Azorisches Tribut

Am 25. April 1974 jährte sich Portugals Nelkenrevolution zum 50. Mal. In der Nacht zuvor begann die Befreiungsarmee ihre Fahrt auf Lissabon, um der längsten faschistischen Diktatur, die Europa erlebt hatte, ein Ende zu setzen. Aufbruchssignal für den Sturz der Faschisten war ein Lied, das im Radio gespielt wurde: „Grândola, Vila Morena“ aus der Feder des Liedermachers José Afonso.

Bis heute ist der politisch aktive Sänger, den man in der Heimat liebevoll „Zeca“ nennt, eine ikonische Figur der portugiesischen Geschichte. Herzstücke aus seinem reichen LP-Katalog sind in den letzten Jahren auf dem Label Mais 5 (sprich: maisch sinku) wiederveröffentlicht worden. Zum krönenden Abschluss dieser gewaltigen Unternehmung hat Mais 5 nun anlässlich des runden Jubiläums der Revolution auf Initiative von Afonsos Sohn Pedro ein besonderes Projekt aufgegleist: Man brachte Musikerinnen und Musiker aus Portugal, aus Angola, Mosambik, Asturien und von den Azoren zusammen, um Zecas Erbe ins 21. Jahrhundert weiterzutragen. Mit den „Wanderer Songs“ feiert diese pan-lusitanische Band mit einer audio-visuellen Show und auf Tonträger die Klassiker seines Schaffens – in einer komplett neuen, aufregend zeitgemäßen Tonsprache.

Warum „Wanderer Songs“?

„Er war tatsächlich immer in Bewegung, immer am Laufen, ein unruhiger Geist“, sagt Tochter Lena Afonso, die viele lebendige Erinnerungen an ihren Vater hat. „Er hat dabei das ganze Land kennengelernt, vom Norden bis zur Algarve im Süden. Deswegen sagt man in Portugal sehr häufig: Zeca: Andarilho (Wanderer) und Sänger.“ José „Zeca“ Afonso: ein Rastloser, der alle Facetten der Volksmusik seines Landes erforschte, auch in den Kolonien auf die Suche der Klangvielfalt ging, all dies in seine Lieder einfließen ließ. Und der sich auf der anderen Seite unermüdlich gegen Faschismus und für Menschlichkeit einsetzte, dieses unerschrockene Engagement mit Schikane, Zensur, Verfolgung durch die Geheimpolizei und Haft bezahlte.

All diese Facetten einer spannenden Persönlichkeit arbeitet die „Wanderer Songs“-Band heraus. Sie entwickelte neue, dem 21. Jahrhundert gemäße Versionen der Afonso-Lieder, die nun von einem kraftvollen, manchmal experimentellen Indie-Rock-Sound getragen sind, parallel hierzu afrikanische und azorische Einflüsse erkennen lassen. Nach zwei Wochen Probezeit im April 2024 trat die Band im Teatro Faialense auf der Azoren-Insel Faial auf und spielte die Songs, die Afonso auch in seinem letzten Konzert im Lissabonner Coliseu am 29. Januar 1983 vor einem enthusiastischen Publikum vortrug. Nach ihrem Debüt auf der Atlantikinsel war die Band im vergangenen Sommer bereits auf dem Rudolstadt Festival zu hören, am 22. und 23. Januar 2025 folgten umjubelte Auftritte im Mutterland, in der Casa da Música in Porto und im Teatro Tivoli BBVA in Lissabon. Jetzt gehen die „Wanderer Songs“ hinaus in die Welt.

Dies geschieht in einem Moment, in dem sich erschreckend große Teile der Welt gegen Demokratie und Humanität und für die Verbreitung von Lüge und Hass entscheiden. Mehr denn je gilt es, sich in Europa und weltweit für die Ideale von „Zeca“ Afonso und der portugiesischen Revolution einzusetzen. Diese Musik erinnert uns machtvoll daran und macht uns Mut, denn ihre Botschaft ist: Wir sind nicht ohnmächtig.


Die Musiker

Die aus Mosambik stammende Sängerin Selma Uamusse ist eine der vielseitigsten afro-portugiesischen Stimmen unserer Zeit. Ihr Aktionsradius reicht vom Jazz über viele Teamworks in der Pop- und Songwriter-Szene bis zum Theater. In ihrer Solo-Arbeit beschäftigt sie sich in zeitgenössischer Art und Weise mit ihren Wurzeln, singt in mosambikanischen Idiomen und kombiniert den Klang traditioneller Instrumente mit Elektronik.

Seit einem Jahrzehnt steht PS Lucas für eine feinsinnige Songwriting-Kunst. Der von den Azoren stammende Musiker hat dabei eine Sprache entwickelt, die vom Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, zwischen Ozean und Land, zwischen Stille und Eruption lebt. In seinen Liedern finden sich Echos von Leonard Cohen über Nick Drake bis Georges Brassens.

Den Angolaner Nástio Mosquito kann man einen wahren Multimedia Artist nennen. Er vereint die Eigenschaften eines Sängers, Schauspielers und Moderators, arbeitet mit Klang, Video und Installationen, verknüpft als unberechenbarer, provokanter Performer Tradition mit Futurismus. Seine Shows waren bereits im New Yorker MoMA und der Londoner Tate Gallery zu sehen.

Seit den 1990ern trägt Nacho Vegas prominent zur musikalischen Independent-Bewegung der iberischen Halbinsel bei. Als Vertreter der nordspanischen Region Asturien beweist er, wie grenzübergreifend wichtig José Afonsos Arbeit war und ist. Vegas zeigt in seinen Werken eine breite Palette von Inspirationen vom spanischen Alternative-Rock bis zur chilenischen Liedermacherin Violeta Parra.

Das portugiesische Duo Lavoisier (Roberto Afonso und Patricia Relvas) folgt dem Geist des Tropicalismo der späten 1960er, der brasilianische, europäische und US-Einflüsse „fraß“, um daraus neue Klangcollagen zu gebären. Ebenso orientieren sich die beiden Musiker an der Arbeit von Michel Giacometti, der zur gleichen Zeit wie die Tropikalisten in Portugal die traditionelle Musik der Regionen dokumentierte. Aus diesen Quellen schaffen sie eine neue, unerschrockene Musik mit historischer Erdung.

Tiago Correia-Paulo komplettiert das „Wanderer Songs“-Line-Up: Der Mosambikaner ist Musical Director der Band und steuert als Multiinstrumentalist E-Gitarren, Drums und Synthesizer-Spuren bei.

 

Einige Songs

– „Balada De Outuno“: Diese „Herbstballade“ stammt aus Zeca Afonsos Frühwerk und ist im Original noch vom höfischen Ton des Fados der Stadt Coimbra getragen. Afonso betrauert hier das Versiegen seiner Stimme, und die Trauer spiegelt sich im Weinen der Flüsse. In ihrer Adaption machen Selma Uamusse und Patricia Relvas zum Auftakt der „Wanderer Songs“-Show aus der Klage einen Kampfruf im rockigen Gewand.

– Venham Mais Cinco“: Ein halbes Jahr vor der Nelkenrevolution veröffentlichte José Afonso dieses übermütige Lied. In jeder Zeile lässt sich die Aufbruchsstimmung eines Volkes hören, das sich geeint gegen die Diktatur stellt, im „Tiririri“-Refrain kündigen sich schon prophetisch die fröhlichen Feiern nach der Befreiung an. Patricia Relvas und die Band wandeln den Klassiker in eine unbändige Afro-Tanzhymne, die in ein großartiges Rock-Finale mündet.

– „Milho Verde“ ist eines jener ikonischen Stücke, für die sich Zeca Afonso von der portugiesischen Folklore inspirieren ließ. Eingebettet in romantische Naturszenerie wird hier mit dem für den Alentejo typischen mehrstimmigen Gesang von neckischen Schäferstündchen erzählt. Die spielerische Atmosphäre weitet sich bei der „Wanderer Songs“-Band zu einem kraftgeladenen Popsong.

– „A Morte Saiu À Rua“: Dieses Lied schrieb José Afonso für den im Widerstand tätigen bildenden Künstler Dias Coelho. Die Geheimpolizei PIDE hatte ihn 1961 auf offener Straße ermordet. Im Dialog mit den E-Gitarren von Tiago Correia-Paulo und PS Lucas schwingt sich Selma Uamusse zu einer bitteren Anklage gegenüber faschistischer Gewalt empor.

– Redondo Vocábulo“: Eines seiner stärksten Lieder überhaupt schrieb Zeca über seine Einzelhaft im Gefängnis von Caxias. Die Worte beschwören die klaustrophobische Atmosphäre der Zelle herauf. Im treibenden Arrangement der „Wanderer Songs“-Band ist der ungebrochene Trotz des politischen Häftlings eingefangen, die fast tribalen, ekstatischen Vokallinien durchbrechen selbst Gefängnismauern.

– „Vampiros“ entwirft ein scharfzüngiges Bild des Unrechtsstaates und ist damals wie heute gültig. Die Machthaber werden gezeichnet als blutsaugende, alles auffressende, gesetzeslose Gewaltherrscher. Uamusse, Vegas und Relvas haben das Schreckensszenario in einen eindrücklichen Sprechgesang transferiert. Ein zeitloses Manifest gegen politische Willkür und Machtmissbrauch.

© Stefan Franzen

Wanderer Songs: „Venham Mais CInco“
Quelle: youtube

Green Belt Of Sound 10: The Art Of Duo & Trio

Dieser Blog wird heute 10 Jahre jung.

Was 2014 mit Konzertberichten zum Electric Light Orchestra und Kate Bush in London begann, hat sich in nahezu 900 Beiträgen über die Roots Music, Jazz, Songwriting, Pop und auch gelegentliche Ausflüge in die Klassik in Interviews, Konzertberichten, Rezensionen – und leider auch vielen Nachrufen auf zwischenzeitlich gestorbene Künstler – zu einem hoffentlich immer lesenswerten, spannenden und vielseitigen Online-Journal jenseits der Zwänge der Musikindustrie gemausert.

Mir hat es immer großen Spaß gemacht – und ich gehe trotz der schwierigen Zeiten in so vielen kulturellen und weltpolitischen Lebensbereichen mit Schwung ins zweite Jahrzehnt.

Feiern möchte ich die 10 Jahre Green Belt of Sound mit einer ganzen Reihe von Reviews, die allesamt intime und teils auch spirituelle Musik herausheben, die in diesem Herbst aktuell ist. Denn gerade aus der Ruhe erwächst oft große Kunst.

In diesem Sinne – lauscht der Stille…

Euer Stefan

Die kleine Bouzouki und der große Konzertflügel: Ob das funktioniert? Joel Lyssarides und Georgios Prokopiou überzeugen uns auf Arcs And Rivers (ACT/edel) aufs Feinste davon. Die versonnenen Dialoge zwischen dem schwedischen Pianisten und dem griechischen Langhalslautenisten lassen alle Zorbas-Klischees hinter sich. Die Bouzouki wird zum freigeistigen Tänzer, zum schwebenden Akteur über den Ostinati des Klaviers („Echoes“), findet sich auch in ein barockes Ausgangsmotiv hinein. In Stücken wie „Kamilieriko Road“ übernimmt sie dann auch mal kraftgeladen die Führung durch eine klar dem Rembetiko zuzuordnende Atmo. Eine echte und äußerst fruchtbare Begegnung.

Der Kamancheh-Virtuose Misagh Joolaee hat sich mit seiner Gattin, der klassischen Pianistin und J.S.Bach-Spezialistin Schaghajegh Nosrati, und dem Perkussionisten Sebastian Flaig zum Joolaee Trio zusammengefunden. Morgenwind (GWK Records) zeigt, wie sich die verschiedenen Sujets der Akteure in vorrangig Eigenkompositionen zu einer neuen Klangsprache verzahnen. Auch hier erstaunlich, wie ein fragiles, obertonreiches Instrument wie die Stachelgeige und das Volumen eines klassischen Flügels in ein gleichberechtigtes Miteinander finden. Schmerzlich-getragene Töne wie in „Be Hich Diyar“ (den iranischen Protestierenden gewidmet) wechseln mit tänzerischer Rasanz („Mehrabani“, „Erzincan Düz Halayi“). Eine Fuge, herausragender Moment der CD, wird mit orientalischer Skala gebaut und überrascht mit dem Klang der Steinmarimba. Flaigs Schlagwerk agiert mehr farb -als beatgebend, Joolaees Geige hingegen übernimmt in Pizzicati und Klopftechniken auch perkussive Aufgaben. Dieses Trio wirft Ost-West-Klischees spielerisch über Bord. Anspieltipp: das von einem zarathustrischen Ritual befeuerte „Sharar“.

In eine klanglich sehr weit entfernte Welt entführt uns das koreanische Frauenduo Dal:um. Korea ist Wölbbrettzither-Land, und auf Coexistence (Tak:til/Glitterbeat) lässt sich eine zwar von der traditionellen, teils höfischen Gugak-Musik inspirierte, aber durch und durch moderne, catchy Zwiesprache von Gayageum und Geomungo erleben, zwei Vertretern dieser weitverzweigten Familie. Das Hartholz des Blauglockenbaums bietet das Baumaterial für diese Zithern, die kraftgeladen, harsch, perkussiv und dennoch lyrisch klingen, Durch das Bending der Saiten entsteht gar so etwas wie eine “bluesig-soulige” Anmutung. Die transparente Unterhaltung der beiden Instrumente lebt von der klaren kontrapunktischen Rollenverteilung zwischen Bass und Melodiebereich. Und plötzlich tönt Fernost gar nicht mehr so fern.

Wenige von uns verfügen über synästhetische Fähigkeiten, können Musik also in Beziehung setzen zu Farben oder gar Gerüchen. Der Klarinettist David Orlowsky zählt zu den Glücklichen und versucht auf Petrichor (Warner Classics) mit seinem Trio an Gitarre und Percussion, für ihn prägende Düfte in Töne zu übersetzen. Das Odeur von Marrakesch manifestiert sich in einer geheimnisvoll geschwungenen Nostalgie über Marimbaphon, Lissabons Gassengeruch verdichtet sich in einer schreitenden Walzermelancholie. Doch nicht nur Orte verfangen in Orlowskys Miniaturen: „Patchouli“ oszilliert zwischen Flamenco- und Klezmer-Atmo, „Lavender“ weht wie eine wehmütige Abendmeditation in die Ohren. Am schönsten ist aber, wie sich der Zitronenduft klanglich verfestigt – gar nicht säuerlich, sondern als zärtlich tänzelnder Schwebezustand.

Dass sie sich – zusammen mit Perkussionist Paco de Mode bereits zum dritten Mal zum Trio-Gipfel auf CD treffen, zeugt von ihrer tiefen Verbundenheit und ihrem blinden Verständnis. Und so machen der menorquinische Pianist Marco Mezquida und der barcelonische Gitarrist Chicuelo auch Del Alma (Galileo) wieder zu einer spannungsvollen Zwiesprache, die zwar Flamenco-Intros und Rumba-Rhythmen einwebt, aber immer wieder die Souveränität hat, die Farben des Blues‘ und pianistische Einschwenkungen in die Música Latina zu unternehmen. Beide Akteure schöpfen aus ihrem hohen Können, das in einem Stück wie „Alalimón“ zu perfekter Verschmelzung führt und sie im Finalstück „El Faro De Los Deseos“ schon fast auf die Höhe eines romantischen Kunstliedes hebt.

Weit mehr als eine Kuriosität ist das palästinensisch-jordanisch-äthiopisch-finnische Trio Wishamalii. Ihr Debüt Al-Bahr (Nordic Notes) zentriert sich um das Klavier des Komponisten Kari Ikonen, das auf arabische Stimmung getunet ist. Die verhangene, ornamentale Stimme von Nemad Battah, wahrhaft ausgeklügelte Texturen mit persischem Hackbrett, Oud, zarter Geige, luftiger Trommelarbeit und flexiblen Synths schaffen eine Farbpalette, die in der arabischen Musik ziemlich einzigartig ist. Vielleicht gibt die Heimat Helsinki ja dieses atmosphärische Extra-Quäntchen hinzu.

© Stefan Franzen

Dal:um: „Cracking“
Quelle: youtube

Iren dekonstruieren

Córas Trio
Córas Trio
(Coracle Records)

Musik aus Irland: Man müsste schon lügen, wenn man abstreitet, da nicht sofort an Irish Folk zu denken. Jazz auf der grünen Insel? Eher ein zweitrangiges Thema. Bis jetzt, denn mit dem Córas Trio aus Belfast stellen sich drei junge Musiker vor, die tatsächlich beides unter einen Hut bringen: Jazz und Folk, und das in einer verblüffenden neuen Free Folk-Sprache.

Eine Fiddle, die mit den Grenzen der Folkmusik flirtet, ein Schlagwerk, das eher Farben als Beats beisteuert, eine Akustikgitarre, die beileibe nicht nur folkige Begleitakkorde schrummt und ganz dezent eingesetzte Synthesizer: Das ist für mich einer der Entdeckersounds des Jahres. Für SRF 2 Kultur habe ich mit dem Trio-Drummer Conor McAuley gesprochen, der Beitrag wird im Rahmen der Sendung Jazz & World aktuell am Dienstag dem 17.09. ab 20h gesendet.

Córas Trio: „George White’s“
Quelle: youtube

Heiligkeit, Freiheit und Mut

Mit dem multinationalen Bandkollektiv Ayom kommt frischer Global Pop-Wind auf badische Bühnen. In ihren Sound fließen Farben aus Brasilien, Cabo Verde, Angola und dem mediterranen Raum ein.

Ist die Ära der großen, schillernden Supergroups der Weltmusik nicht längst vorbei? Die Tage jener Bands, die Zutaten verschiedener Erdteile mischen und daraus ein manchmal spritziges Gebräu, allzu oft aber auch eine saucenhafte Tunke kredenzen, schienen gezählt. Doch jetzt ist das Kollektiv Ayom auf den Plan getreten, mit Mitgliedern aus Brasilien, Spanien, Italien und Griechenland, mal von Barcelona, mal von Lissabon und Florenz aus wirkend – und sie gehören eindeutig der spritzigen, belebenden Seite an.

Lange war Barcelona Brutstätte einer Mestizo-Szene, die in den 1990ern und 2000ern mit Manu Chao oder den Ojos De Brujo wegweisende Klangmarken setzte, sich irgendwann aufgrund der Beliebigkeit ihrer Stilmélange aber totgelaufen hatte. Als Ayom, benannt nach der afro-brasilianischen Orixá-Gottheit der Musik, 2021 ihr Debütalbum veröffentlichten, weckte das weniger Erinnerungen an den wilden Mestizo-Sound von einst. Die Band versuchte vielmehr, einen spannenden Ansatz mit spiritueller Tiefe und ausgefuchsten transatlantischen Bezügen zu finden. Mit der süffigen Stimme der Brasilianerin Jabu Morales und dem omnipräsenten Akkordeon von Alberto Becucci im Zentrum dokumentierten die Songs des Erstlings eine Bandarbeit, die am zeitlosen afro-portugiesischen Klangidiom gewachsen ist, und nicht an zusammengestoppelter Mischkultur.

Jetzt vertieft das Sextett um Morales diese Klangphilosophie mit dem zweiten, im September erscheinenden Konzeptalbum SA.LI.VA., dem im Sommer eine Europa-Tournee vorausgeht. Auch auf dem Lörracher Stimmenfestival und dem Karlsruher Zeltival sind die Musiker zu erleben. „SA.LI.VA.“ steht für „sagrado, liberdade, valentia“ – die portugiesischen Worte für heilig, Freiheit und Mut. Jeder dieser Sphären ist ein Abschnitt auf dem Werk gewidmet, das außerdem vom Glauben an die Orixás getragen wird, den Gottheiten der afrobrasilianischen Candomblé-Rituale.

Stilistisch ist SA.LI.VA. überhaupt nicht zu fassen, zu vielgestalt sind die Einwebungen: Mit Streichern, Akkordeon und großartig sanfter Stimme wird zu Beginn die Obergottheit Oxalá angerufen, Farben der kapverdischen Melancholie sind hier hineingewirkt. Tänzelnd vereinen sich Pianotropfen, Samba-Percussion und lusitanische Gitarrentremoli in „Filhos Da Seca“. Rituell-hymnisch wird es in einer Ode an Oxum, der Göttin der Schönheit und Liebe. Und flugs geht es für die Einleitung des festiven „Freiheits“-Abschnitts in den Nordosten Brasiliens, von wo die fröhlichen, flinken Rhythmen des Karnevals in „Eu Quero Mais“ hineinfließen, inklusive opulentem Blechblasapparat. Bereichert wird dieses große Netzwerk der Sounds durch Gäste: In „Kikola N’goma“ feiert der Angolaner Paulo Flores die transatlantischen Verbindungen mit einem Paket tropischem Gitarren-Swing. Die größte Überraschung kommt im Finale auf unsere Ohren zu: „Io Sono Il Vento“, ein italienischer Fünfzigersong mit viel mediterranem Schmelz, singt Jabu Morales im herzerweichenden Duett mit dem portugiesischen Star Salvador Sobral.

Selten offenbarte sich in der globalen Musik während der letzten Jahre eine solche durchdachte, aufregende und tiefsinnige Vielfalt. Auf die Bühnenumsetzung kann man nur gespannt sein.

© Stefan Franzen

Platte:
„SA.LI.VA“ (Ayom/Believe, VÖ: 13.09.)

live:
Rosenfelspark Lörrach (Stimmenfestival), 18.7.
Zeltival Karlsruhe, 24.7.

AYOM: „Oxalá, Promessa Do Migrante“
Quelle: youtube

 

Spannungsgeladene Glanztat

Àbáse
Awakening
(Oshu Records/Analogue Foundation)

Szabolcs Bognár kommt aus der ungarischen Jazz- und HipHop-Szene und hat sich seit 2018 in Berlin etabliert. Mit dem Septett Àbáse hat der Produzent und Keybaorder auf der Scheibe Awakening (Oshu Records/Analogue Foundation) eine schwer klassifizierbare Fusion geprägt, die auf- und anregend ist. Unverkennbar sind Afrobeat und Highlife ein Tummelplatz, wie in der überragend groovenden Nummer “Menidaso” mit ghanaischer Vokalpräsenz von Eric Owusu, doch pflegt man hier keine straighte Afro-Adaption, sondern lässt Raum für breitwandige Fusionstrecken.

Herrlich, wie die glasige Fender Rhodes sich ins hektisch-virile Rhythmusgefüge von “Destruction Everywhere” einbetten lässt. wie verträumt Sax und Flöte mit dem Moog sphärische Klänge über einem Sechsertakt in “Orbit Sirius” kreieren. In “Bloom” dagegen scheint die Zeit mit Pianoperlen und pentatonischer Flöte eingefroren. Kosmisch frei wird es mit dem Gastauftritt von Knoel Scott und Cecil Brooks aus der Sun Ra Arkestra-Entrourage, bevor dem Orixá-Donnergott “Shango” in pompöser Bigband-Manier gehuldigt wird. Eine spannungsgeladene, spirituelle Glanztat, dieses Album.

© Stefan Franzen

Àbáse: „Orbit Sirius“
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Vier Flöten und ein Trommelfell


Nancelot
Nancelot
(Unit Records)

Es gibt Zeitgenossinnen und -genossen, denen Block- und auch Querflöte gewaltig auf den Senkel geht. Für sie wird das Debüt des Quintetts Nancelot eine gewaltige Herausforderung sein – oder es wird sie im besten Fall bekehren. Um die Schaffhauser Musikerin Nancy Meier sind hier gleich vier Flötistinnen zugange, aber wie: Die geblasenen Linien umweben sich in vielschichtigsten Abwandlungen in epischen Stücken, die jedes für sich wie ein akustischer Kurzfilm mit fantasievoll gesponnener Dramaturgie sind.

Da blitzen mal barocke Sequenzstrukturen auf, zarte Syrinx-hafte Gebilde fliegen durch die Luft, oder Loophaftes wie in der vielzitierten Minimal Music rückt in den Vordergrund. Mit den perlenden, dichten harmonischen Sätzen unter der Melodie denkt man phasenweise auch an eine quirlige, schwerelose Improvisation auf einem Orgelmanual. Und verspielte, freie Interludien machen klar: Hier gibt es zwischen den vier Flöten eigentlich gar keine Hierarchien.

Der Clou ist jedoch, dass sich Meier, Eline Gros, Camille Quinton und Anett Kallai noch den deutschen Schlagzeuger Tilo Weber dazugeholt haben, der mal mit feinem Liebkosen die Melodien rhythmisch unterstreicht, zwischendrin aber auch mal in einem polternden Anflug viril konterkariert. Dringende Empfehlung: Entdecken Sie diese vier Damen und ihren Drummer im Eröffnungskonzert des Schaffhauser Jazzfestivals am 22. Mai!

© Stefan Franzen

Nancelot live: 22.05. Schaffhauser Jazzfestival, 01.07. Südtirol Jazzfestival, 20.11. Bird’s Eye Basel, 21.11. ReJazz Festival Berlin

Nancelot Album Trailer
Quelle: youtube

Portugiesischer Frühling

Ana Lua Caiano
Vou Ficar Neste Quadrado
(Glitterbeat)

Lusitanian Ghosts
III
(Phonographic/Broken Silence)

Zum Beginn des Aprils wandert greenbeltofsound nach Portugal. Das ist naheliegend, denn am 25.4. jährt sich zum 50. Mal die Nelkenrevolution. Umso wichtiger in diesen Tagen an den Sturz der rechten Diktatur zu erinnern, als ja ein rechtes Bündnis bei den Wahlen vor kurzem explosionsartige Stimmenzuwächse verzeichnen konnte. Wir feiern das andere Portugal mit zwei herausragenden Scheiben.

Ganz weit weg von allen hinlänglich bekannten Portugal-Patterns wohnt Ana Lua Caiano. Die Musikerin aus Lissabon hat schon Lorbeeren auf der Eurosonic, der WOMEX und den Transmusicales eingeheimst, jetzt bekommt sie sie für ihr Debüt Vou Ficar Neste Quadrado auch von mir. Im Alleingang und komplett auf elektronischer Basis zimmert Caiano ein Universum, das die Ohren in einen Bannkreis zieht.

Hämmernde, schiebende und klackende Beats, genauso maschinell wie mit traditionellem Schlagwerk erzeugt, umwinden sich zu einem rhythmischen Mycel. Darüber baut sie harsche Vocals, die wirkmächtig die Silben der portugiesischen Sprache einsetzen, mal marschartig deklamiert, mal geflüstert, eingebettet in kompakte, geschliffene Chöre, die auch von alten Gesängen der portugiesischen Landbevölkerung Einflüsse beziehen. Und nie hat man eine konziser und hermetischer eingefangene Lockdown-Paranoia vernommen als in diesen Lyrics.

Ana Lua Caiano: „O Bicho Anda Por Aí“
Quelle: youtube

Ist portugiesischer Folkwave nicht ein wenig abwegig für diese Spalten? Nein, befindet der greenbeltofsound-Autor. Die Lusitanian Ghosts sind ein Sextett, das irgendwo zwischen einer düsteren Version der Waterboys und Crowded House musiziert, dazu auch noch mit englischen Texten. Allerdings tun sie das auf Lusitanian Ghosts III mit spannenden Zupfinstrumenten, die auf der roten Liste stehen.

Die Band um den kehlig-falsettigen Sänger Neil Leyton (hinter dem Moniker verbirgt sich Musikproduzent Nuno Saraiva) bemüht Chordophone wie die Viola Amarantina, Terceirense und Campaniça, die aus Nord- und Südostportugal sowie von den Azoren stammen. Und die zirpen als schöne Würze durch die rockigen Arrangements der Songs, unter denen sich auch eine Würdigung an den 50. Jahrestag der Nelkenrevolution befindet.

© Stefan Franzen

Lusitanian Ghosts: „Got Enough“
Quelle: youtube

Pluckernd-pastoral und funky

La Yegros 
HAZ
(X Ray Productions)

Welche erstaunliche Entwicklung die Digital bzw. Nu Cumbia genommen hat, lässt sich an der Karriere von La Yegros ablesen. Die früher oft dominierenden Techno- und HipHop-Anteile des von Bogotá bis Buenos Aires vertretenen Genres sind bei ihr in ein organisches Gesamtgefüge eingeflossen. Auf ihrem vierten Werk HAZ hat die Argentinierin auf diese Weise eine wunder- und durchhörbare Fusion geschaffen, die die Latinpop-Szene immer noch kantig genug bereichert.

Mit dem altvertrauten Team, namentlich Produzent King Coya und Komponist Daniel Martin, integriert die Frau mit der immer leicht wehmütigen Stimme indigene Flöten neben melancholischen Akkordeonlinien („Bailarín“), und rurale Blaskapellen pumpen über dem Schlurfrhythmus („Donde“). Keyboard-Bässe schreiten unter funky Gitarrenriffs, wenn die „Malicia“ zelebriert wird, und in „Todo Yo“ wetteifern schräge Pfeifen und Twang-Gitarren mit einer massiven Perkussionsabteilung. In „Perdedor“ grüßt dann mächtig die House-Kultur.

Aber es geht auch mal mit kompletter Abstinenz von Beats: Geradezu pastorale Holzbläser und ein pluckerndes Saiteninstrument namens Bichito Cordobés schmücken die „Bodas De Plumas“. Und im Finale „Nada“ schickt sie sogar noch eine Spur Flamenco-Rock ins Rennen. Ist das eine neue versöhnliche Brücke zwischen Shakira-Sphäre und dem Underground? Spätestens mit diesem Werk dürfte La Yegros‘ globaler Herrschaft auf den Tanzböden des Sommers jedenfalls nichts mehr im Wege stehen.

© Stefan Franzen

La Yegros: „Bailarín“
Quelle: youtube

Senegal-News II

Faada Freddy
Golden Cages
(Think Zik!/Word&Sound) 

Die Wahlen im Senegal sind gelaufen, erstmals konnte sich im ersten Wahlgang mit Bassirou Diomaye Faye ein Oppositionskandidat durchsetzen. Wir wünschen dem senegalesischen Volk eine friedvolle Machtübergabe. Und was könnte der Soundtrack zu diesem neuen Aufbruch im Land sein? Frisch und aufschwingend ist auf jeden Fall diese Scheibe:

Mit Golden Cages setzt Faada Freddy seine vor sieben Jahre begonnene gospelgefärbte Reise fort. Lediglich geschichtete Quintett-Stimmen, Körperpercussion und geklatschte Rhythmen schaffen mittels Cutting Edge-Produktion eine kompakte Architektur. Die klingt zwar geschliffen aber nicht glatt, eine organisch-vokale Tanzmusik, die die Errungenschaften von Zap Mama, Angélique Kidjo und Bobby McFerrin zugleich ins Jahr 2024 hievt und die Tugenden des klassischen R&B und Soul preist. Die geradezu humanistischen Texte des senegalesischen Ex-Rappers – oft auf Englisch, selten auf Wolof und Französisch – greifen auf Inspirationen zeitgenössischer afrikanischer Autoren genauso zurück wie auf den Montaigne-Freund La Boétie.

© Stefan Franzen

Faada Freddy: „Golden Cages“
Quelle: youtube

Senegal-News I

Aron & The Jeri Jeri Band
Dama Bëgga Ñibi
(Urban Trout Records/Modulor Distribution/Indigo)

Kürzlich hat Altstar Baaba Maal mit einem progressiven Album den Senegal wieder auf die weltmusikalische Landkarte katapultiert. Wie sieht es mit weiteren weltoffenen Produktionen aus dem westafrikanischen Land aus? Mit Aron & The Jeri Jeri Band stellt sich das spannende Duo des Griots und Trommlers Bakane Seck (Chef der Jeri Jeri Band) mit dem neuseeländischen Pianisten und Spezi von Stromae und Woodkid, Aron Ottignon vor. Auf Dama Bëgga Ñibi gelingt den beiden eine charismatische Verflechtung von Wolof-Vocals, komplexen Mbalax-Rhythmen, jazzigen Klaviereinlagen und einem geschmackvollen elektronischen Soundrelief.

Ein Glücksfall im Unglück: Während der Pandemie konnte der in Berlin lebende Ottignon eine Menge gestrandeter Senegalesen in seinem Studio ans Mikro bieten, die über den Trommelspuren von Seck ihre Vocals einflochten. So können wir großartige Stimmen wie die von Ale Mboup und Pape Diouf, ebenso Nachwuchs-Timbres wie Aka Boy und Toufa Mbaye entdecken. Wie weit das Spektrum reicht, hört man, wenn man den Hit „Sunugal“ und das träumerische, latino-soulige „The Return Of The Golden Egg“ gegenüberstellt. Dakar öffnet seine Pforten zur Welt – an der Spree.

© Stefan Franzen

Aron & The Jeri Jeri Band: „The Return Of The GOlden Egg“
Quelle: youtube