Spagat mit Afro-Fiedel

Foto: Stefan Franzen

Sudan Archives
B-Sides-Festival Luzern/CH, 15.06.2018

Das „B-Sides“ oberhalb von Luzern ist wohl eines der relaxten Sommerfestivals der Eidgenossen. Man fährt mit dem Bähnli auf den Sonnenberg hoch, wo ein paar tausend Zuhörer, viele um die Dreißig, Musik auf drei Bühnen zwischen lokalen Helden und globalen Farben vom Libanon bis nach Kenia entdecken. Ein paar wenige gucken Fußball, man genießt Dinkelbier und Bioburger, und nach kurzem Spaziergang sind da nur noch Kuhglocken und Nachtigall. Ein wenig ist es, als habe die Hippie-Ära ihre Nische im digitalen Zeitalter gefunden.

In der hereinbrechenden Nacht wehen ganz spielerische Geigenklänge heran, eine Silhouette mit Afromähne hebt sich aus dem blauen Nebel der Zeltbühne ab, plötzlich kontrastieren harte Beats von der Loopstation mit der Fiedel. Brittney Denise Parks hat ihren Auftritt begonnen, und sie passt in dieses entspannt-experimentelle Setting wunderbar hinein. Parks, die sich als Künstlerin Sudan Archives nennt, inszeniert sich mit wehendem Umhang und apfelsinenfarbenen Hot Pants, im Gegenlicht der Scheinwerfer hat sie etwas von einer Violine spielenden Yoruba-Gottheit, und die Sounds wirken, als wären Erykah Badu und Laurie Anderson eine heiße Liaison eingegangen.

„Am Anfang war alles klassisch, ich spielte im Schulorchester. Später probierte ich irische Jigs aus, aber irgendwann fing ich auch an, mit Sounds auf meinem iPad zu experimentieren“, sagt die 23-Jährige aus Cincinnati, Ohio vor ihrem Auftritt, während wir im kreativen Chaos des Pressebüros sitzen. Die Idee, ihre Geige mit Elektronik zu kombinieren, hat sie einem Afrikaner zu verdanken. „In einem Vinylladen in Hollywood stieß ich auf eine Platte des Kameruners Francis Bebey, und wie er traditionelle afrikanische Musik mit Synthesizern kombiniert, das hat mich sehr beeinflusst.“ Parks vertiefte sich in seine ethnomusikologischen Schriften und entdeckte dank Bebey die Streichinstrumenten-Familien zwischen dem Sudan und Ghana. Die Riffs der dortigen Musiker wurden stilbildend für ihre Songs.

Sudan Archives: „Water“
Quelle: youtube

„Wie sie spielen, ist faszinierend, rau und kratzend, und irgendwie aber doch weicher als die Geiger des Westens“, findet Parks, die eine Goje, eine einsaitige Fiedel der Haussa genauso spielt wie eine E-Geige mit Effektpedalen und eine MIDI-Violine, die es ihr erlaubt, 900 verschiedene Sounds zu erzeugen. Ihr Künstlername ist zum einen geographische Widmung an die archaischen Musiker – zum anderen will sie das „archives“ durchaus auch als Metapher verstanden wissen: „Es geht darum, tief in seiner eigenen Geschichte zu graben und Sachen zutage zu fördern. Jemand hat meine Musik mal als Verkörperung der ‚black history‘ beschrieben. Das finde ich cool“, meint die junge Frau mit nigerianischen Wurzeln, die auch Jimi Hendrix‘ Gitarrenskapaden und den Komponisten Igor Stawinsky inspirierend findet, weil er in der Klassik der Avantgarde den Weg geebnet hat.

Foto: Stefan Franzen

Im Alleingang auf dem Laptop hat sie sie gebaut, ihre „Songs“, und das Wort kommt einem nicht leicht aus der Feder. Denn viele der Zweiminutenstücke auf ihren zwei bislang erschienenen EPs bestehen gerade mal aus ein oder zwei Lyrik-Zeilen, die sie in nonchalanter Neo-Soul-Manier singt, einem gezupften oder gestrichenen Fiedel-Riff, und einem minimalen Geflecht von emblematischen Beats darunter. „Ich sehe sie wie Samen, oder wie diese kurzen japanischen Gedichte, die Haikus“, sagt Parks, „denn sie bestehen ja eigentlich nur aus einer Phrase und viel Raum. Um ehrlich zu sein: Ich hatte beim Aufnehmen keine Ahnung, wie man Musik produziert. Die EPs sind der Ausdruck von totaler Freiheit. Aber aus diesen Samen wird bald ein großer Garten mit vielen Bäumen, Früchten und Gemüse wachsen.“ Sie spielt auf ihr Debüt an, das bald mit Gastmusikern unter dem Namen „Yorubaland“ erscheinen soll.

Vorerst entdeckt man Sudan Archives‘ Musik am besten via youtube. Denn dort sind zu vielen ihrer Stücke großartige Begleitvideos zu finden, die von einer mythischen, elementaren Bildsprache leben, oft in Afrika eingefangen. Es überrascht nicht, dass sie sich in erster Linie als visual artist begreift. „Eigentlich albere ich ja nur ein bisschen mit Instrumenten und Effekten herum, während ich versuche, meine visuellen Ideen umzusetzen. Die Videos sind meine größte Leidenschaft, und langsam habe ich den Bogen raus, wie ich die Bilder in meinem Kopf auch auf der Bühne umsetzen kann.“ Das Luzerner Publikum jedenfalls war von dem Bühnenspagat zwischen afrikanischer Archaik, Neo-Soul und Electronica ziemlich angetan.

© Stefan Franzen

Sudan Archives: „Nont For Sale“
Quelle: youtube

Voices like Bagpipes!

„Legendäre, aber fast vergessene Chorsängerinnen suchen Popstar vom anderen Ende der Welt für zweiten Frühling“. So könnte, ein bisschen ironisch und überspitzt, die Anzeige gelautet haben, die zu diesem Treffen führte. Hier: ein zwanzig Stimmen starker Frauenchor aus Bulgarien, der weltweit Menschen zu Tränen rührt und dessen Mysterium bis heute unerklärlich scheint. Und dort: Eine australische Wave-Ikone, die seit 30 Jahren mit ihrer betörenden Stimme ein Publikum von Gothic bis Weltmusik fasziniert.

„The Mystery Of The Bulgarian Voices“ und Lisa Gerrard von der Band Dead Can Dance:  ein ungleiches Paar oder eine Traumhochzeit? Das habe ich in Köln im Interview mit Lisa Gerrard, der Chorleiterin Dora Hristova und Produzentin Boyana Bounkova versucht herauszufinden.

Der Titel der CD, BooCheeMish, klingt sehr lautmalerisch. Bedeutet er etwas Konkretes?

Boyana Bounkova: „BooCheeMish“, allerdings anders geschrieben, ist der Name eines Folkloretanzes im 15/16-Takt. Einem Stück auf dem Album liegt dieser Tanz zugrunde, das ist „Rano Ranila“. Wir haben ziemlich lange nach einem Namen für das Album gesucht und haben uns dann entschieden, diesen Namen zu verwenden, ihn aber absichtlich falsch zu schreiben und so auf eine Art Freiheit auszudrücken. Denn das ist der Geist des ganzen Albums. Unsere Musik und unsere Kultur kommuniziert darauf mit anderen Kulturen und Musikstilen anderer Kontinente. Wir dachten, wenn wir dieses Wort benutzen, das auf einen expressiven Tanz zurückgeht, dann ist das der Ausdruck von Freiheit. Der Geist des Albums ist dynamisch, groovy, offen.

Dora Hristova, Sie haben den Chor schon einmal 1974 geleitet und dann wieder ab 1988. Wie stellt sich die Arbeit mit den Frauen heute dar,  ohne staatliche Unterstützung und mit der Konkurrenz durch andere Chöre wie Bulgarian Voices Angelite?

Hristova: Heute ist es sehr schwierig zu überleben, eben wegen der Konkurrenz zwischen den Chören. Aber wir versuchen die besten zu sein. Es gibt eine Krise, was das Repertoire angeht. Viele Arrangeure und Komponisten sind nicht mehr am Leben. Es braucht junge Leute, die sich für die Folklore interessieren. Am Konservatorium von Sofia findet die Musikerziehung im westlichen Stil statt. Der Unterricht in traditioneller Musik ist nicht so prominent. Wir haben eine Kunstakademie in Plovdiv, ich habe dort mehr als 10 Jahre unterrichtet. Doch die traditionelle Musik verursacht Schäden an den Stimmen der jungen Sängerinnen. Dazu kommt, dass die Tradition westlich beeinflusst ist und dadurch ihre Originalität verliert. Das sind die heutigen Probleme. Meine Mission war es, die Einzigartigkeit und Ursprünglichkeit dieses Chors, den Stil des Open Throat-Singings und das Repertoire zu bewahren. Vor drei Jahren haben wir die Leute von Schubert Music und natürlich auch Lisa kennengelernt und wir haben probiert, einen neuen Weg zu finden, dieses Nationalerbe, diesen Schatz weiterzuentwickeln. Und ich denke, wir waren erfolgreich! Weiterlesen

Polyphone Offenbarung


Ein weißer Fleck auf der musikalischen Landkarte, gibt es das noch? Tatsächlich lässt sich mitten in Europa noch eine Klangkultur finden, die den akustischen Schatzsuchern weitestgehend entschlüpft war. Wer könnte von sich schon sagen, er wäre mit der Musik des albanischen Südens vertraut? Selbst der Amerikaner Joe Boyd, der seit den 1980ern durch sein Label Hannibal maßgeblich am Aufschwung der Weltmusik beteiligt war, hatte das kleine Land lange Zeit nicht auf dem Zettel.

Der schillernde Produzent war schon in den 1960ern beim Newport-Festival Produktionsleiter, als Bob Dylan zum Entsetzen der Folkies seine E-Gitarre einstöpselte. Er war 1967 für die erste Pink Floyd-Single verantwortlich, wurde Mentor des schwermütigen Songwriters Nick Drake und entdeckte die Folkrocklegenden von Fairport Convention. Seine wilden Sechziger beschreibt er in dem spannenden Buch „White Bicycles“. Im besten Alter, mit 75, hat Boyd jetzt aber noch mal ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen. „Albanische Musik hatte mich schon seit einiger Zeit fasziniert“, erzählt er mir im Interview. „Das lag natürlich auch daran, dass man fast keinen Zugang zu ihr hatte, es gab kaum Platten. Es muss 1986 gewesen sein, dass ich Videos vom großen Festival in Gjirokastra sah. Es schien mir fast surreal: Diese Musiker mit den konischen Hüten, die wehenden Fahnen und die Bergkulisse im Hintergrund. Und dann diese polyphonen Gesänge namens Saze! Für mich war klar, da muss ich hin.“

Doch es dauerte fünfundzwanzig Jahre, bis ihn die BBC-Kollegin Lucy Duran für eine Sendereihe in den Südosten Europas mitnahm. Eine Reise, die für Boyd mehrere Konsequenzen hatte: Er lernte dort seine zukünftige Frau Andrea Goertler kennen, in Albanien für die Gesellschaft für Zusammenarbeit tätig und mit der dortigen Musik bestens vertraut. Zusammen mit ihr und weiteren Experten initiierte er das Projekt Saz’iso, in dem nun die besten Musiker der südalbanischen Polyphonie versammelt und auf einer CD verewigt sind. Die Sessions hat der feinfühlige Jerry Boys geleitet, der auch schon in Havanna den Buena Vista Social Club aufnahm.

Saz’iso: Sessions zur CD „At Least Wave Your Handkerchief At Me“
Quelle: youtube

Was ist nun das Einzigartige an dieser Musik, dem Saze? Auch all die, deren Ohren mit allen Wassern der exotischen Klänge gewaschen sind, müssen beim Lauschen an Stimmen aus einer anderen Welt denken. „Die Kombination eines Borduns mit zwei Stimmen, die sich improvisierend umkreisen, das gibt es meines Wissens nach nirgendwo anders auf dem Balkan“, sagt Boyd. Musikethnologen sprechen von „iso-polyphonisch“. Unter den genauso schneidenden wie warmen Stimmen liegt die Llautë, eine Laute mit Metallsaiten, Klarinette und Geige treten mit verzierungsreichem, schluchzendem Spiel hinzu. Die Instrumentalformen heißen „Vale“ und „Kaba“ – und mit letzterem verbindet sich eine berühmte Entstehungsanekdote: Als ein Mann über den nahen Tod seiner Ehefrau klagte, rief die vom Totenbett: „Hol deine Klarinette und lass sie an deiner Stelle weinen.“ Für uns ist der Gesamteindruck von Saze und Kaba trotz der manchmal tänzerischen Rhythmen in der Tat ausgesprochen melancholisch. “Die Geschichten sind sehr traurig“, bestätigt Boyd.

„Da singt etwa ein Schäfer, den Banditen töten werden, sein Abschiedslied. Emigrantenlieder sind dabei, denn viele Albaner mussten immer ins Ausland, um Arbeit zu finden, und ihre Familie erfuhr dann oft Jahrzehnte nichts über ihren Verbleib.“ Das ist auch ganz konkret der Fall bei den Musikern auf der CD: Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Apparats unter dem Autokraten Enver Hodscha gingen Saz’isos Sängerinnen Donika Pecallari und Adrianna Thanou beide nach Athen, ihre Musikausübung aufrecht zu erhalten, war schwierig. Die männliche Stimme dagegen, Robert Tralo, ist von Berufs wegen eigentlich orthodoxer Priester, tauscht abends das Messgewand für Auftritte bei Hochzeitspaaren, die er kurz zuvor in der Kirche gesegnet hat. „Hodschas Herrschaft war ein zweischneidiges Schwert“, urteilt Boyd. „Er liebte den Saze und förderte ihn, auf der anderen Seite hatte die Musik positiv zu sein, sollte den Sozialismus preisen. Heute gibt es die Zwangsjacke nicht mehr, aber eben auch keine Förderung.“

Der Saze ist von der UNESCO mittlerweile als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Doch wird das seiner Zukunft nützen? Boyd ist verhalten optimistisch: „Die stilbildenden Sänger und Instrumentalisten sind tot. Doch auf den Hochzeiten ist die Musik immer noch lebendig. Die Albaner lieben ihre Volkstradition und schauen nicht auf sie herab wie manche andere Länder, und es gibt auch ein paar junge Musiker, die neben Jazz und Rock den Saze spielen.“ Im Sommer lässt sich dank Saz’iso diese einzigartige Musik nun auf ausgesuchten Festivals auch in unseren Breiten erleben.

© Stefan Franzen
dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Folker, Ausgabe 3/2018

Saz’iso live: Domizil Dortmund, 19.5., Rudolstadt-Festival 6. +7.7.

Saz’iso: „Tana“
Quelle: youtube

Die Humanistin

Es gibt wenige Sängerinnen, die entlang ihrer Lieder und ihrer Interviews eine ganze Welt entwerfen – zwischen Lyrik, Literatur, Geschichte, Politik und Biographie. Die Sizilianerin Etta Scollo gehört zu diesen Sängerinnen, und wer das Glück hat, mit ihr zu sprechen, vergisst die Zeit. Auf ihrem neuen Album Il Passo Interiore bschwört sie einmal mehr die für sie zutiefst menschliche Kraft der Poesie. Sie ist die einzige Hoffnung, die wir  haben, sagt sie.

Signora Scollo, wer zum ersten Mal mit Ihrer Musik in Kontakt kommt, der wird – bevor er sich um die Texte kümmert – zuerst von Ihrer unvergleichlichen Stimme berührt. Wie würden Sie sie selbst beschreiben?

Scollo: Für mich war meine Stimme immer etwas, was mehr mit der Erde zu tun hat als mit der Freiheit oder der Luft. Vielleicht, weil ich als Kind schon große Schwierigkeiten hatte mit ihr. Ich bin in einer Wolke von Nikotin aufgewachsen, mein Vater war Kettenraucher, schon als ich ganz klein war, bekam meine Stimme dadurch einen Belag. Wenn ich etwas sagen wollte, was mir am Herzen lag, war da so etwas wie ein Gewicht auf den Stimmbändern. Ich singe nicht, weil ich dachte, ich habe großes Talent, im Gegenteil. Ich habe nur instinktiv gesungen. Singen ist für mich Arbeit, ich muss immer wieder sehr viel üben. Als ich die Biographie von Frida Kahlo gelesen habe, habe ich sie verstanden, wie sie aus diesem Krüppel-Sein Kunst geschaffen hat. Meine Art, Lieder zu singen, kommt aus diesem fast schmerzhaften Zustand. Ich muss jeden Tag üben wie ein Sportler, der seine Muskeln weich kriegen will.

Aber Sie haben, wie mir scheint, eine sehr passende musikalische Umgebung für Ihre Stimme gefunden, mit Cello, Akkordeon, Mandola, Piano, ein bisschen Klarinette, Perkussion und einem Gesangstrio. Mich erinnert das fast an den Klang von Renaissance und Barock.

Scollo: Die Renaissance- und Barockmusik hat mich mein Leben lang begleitet, und sie fließt in Italien auch oft ein in die populäre Musik. Ich fühle eine gewisse Freiheit in diesen Klängen und Harmonien, mag auch sehr die Idee des „recitare cantando“ aus den Opern: eine singende Erzählung, in der alles miteinander verbunden ist. Es ist wie ein schönes, freies Spiel, und das hat auch wiederum eine Verbindung zur modernen Jazzimprovisation.
Weiterlesen

Von Strickeulen und Zinnhirschen

Der Flirt von indischer Musik mit Jazz und Pop ist mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Eine dritte Generation baut heute Brücken zwischen dem Subkontinent und Europa. Mit Hippie-Ästhetik hat das nichts mehr zu tun, aber nach wie vor mit viel Lust auf Experiment. Wie etwa beim Pulsar Trio aus Potsdam.

Sitarspieler des Dreiers ist Matyas Wolter: Gerade ist er aus Indien zurückgekehrt und kämpft noch mit den mehreren Dutzend Grad Temperaturunterschied. Doch nicht nur klimatisch lebt Wolter zwischen zwei Welten: In Kalkutta widmet er sich der klassischen Tradition, hat Unterricht beim international bekannten Sitar-Meister Subroto Roy Chowdhury genommen, der letztes Jahr gestorben ist. Hierzulande vereinigt er sich mit der Pianistin Beate Wein und Drummer Aaron Christ Pulsar Trio die indische Langhalslaute zu einer ungewöhnlichen Kombination.

Ich nenne es immer mehr eine Fusion von musikalischen Persönlichkeiten als eine Fusion von Musikstilen. Das hatte ich oder auch Beate nie so obsessiv im Sinne, dass wir jetzt unbedingt klassische indische Instrumente und Musik mit westlichen kreuzen wollen. Eigentlich haben wir uns kennengelernt bevor ich anfing Sitar zu spielen, und es gibt auch noch Aufnahmen von Beate und mir, wo ich Schlagzeug und Gitarre spiele. Aber wir waren musikalisch schon so verbändelt, dass wir das dann fortgetragen haben. Das Instrumentarium hat sich halt einfach verändert. Bei mir wurde es dann immer stärker die Sitar, das Andere ist dann immer mehr verblasst.

Zehn Jahre spielen die drei Musiker bereits zusammen, sind mittlerweile mit dem Weltmusikpreis Creole dekoriert. Dieser Tage erscheint ihre dritte CD Zoo Of Songs. Schon nach wenigen Takten des Zuhörens lässt sich erkennen: Das Konzept des Pulsar Trios hat einen anderen Charakter als viele Indo-Jazz-Versuche der Musikgeschichte. Man will die Verschmelzung nicht erzwingen, sondern vielmehr die Unterschiede betonen, mit dem Unvereinbaren spielen.

Ich habe mich relativ fern gehalten von dem Meisten, was man jetzt so landläufig „Fusion-Experimente“ betitelt. Aber die Art des Zusammenspiels und der Musik, die wir im Pulsar-Trio machen, schließt halt total Vieles aus. Die beiden Musiksysteme sind so gegensätzlich, dass es manchmal eine spitzfindige Gratwanderung ist, da Wege zu finden, das zu verwirklichen, ohne beiden Musiksystemen oder dem Instrument nicht die Ehre zu erweisen. Beate ist auch viel aktiv in verschiedenen Projekten, wo sie Pop oder Singer/Songwriter-Musik macht. Beate hat halt einfach auch den Mut zur großen popmusikalischen Geste, der jetzt bei mir oder Aaron vielleicht nicht ganz so vordergründig ist.

Weiterlesen

Von unserer Liebe, unserem Meer, unseren Nächten

Foto: Stefan Franzen

Unter allen Interviews, die ich 2017 geführt habe, war dieses eines der eindrücklichsten: Die katalanische Sängerin Sílvia Pérez Cruz kam Ende August nach Zürich, um dort mit dem Gitarristen Jaume Llombart ein Konzert am Seeufer zu spielen. Am Nachmittag habe ich mit ihr über das neue Werk Vestida De Nit gesprochen, das sie im Mai mit Streichquintett veröffentlicht hat, und auch ein bisschen über ihre Karriereschritte davor. Alex Sanchez hat mir über mein brüchiges Spanisch hinweggeholfen und wunderbar als Dolmetscher fungiert! Ich habe das Gespräch in ganzer Länge bislang nicht veröffentlicht.

Sílvia, unter all deinen CDs ist Vestida de Nit diejenige, die der klassischen Musik am Nächsten steht. Kannst du erklären, was dich als Sängerin daran fasziniert, mit einem Streichquintett zu arbeiten?

Sílvia Pérez Cruz: Zuerst möchte ich sagen, dass ich nicht in Stilen denke, nicht in Begriffen wie klassische Musik oder Rock. Ich denke in Gefühlen und Liedern. Zufällig hörte ich vor ungefähr zehn Jahren ein Streichquartett und ich erinnerte mich daran, dass ich immer schon mal mit einem Quartett singen wollte. Mit dem Kontrabassisten Miquel Angel Cordero und dem Cellisten Joan Antoni Pich hatte ich schon länger in verschiedenen Projekten gearbeitet, und die beiden habe ich gebeten, die übrigen Musiker zusammenzustellen. Der Kontrabass als Ergänzung zum herkömmlichen Quartett erzeugt dabei ein zusätzliches Gewicht und sorgt für reichere Farben. Ich sehe das nicht als klassisches Projekt, und ich bin stolz darauf, wie das Ergebnis jetzt klingt. Wert habe ich vor allem darauf gelegt, dass wir ohne Noten spielen, aus der Erinnerung, und dass wir keine Angst davor haben, auch mal Fehler zu machen, wie das eben in der populären Musik auch der Fall ist.

Für die Arbeit mit dem Quintett hast du auch Lieder ausgewählt, die du schon lange singst. War es dein Bedürfnis, diese Lieder auf ein „höheres“ Niveau zu heben und ein ganz anderes Gesicht zu zeigen, ihre Universalität vor Ohren zu führen?

Pérez Cruz: Die Hälfte der Lieder auf der Platte habe ich schon in anderen Versionen aufgenommen, die andere Hälfte ist neu. Der Grund dafür ist: Ich wollte mich auf ein Repertoire stützen, mit dem ich vertraut bin, sodass ich damit die Freiheit habe, die verschiedenen Klangmöglichkeiten und Dynamik des Quintetts auszuprobieren. Diese Lieder sind flexibel und großzügig, sie gestatten es mir, die Grenzen dieser Besetzung auszuloten, denn die war ja Neuland für mich. Als ich vor fast fünf Jahren mit diesem Projekt begann, war es nur dazu gedacht, in Konzerten gespielt zu werden. Die ersten Songs arrangierten Freunde von mir und ich selbst. Nach dem ersten Konzert stellten wir fest, dass diese Arbeit eine Fortsetzung verdiente. Es kamen dann neue Lieder dazu, auch neue Arrangeure. Ursprünglich sollte es gar kein Album werden.

Das Titelstück wurde von deinen Eltern geschrieben, die Streichquintett-Version ist so intensiv, dass sie zu Tränen rühren kann. Als Kind, so habe ich gelesen, fandest du das Lied langweilig. Kannst du erklären, wie deine Gefühle gegenüber „Vestida De Nit“ sich entwickelt haben, so dass du dich schließlich entschlossen hast, es aufzunehmen?

Sílvia Pérez Cruz & Càstor Pérez: „Vestida De Nit“
Quelle: youtube

Pérez Cruz: Dieses Lied ist so alt wie ich. Die Worte stammen von meiner Mutter Glória Cruz, die Musik von meinem Vater Càstor Pérez. Es ist eigenartig: Dieses Lied war ein Teil meiner Kindheit, wie viele andere. Es hat mich damals nicht bewegt, auf die Dinge, die zuhause passieren, legt man ja nicht so viel Wert, sie scheinen nichts Besonderes zu sein. Kurz bevor mein Vater starb, vor sieben Jahren, haben wir beide ein Konzert in Calella gegeben und Habaneras gesungen. Von diesem Moment an hat sich alles verändert: Die Leute fingen an, nach dem Lied zu verlangen, das Publikum dachte, das wäre ein traditionelles Lied. Auch meine Gefühle haben sich verändert: Ich fand es angenehm, es zu singen, fühlte mich zuhause in dem Lied. Sehr interessant, wie sich die Geschichte dieses Liedes in meinem Leben verändert hat.

Das dazugehörige Video entstand auf Mallorca. Ist das der Ort, der im Text besungen wird? Oder geht es überhaupt nicht um einen konkreten Strand, ein konkretes Meer?

Pérez Cruz: Es ist ein realer Ort, und er erzählt über die Landschaft in meiner Heimat. Aber es handelt sich nicht um einen konkreten Strand, von dem da die Rede ist. Das stammt alles aus der Vorstellungskraft meiner Mutter, es ist ihre typische Art, über das Leben zu erzählen. Sie spricht über die Natur, als wäre sie eine Person. „Vestida De Nit“ erzählt von unseren Seeleuten, unserer Liebe, unserer Landschaft, unserem Meer, unseren Nächten.

Es ist ja auch eine Habanera, und ich bin mir sicher, dass viele Leute in Mitteleuropa diese Form ausschließlich mit Kuba in Verbindung bringen. Doch sie ist auch in Spanien und Katalonien populär.

Pérez Cruz: Die Habanera ist kubanisch. Aber es gab eine Epoche, während der viele Katalanen nach Kuba gingen, und sie haben von dort nicht nur Ideen und Besitztümer, sondern auch Lieder mit zurück gebracht. Die Form und der Rhythmus sind in Katalonien die gleichen, doch die Texte haben sich natürlich verändert. Sie sprechen von ihrer Vorstellung von Kuba. In Kuba war die Habanera nicht sehr erfolgreich, sie ist nicht sehr tanzbar, in Katalonien und anderen Teilen Spaniens dagegen hat sie sich durchgesetzt. Wie sich die Habanera in Spanien während der Sommerfestivals kommerzialisiert hat, das mag ich nicht so sehr. Aber ich mag die Version, wie sie in den Tavernen gesungen wird, das ist authentisch, als würde sich ein kubanischer Matrose mit einem katalanischen unterhalten. So habe ich die Habanera mit meinem Vater gesungen. Er war einer der wichtigsten Erforscher der Habanera, hat in Havanne als Anthropologe dieses Stils gewirkt. Ich habe im Laufe meines Lebens viele Habaneras gehört, sie sind „unter meiner Haut“, aber ich singe nur drei oder vier, es ist nicht mein Hauptstil.

Vielleicht sind sie dir sogar zu nahe, sodass du keine Distanz hast, dass sie zu „heilig“ sind?

Pérez Cruz: Meine Beziehung zur Musik ist so, dass ich nicht über sie nachdenke. Ich habe zuhause Habaneras gehört, habe aber auch Klassik und Jazz studiert. Ich fühle einfach, dass in den Habaneras wunderschöne Melodien stecken, auch wenn ich nicht besonders in diesem Genre drin bin.

Foto: Stefan Franzen

Seit deinem Album 11 De Novembre hast du Stile aus Katalonien, Kastillien, Galicien und Portugal in deinem Repertoire gehabt, aber du bist auch bis nach brasilien, Peru und Venezuela gegangen, so wie etwa auf den ersten drei Songs von Vestida De Nit. Ist es dein Ziel, alle iberischen und lusitanischen Kulturen zu zeigen?

Pérez Cruz: Ich bin mir bewusst über die Unterschiede der Stile und Sprachen in den Liedern, die ich aufgreife. Aber in den letzten Jahren sind mir diese Unterschiede immer weniger wichtig geworden. Ich suche nach den Gemeinsamkeiten in den Liedern, und diese Gemeinsamkeiten sind die Schönheit und die Gefühle. Das macht sie universell verständlich und das ist für mich der Schlüssel zu einem Lied. Wenn ich das fühle, dann ist das für mich eine schöne Entschuldigung, den Text zu lernen, egal in welcher Sprache. Da plane ich vorher nichts. Ich bin Musikerin, wenn es mir gefällt, dann gefällt es mir. In diesem Moment werden die Dinge ganz einfach, das passiert in einer sehr emotionalen Weise. Wenn die Leute zum Beispiel „Olé“ rufen, oder „Yeah!“, dann, weil da eine Wahrheit drin steckt, weil das Gewicht hat.

Das kann vielleicht auch über den Duende gesagt werden, der nicht nur im Flamenco steckt, sondern sich auch in anderen Stilen offenbart.

Pérez Cruz: Ja, die Wahrheit zeigt sich, wenn jemand etwas tut, was er oder sie liebt. Das bezieht sich auf alle Handlungen in deinem Leben, wenn du ein Lied ausprobierst, wenn du singst, wenn du liebst, sprichst, wenn du ein Interview führst.

Das Stück „Loca“, ist das inspiriert von einem Trancezustand oder eher von einer pathologischen Verrücktheit? Du hast deine Stimme da ja übereinander geschichtet, als würden verschiedene Persönlichkeiten im Kopf tönen. Andererseits könnte ich mir das Stück auch getanzt vorstellen, mit Derwischen auf der Bühne…

Pérez Cruz: Das ist sehr gut, was du sagst. „Loca“ begann mit einem sehr konkreten Zustand des Verrücktseins. Ich habe es für ein Theaterstück geschrieben, in dem es um einen Typen ging, der unter Schizophrenie leidet und deshalb diese verschiedenen Stimmen in seinem Kopf hört. Was mir in diesem Stück gefiel, war die Tatsache, dass er sich trotzdem verlieben konnte, auch wenn die Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinem Herzen nicht richtig funktionierte. Über dieses Thema habe ich das Stück geschrieben. In dieser Version mit dem Streichquintett haben wir im Studio improvisiert, denn ich wollte die Verrücktheit eines menschlichen Wesens in der freien, spontanen Gestaltung widerspiegeln. Zum Schluss haben wir dann noch experimentiert und meine Stimme zweifach übereinander geschichtet, um das Thema des Songs im wörtlichen Sinne einzufangen. Der Startpunkt war die Verrücktheit einer anderen Person, die hat mich dann dazu inspiriert, meine eigene Verrücktheit, die nach Liebe und Musik hineinzubringen. Lustig, dass du das mit der Choreographie erwähnst: In Sevilla haben wir das tatsächlich mit einem improvisierten Tanz aufgeführt, mit der Tänzerin Rocío Molina! Und in Arles war sie auch dabei und hat „Corrandes D‘Exili“ getanzt, danach kamen dann tatsächlich Derwische auf die Bühne und haben sie eingeladen mitzumachen.

Sílvia Pérez Cruz & Rocío Molina: „Corrandes d’Exili“
Quelle: youtube

Du hast „Corrandes d‘Exili“ erwähnt, ein Lied des katalanischen Liedermachers Lluís Llach, das du schon lange singst. Ist Llach für dich immer noch ein Symbol der katalanischen Freiheit, und ebenso für die junge Generation Kataloniens?

Pérez Cruz: Die Symbolfunktion hatte er mehr für die Generation meiner Eltern. Aber ich hatte mehrfach die Gelegenheit mit ihm zu singen und deshalb ist er auch ein Teil meines, unseres „Soundtracks“.

Welche Idee steckte hinter der Adaption des Achtzigerjahre-Hits „Lambada“? Der ist ja eigentlich sehr weit weg von der Atmosphäre eines Streichquintetts!

Pérez Cruz: Das ist ein gutes Beispiel, um meine Beziehung zu Liedern und Menschen zu erklären. Wenn ich ein Lied höre, dann bin ich gleich in der Lage, die Schönheit darin zu erkennen. Dieses Lied hat mich schon begeistert als ich ganz klein war. Das ist doch eine so wunderschöne Melodie! (Sie singt.) Ich habe einem Gitarristen, mit dem ich arbeitete, vorgeschlagen, mit mir eine langsamere Version zu versuchen, um diese schöne Melodie noch mehr zur Geltung zu bringen. Dann wollte ich noch mehr Regeln brechen: Mit dem Streichquintett hatten wir in einem klassischen Auditorium unsere Premiere, und ich wollte in diesem Rahmen eine Version von „Lambada“ vorstellen, die nichts mit der Popversion, aber auch nichts mit klassischer Musik zu tun hat. Die erste Version, die ich kennenlernte, war natürlich die Brasilianische, sie spielen das schnell und fröhlich, es ist ein Sommerhit. Erst später hörte ich die bolivianische Version, das Original von „Lambada“, und dann merkte ich, dass da schon mehr Traurigkeit drinsteckt.

Du schließt das Album mit Leonard Cohens „Hallellujah“. Dieser Song ist so oft gecovert worden, von Jeff Buckley bis zu Bon Jovi, es ist sehr schwierig, da noch ein neues Licht draufzuwrerfen. Wie ist dir das gelungen?

Pérez Cruz: Es ist nicht einfach gewesen, diesen Song zu adaptieren. Viele Leute sagten, der gehört nicht aufs Album, denn die ganze Welt hatte ihn vorher schon gesungen. Aber wenn mir ein Song gefällt, dann möchte ich nicht irgendetwas Neues oder Besseres hinzufügen. Ich spüre einfach, dass ich ihn singen MUSS. Bei der ersten Aufnahme, die wir machten, war ich nicht zufrieden mit meiner Interpretation und wir haben sie erst mal beiseite gelegt. Kurz nachdem Leonard Cohen starb, war ich mit meinem Toningenieur Juan Casanovas im Studio. Ich sagte ihm, wir sollten dem Song eine neue Chance geben. Ich fühlte, dass ich es aus einer anderen Perspektive versuchen sollte, nicht aus der eines alten Mannes, der Alkoholiker ist und das Lied nachts anstimmt, dieses Gewicht habe ich nicht. Ich sang es in meiner Weise und ich sang es für Leonard Cohen, aber auch von Leonard aus, ich sang es für die Freude am Leben, und die Freunde im Leben. Das Lied kam plötzlich von einem ganz anderen Ort, und zwar von einem sehr emotionalen.

Sílvia Pérez Cruz: „Hallelujah“ (live)
Quelle: youtube

Du bist geboren und aufgewachsen in Katalonien, hast dann Jazz studiert, Flamenco gesungen. Würdest du sagen, dass auch noch heute in deinem Gesang etwas typisch Katalanisches zu finden ist?

Pérez Cruz: Als ich jung war, haben mich die Leute aus meiner Region gefragt: „Woher kommst du? Aus Andalusien?“ Und ich sagte: „Nein, ich bin von hier!“ In der Stimme liegt Vieles: Sie ist nicht nur ausschließlich etwas Physisches oder etwas Territoriales. Was ich sagen kann: Ja, meine Stimme ist eine iberische Stimme. Da ist etwas in den Stimmen der Großmütter und Urgroßmütter, die traditionelle Lieder gesungen haben, das nicht nur Fado oder Flamenco ist, und ich glaube, das habe ich in meiner Stimme auch.

Es gibt im Internet Clips aus deiner Konzertreihe Concerts Privats, wo du mit den Gitarristen Raúl Fernandez Miró und Mario Mas singst, und ich habe immer den Eindruck, dass das niemals die herkömmliche Gruppierung von Sängerin und Begleiter ist, sondern ein Dialog. Hast du das auch bei den Streichern angestrebt, sie nicht anzuführen, sondern auf Augenhöhe zu agieren?

Pérez Cruz: Ja, wie gut, dass du das siehst. Genau so gehe ich Musik an. Ich bin eine Musikerin und bin mit Musikern groß geworden. Ich muss fühlen, dass da auch eine Person jenseits des Musikers oder der Musikerin ist. Es muss eine kleine Gemeinschaft auf der Bühne entstehen. Ich bin mir bewusst, dass ich die Leaderin bin, aber jeder in der Gruppe muss seine Rolle haben, auch seine Freiheiten. Nur so kommt ein Dialog zustande zwischen diesen Personen.

Als Deutscher muss ich das fragen: Für dein Album Granada hast du zwei Lieder von Robert Schumann aufgenommen, mit einer fast schon experimentellen Gitarre: Wie bist du auf den Liederzyklus Dichterliebe aufmerksam geworden?

Pérez Cruz: In diesem konkreten Fall habe ich sie über meinen Gitarristen Raúl kennengelernt, seine Mutter hat diese Lieder viel gehört. Er hat sie eines Tages zum Mittagessen mitgebracht, sie dort vorgespielt und ich habe sie sofort gemocht und wollte sie selbst singen. Die Melodie von „Im wunderschönen Monat Mai“ ist sehr gefühlsbetont. Was den Text angeht: All diese Texte sprechen von den gleichen Sachen, von Liebe, von Frühling, von Tod. (Sie singt). Für mich ist diese Melodie universell! Und deshalb kannst du sie auf sehr verschiedene Art und Weise singen.

Und zum Abschluss eine zweite „deutsche Frage“! Das Eröffnungsstück aus 11 De Novembre nennt sich „Lietzenburgerstraße 1976“. Wie kamst du dazu, eine Hommage an eine Straße in Berlin zu singen, und dann auch noch versehen mit einem Datum, das vor deiner Geburt liegt?

Pérez Cruz: Das ist kein Gedicht von mir, das stammt von Feliu Formosa. Wenn ich ein Gedicht lese, dann fühle ich die Musik, komponiere schon in meinem Kopf. Ich stellte mir eine kleine, romantische, idyllische Straße vor, auf der sich eine Liebesgeschichte abspielte, fast mit einem Pariser Flair. Später, als das Lied schon aufgenommen war, war ich in Berlin und habe mich zur Lietzenburgerstraße durchgefragt. Ich kam dort an, und es stellte sich heraus, dass es eine total unpersönliche, industriell geprägte Straße war, und ich merkte, dass die Geliebte im Gedicht doch eigentlich eine Prostituierte ist. Aber so ist Kunst! Du kannst sie auf deine Weise interpretieren und etwas völlig Anderes kommt heraus.

Zwei Monate nach dem Interview habe ich Sílvia Pérez Cruz im Teatro Municipal Girona in einer atemberaubenden Show nochmals live gesehen, dieses Mal mit dem Quintett. Zum Abschluss des Interviews teile ich ein Stück aus dem Vestida De Nit-Repertoire, das sie vor kurzem auf youtube veröffentlicht hat – eine Hommage an den großen Flamencosänger Enrique Morente.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Estrella“(Live)
Quelle: youtube

Das Schöpfen aus der Stille

Foto: Anna Day

Unter den Schweizer Jazzstimmen ist sie eine der rührigsten. Zu Lisette Spinnlers herausragenden Markenzeichen gehörte bislang ein virtuoses, verspieltes auch mal exaltiertes Singen in einer Fantasiesprache. Nun meldet sich die Liestalerin mit einer Musik zurück, die sie ganz aus der Stille geschöpft hat.

Lisette, der Titel deines neuen Albums Sounds Between Falling Leaves passt herrlich in die Jahreszeit. War es geplant, das im Herbst zu veröffentlichen?

Spinnler: Tatsächlich hat es gar nichts mit dem Herbst zu tun! Sondern vielmehr mit dem Suchen und In-die-Stille-Gehen. Der Titel ist eigentlich eine Metapher für die Zeit, in der ich das Album geschrieben habe. Ich habe mich zurückgezogen, war viel in der Ruhe, habe in den Nächten komponiert, mich mit Themen wie Krishnamurti, Meditation, und Yoga beschäftigt, auch mit Gedichten. Das „Between“, die Mitte, in der man nichts sieht, die Stille, in der man etwas sucht, was nicht direkt vor Augen ist, das spiegelt die Musik wider, die auf der CD ist.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das dich veranlasst hat, diesen Weg der Stille einzuschlagen?

Spinnler: Eigentlich kam das nach der Geburt meiner ersten Tochter. Weil ich mehr zuhause war, spielten die Ablenkungen von draußen, die Eindrücke vom Unterwegs sein keine so große Rolle mehr. Bis dahin hatte ich oft sehr virtuose Musik gemacht, die Stimme als Instrument eingesetzt mit Fantasie-Silben. Jetzt setze ich mich mit Worten auseinander, auch auf Englisch. Ich spürte, ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich Neues schöpfen möchte, und das gelang mir, indem ich ganz in mich hineinging. Ein langer Weg.

Worin besteht für die Stimme denn die besondere Herausforderung, wenn man von den vielen Tönen zu den wenigen geht, und diese dann sehr souverän und mit großer Inspiration singt, ohne dass es sich schal oder langweilig anhört?

Spinnler: Eigentlich ist es die Auseinandersetzung mit der Sprache. Man fühlt genau, wo die einzelnen Wörter im Mund sind und was die Stimme damit macht, die dann darauf gelegt wird. Ich finde es spannend, in die englische Sprache reinzugehen, die ja nicht meine Muttersprache ist. Das ist immer wie ein Fremdkörper, den ich näher und näher zu mir bringen wollte, ohne nur an der Oberfläche zu tanzen. So entstanden die Melodien. Und dazu kommt: Da ich die Musik am Klavier komponiert habe und eigentlich keine Pianistin bin, habe ich Akkorde gelegt, auch das in einem Kontext großer Ruhe.

Neben deinen eigenen Texten hast du zwei Poems von Emily Brontë vertont. Was zieht dich so an bei dieser englischen Dichterin des 19. Jahrhunderts?

Spinnler: Ihr Bezug zur Natur, der fasziniert mich ganz besonders, denn ich selbst bin sehr naturbezogen aufgewachsen. Während andere Party gemacht haben, bin ich als Teenager stundenlang allein im Wald unterwegs gewesen. Doch dieser dunkle Zugang, den Brontë hatte, ist eigentlich in mir nicht so drin. Melancholie habe ich erst später erfahren, als eine Melancholie der Schönheit, als Ruhepol und nicht als Traurigkeit. Ich hatte zum Glück noch nie Depressionen, ich habe das Sonnen-Gen geerbt!

Es gibt ja auch lebhafte Stellen auf dem Album, wo du nach wie vor in deiner Fantasiesprache singst.

Spinnler: Ja, denn diese verspielten Melodien sind nach wie vor in mir drin. Die kann ich komponieren, egal, wo ich bin, beim Einkaufen oder unterwegs, ohne Klavier, einfach mit ein paar Claps und die Stimme improvisiert darüber. Das ist etwas, was mich nie loslässt, es ist das Kind in mir drin, das immer wieder ganz stark nach vorne kommt.

Du arbeitest auf dem Album mit deinem Quartett, Musiker, mit denen du schon seit längerem zusammen spielst. Was macht dieses Ensemble so einzigartig?

Spinnler: Mit ihnen ist es musikalisch und menschlich eine runde Sache, sie lassen mir viel Platz und sie hören mir zu. Stefan Aeby ist ein Poet am Klavier. Ich wusste, wenn ich diese Poems bringe und meine eigenen Lyrics mit ihm spiele, dass er das sehr gut versteht. Patrice Moret am Bass ist die Erde pur für mich, und noch tiefer ins Magma hinein, dort befindet sich sein Spiel. Er spielt nie aus Ego-Trips heraus, ist aber zugleich sehr innovativ. Michi Stulz ist ein wunderbarer Free-Player am Schlagzeug, er lockt die Band, er möchte, das wir auf die Äste rausgehen. Vor allem live werden das die Leute sehen. Diese drei haben einen Flow kreiert, in dem ich mich auch mal gerne ganz zurücknehmen konnte.

© Stefan Franzen

Lisette Spinnler: „The Night is Darkening Around Me“ (Teaser)
Quelle: youtube

Album: Sounds Between Falling Leaves (VÖ 17.11., Neuklang)
Live: Gare du Nord Basel, 10.11.

 

Bei Heitor, Edvard & Manuel: Allein zuhaus‘

Etliche Staaten der Erde rühmen sich eines Nationalkomponisten. Das ist oft dann der Fall, wenn es in den betreffenden Ländern gerade mal einen Meister gibt, der einen nationalen (nicht zwingend patriotischen) Ton geschaffen und womöglich mit seiner Popularität auch die Landesgrenzen durchdrungen hat. Einer, auf den man also besonders stolz sein kann. Diese Lichtgestalten tragen zum Teil klingende Namen wie Bela Bartók, Jean Sibelius oder Mikis Theodorakis.

Doch es geht auch anders: Zugegebenermaßen werden vom Schweden Hugo Alfvén, dem Bulgaren Pantcho Vladigerov oder dem Mexikaner Manuel Maria Ponce über Stockholm, Sofia und Mexiko City hinaus doch eher nur ausgebuffte Klassikfreaks etwas vernommen haben. Dass diese Komponisten aber in ihrer Heimat, wenn nicht überirdischen Glanz besitzen, so doch mindestens hohe Wertschätzung erfahren, zumindest einige ihrer Landsleute die Wirk- und Wohnstätten pilgernderweise heimsuchen, sollte sich da von selbst verstehen. Oder etwa doch nicht?

Der Zufall, nein, ich korrigiere mich sofort, fast immer vorsätzliche Planung wollte es so, dass ich in den letzten 15 Jahren in ganz verschiedenen Weltgegenden drei Mal Institutionen und Wohnhäuser von Nationalkomponisten besuchte. Ich zähle diese eher zur Kategorie der altvertrauten Namen. Dabei habe ich einen zweifelhaften, traurigen Ruhm erworben: Ich war in allen drei Fällen der einzige Gast weit und breit.


Rio de Janeiro (BRA), Ende September 2002


An einem brennend heißen Frühlingstag entschloss ich mich, während der Rush Hour das Museu Villa Lobos im Stadtteil Botafogo aufzusuchen, um etwas durchzuschnaufen. Die Institution ist nicht zu übersehen, sie liegt als stattliche Villa an einer der Hauptverkehrsstraßen. Ohne Zweifel haben die Betreiber, was Forschung, Archivierung und Organisation von Konzertereignissen angeht, großartige Arbeit geleistet, um das Werk von Heitor Villa-Lobos für die Nachwelt zu erschließen. Doch die Präsentation seiner Vita? Von meinem Besuch sind mir nur noch kleine Bruchstücke im Gedächtnis verblieben, das lässt tief blicken. Ich erinnere mich an zwei kläglich ausgestattete Räume mit Memorabilia wie ein paar Schriftstücke, Hut und Spazierstock. In einer Vitrine fristete traurig und verloren das Cello des großen Meisters sein nun ungespieltes Dasein.


Die portugiesischen Schautafeln konnte ich nicht lesen: Weniger aus mangelnder Sprachkenntnis, sondern vielmehr, weil die beiden Bediensteten sich in Saallautstärke unterhielten. Wie in jedem brasilianischen Museum, das ich besucht habe, sind es deren stets zwei. Niemals mehr – doch sie haben sich viel zu erzählen. Beim Rausgehen habe ich, glaube ich, „muito impressionante“ ins Gästebuch geschrieben. Das war eine freundliche Lüge. Vielleicht, weil ich Mitleid mit dem beim 36 Grad vor sich hin schwitzenden Cello hatte.

Bergen (N), 13. Januar 2009



Eine denkbar entgegengesetzte Szenerie: Perkussionist Terje Isungset hatte mich eingeladen, die Konzerte seines Ice Music Festival im norwegischen Geilo oben auf dem Fjell zwischen Oslo und Bergen journalistisch zu begleiten. Am letzten Tag war es schon damals dank Erderhitzung so warm, dass die musikalischen Artefakte aus Eis einfach wegschmolzen. 1000 Meter tiefer, in Bergen nahe zum offenen Meer, herrschte nach dem Festival noch wüstere Witterung: Sturm und Dauerregen bei ca. 15 Grad. Ideal also für einen Besuch im Anwesen Troldhaugen (sprich: trullheugen), Edvard und Nina Griegs Heim mit angegliedertem Komponierhäusl in stilechtem Walblutrot. Die Touristenströme, die Griegs Wohnhaus im Sommer erlebt, waren im Januar gänzlich versiegt. Und so kam ich in den Genuss einer Exklusivführung von einer profund informierten Dame, durfte nach dem Gang durch die behaglichen, hölzernen Räumlichkeiten schließlich noch in der Hütte am Fjord sitzen.


Und mich in die Gefühlswallungen des Norwegers hineinversetzen, die er während des Blicks hinaus aufs Wasser beim Schaffen wohl hatte. Dort konnte er sich auch prima verstecken, wenn ein ungebetener Gast, etwa der in der Nachbarschaft residierende Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, das Anwesen aufsuchen wollte. Am meisten beeindruckt hat mich Griegs Statue in Lebensgröße (siehe oben): Als Nationalkomponist kann man durchaus ein Winzling sein.

Granada (E), 24. Oktober 2017

Was auch auf den dritten im Bunde zutrifft: den 1 Meter 55 großen Manuel de Falla. Da dieser Besuch erst einige Tage zurückliegt, kann ich hier viel mehr aus der Erinnerung schöpfen. Von den drei Visiten bei den Meistern war diese im andalusischen Granada mit Abstand die schrulligste. Eigentlich war sie gar nicht vorgesehen, aber bei einem Konzert ein paar Tage zuvor im Auditorio Manuel de Falla mit der Flamenco-Sängerin Argentina, die unter anderem De Falla-Werke auf ihre Weise neu belebte, hatte ich entdeckt, dass direkt neben der Konzerthalle seine Casa liegt. Ein Katzensprung entfernt zur Alhambra übrigens. Also kletterte ich an meinem letzten Tag in Granada nochmals den Hügel rauf. Manuel de Falla wohnte von 1921 bis zu seiner Auswanderung nach Argentinien in diesem Carmen und hatte eine grandiose Aussicht:

Da kann man schon mal schöpferisch werden. Im Gegensatz zu Heitor Villa-Lobos und Edvard Grieg, mit deren Werken ich einigermaßen gut vertraut bin, sind mir Manuel de Falla und sein Schaffen ein Buch mit sieben Siegeln. Ich nehme es vorweg: Daran wird sich auch nach dem Gang durch die Casa nicht so schrecklich viel geändert haben. Vorerst aber steuere ich voller Vorfreude auf neue Erkenntnisse die blaue Eingangstüre an, die mich darauf hinweist, dass gerade eine Führung im Gange sei, ich einige Minuten warten solle. Ich genieße also die südspanische Herbstsonne und das kühle Lüftchen von der Sierra Nevada herunter. Nach vielen Minuten ziehe ich dann doch mal am zierlichen Glöcklein. Eine knarrende Luke öffnet sich alsbald, und ein freundliches Männlein bedeutet mir, noch zwei Minuten Geduld zu haben. Dann tut sich die Türe auf.


Unmittelbar stehe ich in Manuel de Fallas Küche und werde nach meiner Provenienz gefragt. Deutschland? „I never left Spain“, sagt der Führer bedauernd und beginnt seinen Exklusivvortrag für mich auf Englisch. Angesichts der Kücheneinrichtung wird mir zuerst mitgeteilt, dass Manuel de Falla nie geheiratet hatte und seine Schwester ihm den Haushalt führte. Doch dann der Hinweis auf eine Schwarzweiß-Fotographie mit einer distinguierten Dame: „Girl friend. How do you say in German?“ „Freundin“, sage ich, und mein Guide schnalzt entzückt mit der Zunge. „Fr-eeuun-din, beautiful word!“ Er wiederholt das dreimal und will genau den Unterschied zwischen Freundin und Frau wissen.

Es dämmert mir rasch, dass er mit seinem Wissen vielleicht nicht gänzlich in die Tiefen von De Fallas Werk vorgedrungen ist. Doch im Stiegenhaus, im Arbeitszimmer für den Winter und in dem für den Sommer kann er dafür jedes Bild an der Wand benennen, mich auf eine Kopie von Matisse, Zeichnungen von Picasso, Porträts von Rossini hinweisen. „War Rossini denn sein Vorbild?“ „No, Wagner“, gibt er mir zu verstehen. Im Salon ein schmucker Tisch, an dem der Tondichter mit Freunden gesessen hat, unter ihnen der berühmte Gitarrist Andrés Segovia.

Wir betreten die Schlafkammer: neben seinem Bett ein Haufen trübe Fläschchen und angegilbte Schächtelchen. „Hypochonder“, verrät El Guía. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, das wird mir jetzt etwas zu intim. „Aren‘t we all hypochonders?“, fragt er dann und hält eine Flasche hoch, die er als das erste Prozac der Welt preist, und dann auch noch aus Europa! Im Winter-Arbeitszimmer ist eine Art Bastmatte vor die Wand gestellt. „Feuchtigkeit“, bedeutet mit der Führer mit genussvollem Auskosten des „eu“. Seine Vorliebe für dieses germanische Dipthong ist unverkennbar. „Trullheugen“ und „Komponierheusl“ – diese Worte würden ihm auch gefallen. Ich erfahre dann noch, dass Manuel de Falla ein Dandy war, der sich immer akkurat kleidete.

Im Sommerarbeitszimmer mit dem guten Klavier – wir haben inzwischen in ein sehr, meinerseits, radebrechendes Spanisch gewechselt – wird mein Begleiter wehmütig. Er deutet hinaus, dort, wo in der Ferne eine Wolkenbank auf der Ebene liegt. „El mar, y después… Marruecos.“ Doch er habe ja nie Spanien verlassen. Und mit 44 sei es jetzt schwierig, eine andere Sprache zu lernen, vielleicht werde er eine Stelle als Mathematiklehrer in Irland antreten. Die deutsche Grammatik hingegen sei ihm viel zu kompliziert.

Dann öffnet er eine weitere Tür, von der eine steile Außentreppe hinunter nach Granada führt. Es sei besser, hier hinauszugehen. Er scheint es eilig zu haben, mich zu verabschieden, vielleicht hat am Eingang wieder jemand die Glocke geläutet. Doch er will noch mal wissen: „Freundin: not married. Frau: married. Right?“ Ich bestätige das und gehe immerhin mit dem Wissen von dannen, dass Manuel de Falla dank seiner von den unmusikalischen Eltern als brotlos erachteten Kunst immer nur eine heimliche Geliebte haben durfte. Zuhause besucht habe ich ihn jetzt ja schon mal. In sein Werk und seine Biographie werde ich mich bald ausgiebig vertiefen.

Fotos 4 – 6, 8, 10 & 11 Stefan Franzen

Ich kann den Besuch in de Fallas Anwesen nur wärmstens empfehlen: Mit wie viel Detailliebe die Spanier die Lebensumstände ihrer Ikone nach wie vor pflegen, kann man nur als vorbildlich bezeichnen – sie haben sogar sein Prozac aufgehoben. Eine spannende Zeitreise in die Jahre 1921-1939. Ja, spätestens wenn man am Eingang zur Alhambra feststellt, dass man vielleicht doch besser Karten ein paar Wochen im Voraus bestellt hätte, kommt dieses alternative Besichtigungsprogramm sehr gelegen!

Als Nächstes würde ich gerne Maurice Ravels Haus in Montfort L‘Amaury besuchen – er hat fast genau zur gleichen Zeit dort gelebt wie de Falla in Granada. Und ein Dandy und winzig war er ebenfalls. Dass ich im Belvédère allerdings allein sein werde, ist so gut wie ausgeschlossen: Es werden dort nur Gruppenführungen angeboten.

© Stefan Franzen

Paddy Bush II: Schmuse-Instrumente und ein Phönix

                                              Paddy Bush nach dem Vortrag in Aarau, Foto: Stefan Franzen

Die Schlusstakte von „The Red Shoes“ verklingen, Paddy beantwortet ein paar Fragen und ich blicke unruhig auf meine Uhr. Er sei etwas müde, denn um in die Schweiz zu kommen, war er sehr früh aufgestanden, hat man uns am Anfang schon gesagt. Zudem hat er deutlich die vorgesehene Zeit seines Vortrags überschritten. Im Geiste schreibe ich das versprochene Interview schon ab, oder stelle mich darauf ein, dass ich mich mit einem Viertelstündchen begnügen muss.

Doch nach etlichen Handshakes und Selfies mit den Gästen stellt mich Eva Keller ihm vor, und er setzt überhaupt keine zeitliche Begrenzung. Er hat nur eine Bitte: Eine Tasse Tee möchte er gerne haben. Und so sitzen wir in gemütlichen Ledersesseln in einem hohen Raum mit einem bemalten Fries unter der Decke und starten. Vielmehr: Paddy startet, denn wie sich schnell herausstellt, kann man diesen unvergleichlichen Geschichtenerzähler wenig lenken und erst recht nicht stoppen. Aus dem befürchteten Viertelstündchen werden sagenhafte 70 Minuten, während derer ich meinen Fragezettel bald wegwerfe und einfach zuhöre.

Wie wir auf das Eingangsthema kommen, ist mir im Nachhinein schleierhaft: Weit holt Paddy aus über die Unterschiede des Musizierens zwischen den 1920ern und 1960ern. Die Uilleann pipes, der irische Dudelsack und die sardischen Launeddas klängen auf alten Aufnahmen sehr kantig, Staccato-haft, sagt er, in den Sechzigern sei dann plötzlich ein Flow in die traditionelle Musik hineingekommen, an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander. Ein Bewusstseinssprung, wie mit den Affen, die Kartoffeln waschen, werfe ich ein. Ja, oder wie mit den Schafen in Wales, die gemerkt haben, dass sie über das cattle grid rollen können und dann in die Gärten der Nachbarn eingedrungen sind, um sie zu verwüsten, meint Paddy. Das wird ein lustiges Gespräch, denke ich mir. Und nutze eine Sekunde, in der er am Tee nippt , um ihn zu fragen, wie er denn ursprünglich zur Musik gekommen ist.

Bush: Auf der Seite meiner Mutter gab es viele traditionelle Musiker aus Irland. Mein Großvater war auch ein Instrumentenbauer. Sie waren arm, um also Zugang zu bestimmten Dingen zu bekommen, mussten sie sie selbst herstellen. Und ich vertrete die gleiche Sichtweise: Einige Dinge, an die du nicht rankommst, musst du dir eben selbst bauen.

Keltische Musik war also der Startpunkt für dich?

Bush: Es war das Folkrevival der 1960er, das für mich den Ausgangspunkt bildete. Ich machte meine erste Feldaufnahme von traditioneller englischer Tanzmusik als ich dreizehn war. Ich hatte ein Tonbandgerät, das unglaublich viele Batterien verbrauchte, aber Aufnahmen von fantastischer Qualität machte. Das war noch das Zeitalter vor den Kassettenrekordern. Ich habe traditionelle Musik immer geliebt und hatte immer eine sehr fixierte Sicht auf Musik als die einzig wahre Religion. Aber es kamen eben immer wieder Dinge vorbei, die meinen Glauben komplett zerstört haben. Weiterlesen

Paddy Bush I: Ein Zither-Gott und königliches Theater

Paddy Bush
„The Beauty & Complexity of Malagasy Music“

Forum Schlossplatz Aarau, 21.09.2017

Bis in die letzte Stuhlreihe ist der kleine Saal im Forum Schlossplatz besetzt. Als ein „Ort der Reflexion und Debatte“ stellt sich die seit 1994 im schweizerischen Aarau bestehende Einrichtung dar. Das Publikum soll hier “zur Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart“ angeregt werden. Dafür haben die Macher aber auch wirklich eine schöne Stätte gefunden: eine Villa, die hoch über der Aare thront, am Eingang zur Altstadt der Aargau-Metropole mit ihren trutzigen Häusern. Was hier gleich passieren wird, darauf weisen in diesem schönen Saal mit seinen knarrenden Dielenböden und dem Kronleuchter zwei Dinge hin: Vorne, auf einem kleinen Podest, ruht ein länglicher Metallkasten mit Saiten, den man als Experte vielleicht als die Zither Marovany erkennt. Und an der Wand ist eine kleine Karte von Madagaskar festgepinnt.

Von hinten erschallt ein „Good Evening“ und ein Mann mit grauem Wuschelkopf nimmt im Schneidersitz an der Marovany Platz. Im nächsten Moment ist der Raum erfüllt von filigranen Tongirlanden, die nicht nur Weltmusikfreaks bekannt vorkommen. Auf Kate Bushs Alben The Sensual World und The Red Shoes kann man solche auch entdecken. Kein Wunder, denn besagter Herr mit dem grauen Wuschel und dem fast zarten Lächeln ist ihr Bruderherz Paddy Bush. Klar, er hat sich schon ein wenig verändert, seit er in der Fernsehfassung des Songs „The Wedding List“ den Bösewicht spielte oder auf den Werbefotos für The Red Shoes posierte, doch man erkennt ihn sofort. Was um Himmels willen tut er mitten in der Schweiz? Die Antwort ist denkbar einfach: Er möchte Begeisterung wecken für seine größte Leidenschaft seit Jahrzehnten, die Musik Madagaskars. Weiterlesen