da sehr interessante, komplexe Klanggebilde ergeben.
Die Beziehung zum Hang: Würdest du sagen, das Hang, das ja in Bern entwickelt wurde, ist ein Instrument, in dem die Alpen irgendwie resonieren – oder ist das ein universeller Klang, den es erzeugt, der nicht an eine bestimmte Topographie gebunden ist?
Das Hang ist zwar in Bern erfunden worden, aber da es im 21. Jahrhundert erfunden worden ist, ist es sehr schnell zu einem globalen Phänomen geworden. Es ist eben nicht lokal langsam gewachsen wie die Instrumente vor 100 Jahren vor dem Internet und so weiter. Von daher könnte ich das jetzt nicht sagen. Aber das Hang hat sich relativ gut angeboten, weil man es gut am Rücken tragen kann, und weil es auch bei der Kälte gut gestimmt und gut funktioniert hat. Es wird zwar sehr kalt, aber es ist leichter zu spielen als eine Klarinette oder Trompete oder Posaune bei null Grad Celsius.
Extreme Bedingungen mit Kälte und Schnee: Das war nicht geplant von der Jahreszeit her…
Wir hatten genau ein paar Tage vor Drehbeginn einen extremen Wintereinbruch, über einen halben Meter Neuschnee da oben. Es kam dann die Frage auf, ob wir das Projekt überhaupt realisieren können. Aber die Musiker sind von überall her angereist, das Kamerateam ist auch teilweise aus England angereist. Wir mussten den Zeitraum einfach durchziehen, und so ist es durch die Kälte und den Neuschnee und das auch nicht optimale Wetter zu einer großen Herausforderung geworden.
Welcher Berg wurde erstiegen? Ist das ein fiktiver Name? Oder willst du den Berg geheimhalten?
Ja genau. Es ist immerhin ein Film und auch ein Album, ein Kunstprojekt, und „Parasol Peak“, diesen Namen habe ich selbst erfunden.
Parasol ist ja auch eine bestimmte Pilzart, hat das damit was zu tun?
Ja, das hat damit was zu tun. Der Parasol ist ein Pilz, den ich sehr gerne mag. Einerseits optisch, wenn man ihn findet, andererseits ist er aber auch essbar, er schmeckt sehr gut. Die Geschichte ist so entstanden: Als wir Locations gesucht haben, war die letzte Location, die wir entschieden haben, eine Waldlocation. Und wir fanden es relativ schwierig, etwas zu finden, was eine Waldlocation besonders macht. Am Gipfel hat man die Aussicht, und am Gletscher hat man diese Weite und die Spalten, am Klettersteig hat man die Vertikale und das extreme Ausgesetztsein. Beim Waldstück haben wir lange nicht gewusst, was macht es so besonders, denn jedes Waldstück ist voll von Bäumen und immer gleich. Und dann ist mir eingefallen, dass, immer wenn ich im Wald bin und ich finde einen Parasolpilz, der sehr selten ist, dann ist das für mich immer sehr erfüllend und ein glücklicher Moment. Und so haben wir uns ein Waldstück gesucht, wo ein Parasol ist, und dieser Parasol hat dem ganzen Projekt und auch dem Gipfel den Namen verliehen.
Welches Anliegen über die Musik hinaus steckt in Parasol Peak? Soll auch darauf aufmerksam gemacht werden, wie bedroht die alpine Kulturlandschaft durch die globale Erhitzung ist? Also ein ökologischer Hintergrund?
Ich glaube, dieses Projekt hat sehr viele Seiten. Zum einen ist es natürlich ein Musikprojekt und es ist ein alpinistisches Projekt. Aber ich bin im Laufe des Projekts immer mehr drauf gekommen, dass es auch ein sehr menschliches Projekt ist. Es gibt sehr viel Teamgeist, und das Projekt war unglaublich zusammenschweißend für die Gruppe, für die Musiker, aber auch für die Crew. Wir haben uns gegenseitig sehr viel helfen müssen Equipment tragen, wir haben uns gegenseitig motivieren müssen, dass wir noch bis zum Schluss durchhalten, auch bei den einzelnen Locations durchhalten. Die Gruppe ist so zusammengewachsen und das gemeinsame Musizieren war so emotional, dass ich so etwas noch nie oder selten erlebt habe. Und ein weiterer Aspekt ist sicher auch die ökologische Seite, dass es ein Projekt ist, wo wir völlig ohne Strom ausgekommen sind. Das Kamera- und Audio-Equipment war zwar akkubetrieben, aber oben hatten wir keinen Strom. Und ich hatte auch bewusst die Musik so komponiert mit der Natur im Hinterkopf, und ich wollte vor allem, wenn wir in der Nacht gespielt haben und hoch oben gespielt haben, sehr leise musizieren und nicht die Natur oder die Tiere oder die Pflanzen stören, das Ganze sehr bewusst machen und keine Spuren hinterlassen. Wir haben das Ganze schon sehr naturbewusst durchgezogen.
Das Resultat hört sich von der Akustik sehr „clean“ an. Wurden die Aufnahmen nachbearbeitet?
Die Musik ist zu hundert Prozent live in den Bergen bis zu 3000 Meter Seehöhe aufgenommen, und mir war das sehr wichtig, dass es so echt wie möglich ist, dass wir diesen bestimmten, diesen besonderen Moment einfangen. Als wir am Gipfel gespielt haben, das war so ein besonderer Moment für uns, dort gemeinsam anzukommen und dort Musik zu machen, und ich wollte dann keineswegs im Nachhinein das Audio nochmals aufnehmen. Ich war sehr beeindruckt, wie gut das Audio klang, wir hatten am Berg nie die Möglichkeit, das Audio anzuhören. Ich wusste dass das Video gut aussehen würde, allerdings hatte ich nicht gehofft, dass das Audio so gut klingen würde. Das Einzige, was im Nachhinein gemacht wurde, war eben, dass wir das gemischt haben. Wir haben mit 12 Mikrofonen aufgenommen, das war für Michael Reisigl, den Tontechniker ein extrem aufwendiger Job da oben, der hatte wahrscheinlich den aufwendigsten Job von allen. Und diese 12 Kanäle haben wir dann gemischt, einfach die Lautstärke der verschiedenen Spuren angepasst, aber es gab keine Overdubs, und es war mir sehr wichtig, diesen besonderen Moment da oben einzufangen und auch zu verewigen.
Wie würdest du die Musik charakterisieren? Ist es alpine Minimal Music?
Prinzipiell versuche ich, stilistische Beschreibungen Anderen zu überlassen, als das selbst zu definieren. Aber ich würde grundsätzlich sagen, dass ich extrem von urbaner und elektronischer Musik beeinflusst und inspiriert bin, aber im Falle von Parasol Peak diese komplett anders umgesetzt habe, völlig akustisch. Aber es gibt sicher viele Inspirationen, die eben aus meinem Leben in London und aus der Clubszene und aus elektronischer Musik herstammen.
Ist das eine kleine Bewegung unter Künstlern des Alpenraumes, dass man sich der Natur wieder mehr bewusst wird, und mehr noch: dass man mit der Natur musiziert, siehe Christoph Zehnders Echo Topos-Projekt, oder die Schweizdurchquerung beim Festival Neue Musik Rümlingen im Jahre 2013?
Ich muss zugeben, dass ich jetzt da gar nicht so im Bilde bin. Aber es ist schön zu hören, dass Andere auch Naturprojekte machen, und ich werde mir das sicherlich ansehen. Ich suche als Komponist immer neue Wege, Musik zu machen und Musik zu veröffentlichen und zu präsentieren, und ich glaube, dass bei Parasol Peak dem ganzen Ensemble das gut gelungen ist, weil wir eben einfach nicht wussten, es waren so viele Ungewissheiten, es war ganz anders als bei einer Aufnahme im Studio. Und wir sind sehr glücklich mit dem Endresultat.
Ihr Leib: nur noch ein Block aus schwarzer Lava-Schlacke, geopfert auf dem Altar der Schmerzen. Ganz allmählich kann sie die Vagina-artige Wunde in ihrem Brustkorb mit silbernen Perlen und leuchtenden Fäden schließen, die Heilung beginnt. Mit plakativer Symbolik wie dieser breitete Björk auf dem Vorgängeralbum Vulnicura (Wundpflege) die einzelnen Kapitel ihrer Trennung aus. Utopia ist ein logischer Nachfolger: Die Genesende erzählt uns, nicht minder episch, nicht weniger bildgewaltig, wie sie zur ewigen Kraft der Liebe zurückfindet – ohne die Narben zu verschweigen.
Um die radikale Preisgabe von Emotionen in Musik und Text für sich und ihr Publikum erträglich zu machen, hüllt sich die Isländerin seit einiger Zeit in Video, Bild und auf der Bühne in maximale Maskerade: Auf dem Cover präsentiert sie sich als extrem stilisiertes Zwitterwesen zwischen Klingonenkriegerin und Porzellanpuppe, die Vagina ist auf die Stirn gewandert, ein Fötus ruht an ihrer Schulter, eine Flöte hält sie in der Hand. Hatte sie auf den vergangenen Werken schon immer eine bestimmte Klangfarbe mit Elektronik kombiniert, mal einen Chor, mal Blechbläser oder ein Streichquartett, ist es diesmal tatsächlich ein vierzehnköpfiges weibliches Flötenensemble, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Für die Synths hat sie sich wieder den Venezolaner Arca geholt, Harfe und Cello bereichern in Nebenrollen den überwältigend räumlichen Sound.
Zunächst fällt es nicht leicht, sich innerhalb der 72 Minuten zurecht zu finden. Denn irgendwann um das „Medulla“-Album herum ist Björk die melodische Strahlkraft der früheren Werke abhanden gekommen. Statt zu Hook Lines und Refrains neigt sie oft zu einer Art Rezitation, für die sie in der isländischen Tradition des Rímur-Gesangs ein Vorbild hat. Doch da jeder „Song“ auf eine geschlossene Geschichte verzichtet, stattdessen einen Seelenzustand beschreibt, eine „emotional landscape“, wie sie es schon im Hit „Jóga“ vor zwanzig Jahren sang, passt es wiederum, dass sie Phrasen wiederholt statt entwickelt.
Nach der gleichnamigen Datingplattform hat Björk Utopia scherzhaft als ihr „Tinder“-Album bezeichnet. Und am Anfang sind wir wirklich Ohrenzeuge einer neuen, spontanen Liaison, in der jeder Kuss eine Explosion ist, Vokalspuren als Freudenschreie getürmt werden. In der Harfengirlanden umherschwirren und – wie in der Single „The Gate“ – immer wieder die Fürsorge für den anderen beschworen wird. Das Verliebtsein wird durch Musik getriggert: Sie ist vernarrt in seine Songs, Mixtapes werden als Streicheleinheiten ausgetauscht. Dass Björk ein zuckrig-verzärteltes Turteltauben-Werk serviert, glaubt man spätestens, als seufzende Exotikvögel den ersten Auftritt der Flöten umgarnen – und die kommen nicht als wildes, phallisches Element daher, sondern fast höfisch-barock. Doch auch wenn diese „Paradise Pipers“ jetzt nicht mehr von den Hörern weichen, kippt genau hier die Stimmung.
Utopia will erst erobert werden, und dafür durchmisst Björk nochmals ihre Schmerzensbahn: Unterstützt durch einen Chor erzählt sie mit gewaltiger Sounddramaturgie von der Entfremdung der Liebe in der Stadt, träumt sich ins mythische Nordland zurück, wo Körper und Natur verschmelzen. Hier bekommen Arcas atmende Beats mehr und mehr ihre große Stunde: Sie scheren sich oft nicht um Taktgebungen, sind eher Herzstolperer, dazwischenfauchende Wesenheiten, zischende Geysire, bis über die Grenze der soundtechnischen Überfrachtung hinaus geht das. Wir müssen abtauchen in die Schattenseiten, in die Tretmühle der Liebe: unerwiderte Gefühle, bittere Rache, patriarchale Übergriffe, das Vererben der Elternsünden an die Kinder.
In all dem Tumult mühen sich die Flöten, Leitfaden zum Licht zu sein, und therapeutische Sätze wie dieser: „Loss of love we all have suffered / how we make up for it defines who we are.“ Endlich kann in „Claimstaker“ das Land Utopia neu in Besitz genommen werden, mit allen Sinnen und dem Körper, der bei Björk auch immer Biographie und Geologie ist. Leider verpufft am Ende diese großartige Ohrenkino in einem entrückten Elysium. Der Himmel hängt voller Flöten, als eine allegorische Heilige auftritt und zum Reich ewiger Liebe geleitet: „Music heals, too, and I‘m here to defend it.“
Dann löst sich jegliche Rhythmik auf, selbst das Vogelkonzert verstummt. Synthetische Steeldrums und Björks verzückteste Sopranlinien duettieren. Nach so viel Körperlichkeit, nach so viel Kampf das Vakuum, „Utopia“ wörtlich genommen als „Nicht-Ort“. Björk, die Jeanne d‘Arc der Musik (= Liebe) im luftleeren Raum, das ist eine anrührende, aber irgendwie auch unbefriedigende Apotheose.
Björk
„Hyper-ballad“ (Björk Guðmundsdottir) (aus: Post, 1995)
Als Dreijähriger, so wurde mir zumindest erzählt, habe ich einmal alle meine Spielsachen über den Balkon in den Garten geworfen und nach erfolgreicher Aktion gesagt: „Jetzt hat die arme Seele Ruh'“. Es muss schon damals etwas Befreiendes gehabt haben, Altlasten loszuwerden. Björk hat sich für ihre Befreiungsaktion gleich eine hohe Klippe ausgesucht. Jeden Morgen in aller Frühe schmeißt sie Autoteile, Flaschen und Geschirr runter. „Das alles mache ich durch, bevor du aufwachst“, singt sie, „um mich glücklicher und sicherer zu fühlen mit dir hier oben.“
Die „Hyper-ballad“ hat mir vor vielen Jahren durch eine schwere Krankheit geholfen. Auch damals war es notwendig, viele Sachen von der Klippe zu werfen, um weitermachen zu können. Björk hat das damals für mich rausgesungen – und als alles überstanden war, durfte ich sie das erste Mal im Konzert erleben. Das war am 11.9.2001.
Wie immer: Viel Spaß beim affirmativen Nicken und verständnislosen Kopfschütteln.
Und einen guten Rutsch!
ALBEN
1. Alejandra Ribera (CDN/ARG/SCO): La Boca (Jazz Village/Harmonia Mundi)
2. Africa Express (Mali/UK/Various): In C Mali (Transgressive Records/Membran)
3. The Polyversal Souls (Ghana/D/Various): Invisible Joy (Philophon/Groove Attack)
4. Steen Rasmussen Quinteto (DK/BRA): Presença (Stunt Records/in-akustik)
5. Sophie Hunger (CH): Supermoon (Caroline/Universal)
6. Rhiannon Giddens (USA): Tomorrow Is My Turn (Nonesuch/Warner)
7. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (Ghana/D): Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (Strut/Indigo)
8. Blick Bassy (Kamerun): Akö (No Format/Indigo)
9. Irit Dekel & Eldad Zitrin (ISR): Last Of Songs (Pinorekk/Edel)
10. Eska (Simbabwe/UK): Eska (Naim/Indigo)
11. Melody Gardot (USA): Currency Of Man (Decca/Universal)
12. Benjamin Clementine (GB): At Least For Now (Caroline/Universal)
13. Dani & Deborah Gurgel Quarteto (BRA): Garra (Berthold Records/Harmonia Mundi)
14. Smockey (Burkina Faso): Pre’volution (Outhere/Indigo)
15. Matthias Loibner (A): Lichtungen (Traumton/Indigo)
16. Criolo (BRA): Convoque Seu Buda (Sterns/Alive)
17. Björk (IS): Vulnicura (Embassy Of Music/Warner)
18. Lisa Simone (USA): All Is Well (Laborie/Edel)
19. Bachar Mar-Khalifé (LBN/F): Ya Balad (Infine/Rough Trade)
20. Renaud Garcia-Fons & Derya Türkan (F/TK): Silk Moon (E-Motive/Galileo)
21. Jeff Lynne’s ELO (GB): Alone In The Universe (Sony)
22. Vieux Farka Touré & Julia Easterlin (Mali/USA): Touristes (Six Degrees/Exil)
23. Tigran Hamasyan & Yerevan State Chamber Choir (ARM): Luys I Liso (ECM)
24. Cassandra Wilson (USA): Coming Forth By Day (Columbia/Sony)
25. Biolay – Fiszman – Benarrosh (F): Trenet (Barclay/Universal)
26. Sacri Cuori (I): Delone (Glitterbeat/Indigo)
27. The Gurdjieff Ensemble (ARM): Komitas (ECM)
28. Oum (MAR): Soul Of Morocco (Galileo)
29. Carminho (P): Canto (Parlophone/Warner)
30. Cristobal & The Sea (E/P/F/GB): Sugar Pack (City Slang/Universal)
SONGS DES JAHRES
1. „I Want“ (Alejandra Ribera)
2. „Spaghetti mit Spinat“ (Sophie Hunger)
3. „Black Lake“ (Björk)
4. „The People And I“ (Benjamin Clementine)
5. „St. Augustine“ (Alejandra Ribera)
6. „Courage“ (Villagers)
7. „Angel City“ (Rhiannon Giddens)
8. „Presença“ (Steen Rasmussen Quinteto)
9. „Taragalte“ (Oum)
10. „Child In Me“ (Lisa Simone)
KONZERTE
1. Tony Allen & Mâalem Mohamed Koyou, Place Moulay Hassan, Essaouira, 15.5.
2. Sophie Hunger, Marktplatz Lörrach, 13.7.
3. Orlando Julius & The Heliocentrics, Kaserne Basel, 5.2.
4. Steve Gadd, Volkshaus Basel, 20.10.
5. Harald Haugaard & Helene Blum, Klausenbauernhof Wolfach, 21.3.
6. Oloid, Volkshaus Basel, 25.4.
7. Ballaké Sissoko & L’Art Royal de la Kora, Dar Adiyel, Fès, 25.5.
8. D’Angelo, Kaufleuten Zürich, 11.2.
9. Ivan Lins & SWR Big Band, Burghof Lörrach, 2.7.
10. Björk, Zitadelle Berlin-Spandau, 2.8.
FILME
1. Das Ewige Leben (Wolfgang Murnberger, Österreich/Deutschland)
2. No Land’s Song (Ayat Najafi, Iran)
3. Loin Des Hommes (David Oelhoffen, Frankreich)
4. Meister Des Todes (Daniel Harrich, Deutschland)
5. Atlantic (Jan-Willem van Ewijk, Marokko/Niederlande)
6. Señor Kaplan (Àlvaro Brechner, Uruguay)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Selma (Ava DuVernay, USA)
9. The Martian (Ridley Scott, Großbritannien)
10. Bach In Brasil (Ansgar Ahlers, Deutschland/Brasilien)
BÜCHER
(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)
FICTION
1. Saphia Azzedine (Marokko/Frankreich): Bilqiss (Éditions Stock)
2. Elias Canetti (Großbritannien): Die Stimmen von Marrakesch (SZ Bibliothek)
3. Jonathan Franzen (USA): Freiheit
4. Driss Chraibi (Marokko): Ermittlungen im Landesinnern (Lenos Collection)
5. Amin Maalouf (Libanon): Der Geograph des Papstes (Insel)
NON-FICTION
1. Various: Seismographic Sounds: Visions Of A New World (Hrsg. Theresa Beyer/Thomas Burkhalter, Norient Books)
2. Manuel Negwer: Villa-Lobos – Der Aufbruch in der brasilianischen Musik (Schott)
3. Wolfgang Korn: Schienen für den Sultan (Komet)
4. Dieter Ringli / Johannes Rühl: Die Neue Volksmusik (Chronos)
5. Aaron Cohen: Amazing Grace (continuum)
6. Klaus Biesenbach u.a.: Björk Archives (Schirmer-Mosel)
7. Anthony Heilbut: The Fan Who Knew Too Much (Knopf)
8. Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat (Ullstein)
9. Alma Mahler-Werfel: Gustav Mahler (Fischer)
10. Greg Kot: I’ll Take You There (Scribner)
Noch ein Jahrestag, bei dem sich eine Verbindung von Pop und Klassik feiern lässt:
Estlands stiller Gigant wird heute 80.
Aus diesem Anlass ein kleines sympathisches Interview, das Björk 1997 anlässlich einer BBC-Dokumentation mit ihm geführt hat. Die Liaison zwischen der Islanderin und dem Esten hat inzwischen weitere Früchte getragen: Pärts Sohn Michael hat auf dem aktuellen Album Vulnicura den Supervisor für die Streicheraufnahmen gespielt.