Das Drehbuch schrieb der Ozean

Charles Maimarosia

Liebe Freund*innen!

Heute wird dieser Blog fünf Jahre jung.  Ich möchte das nachdenklich feiern – mit einem Thema, das nur auf den ersten Eindruck weit weg sein mag, aber uns alle angeht. Es geht um Musiker, deren Heimat auf der anderen Seite des Planeten liegt: Sie kommen aus Rapa Nui, Aotearoa, Taiwan, den Salomonen, Sarawak, Madagaskar und vielen weiteren Inselgebieten des Pazifischen und Indischen Ozeans. In einem weitverzweigten Projekt zeigen uns diese 50 Musiker*innen die Stärke der austronesischen Kultur und die Verletzlichkeit der Weltmeere und des Regenwalds. Small Island Big Song ist nicht nur eine bunte exotische Show. Es ist ein letzter Appell an uns alle.

„Manche sagen, der Ozean trennt uns. Wir sagen: Der Ozean vereint uns.“ So steht es auf der Leinwand des Rudolstädter Theaters, auf der Clips aus dem Pazifischen und Indischen Ozean laufen. Eine Reise durch Inseln und Riffe, durch den Regenwald, entlang von Flüssen, Reisfeldern und in Dörfer der Ureinwohner, durch die Habitate von Leguanen und Lemuren. Davor, auf der Bühne, ein verwirrend vielschichtiges Geschehen: Neun Musiker in leuchtend bunten Kleidern, mit großartigem Kopfschmuck und Körperbemalung vereinen sich zu kraftgeladenen, mal archaisch beschwörenden, mal fast poppigen Chorgesängen. Doch da sind auch zarte Elemente, Mondlieder, Lullabies, das Hauchen von Nasenflöten. Eine Vielzahl an Schlaginstrumenten, Muschelhörnern, Pan Pipes, Schwirrhölzern, Zithern und Lauten kommt zum Einsatz, untermalt wird die Musik von Natursounds, Vogelgesang, dem Gluckern von Wasserläufen, und immer wieder: dem Tosen der Wellen. Doch der Ozean ruckelt. Via Laptop eingespielt vom australischen Musikproduzenten Tim Cole setzt das Brausen immer wieder für Sekundenbruchteile aus, als wolle sich dieser gewaltige Sound mit keiner noch so großen Rechnerleistung einfangen lassen. Und irgendwie ist das auch ein unfreiwilliges Symbol dafür, dass mit unseren Weltmeeren etwas nicht stimmt.

Was sich hier beim Rudolstadt Festival abspielt, ist eine genauso eindrückliche wie friedliche Machtdemonstration einer der ältesten Kulturen der Menschheit. Es ist zugleich die mit dem größten Territorium überhaupt und mit der sechstgrößten Sprachfamilie der Erde. „Small Island Big Song“, kurz SIBS, nennt sich das Projekt, in dem Cole und seine taiwanesische Frau, die Projektmanagerin BaoBao Chen indigene Musiker aus Rapa Nui (Osterinsel), Aotearoa (Neuseeland), den Salomonen, Taiwan, Sarawak (Nordborneo), Madagaskar und vielen weiteren Inseln zusammenbringen. „Es ist faszinierend, dass vor 5000 Jahren, also vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden, eine Gruppe von Menschen die Technologie, Navigationskunst und den Mut besaß, von Taiwan aufs offene Meer hinauszufahren“, sagt Cole. „Für sie muss das gewesen sein wie für uns heute eine Reise zum Mars.“ Die austronesische Kultur – zu ihr zählen unter anderem Poly-, Mela- und Mikronesien – hat sich bis 1100 nach Christus immer weiter im ganzen Pazifik und Indik verbreitet, von den Philippinen über Malaysia nach Madagaskar, von Fidji über Tahiti bis nach Hawaii und Rapa Nui, zuletzt nach Neuseeland – über 22.000 Kilometer. Das Drehbuch ihrer Geschichte schrieb also gewissermaßen der Ozean selbst.

Zumindest den Älteren von uns hat man im Schulunterricht beigebracht, dass der portugiesische Entdecker Fernando Magellan, dessen Erdumsegelung sich gerade zum 500. Mal jährt, als Erster den pazifischen Raum durchmessen hat. Es ist längst überfällig, diese eurozentrische Perspektive über Bord zu werfen. „Noch heute haben wir überall ähnliche Wörter für die Zahlen“, sagt Charles Maimarosia, der den Are’Are von der Salomoneninsel Malaita angehört. Der Sänger und Spieler von Pan Pipes und mannshoher, getrommelter Bambusrohre, ist zum Interview im Heinepark mitgekommen. Eben noch mit muschelbesetztem Outfit auf der Bühne des Kinderfestes, fröstelt er jetzt mit Pullover und Baseballkappe im kühlen Sommerwind. „Auch die Wörter für andere, täglich verwendete Begriffe wie ‚Augen‘ (‚mata‘) sind überall gleich. Wir wollen nicht unsere Unterschiede herausstreichen, sondern unsere Gemeinsamkeiten. Und die Musik ist Teil der Menschheit, seit sie existiert.“ Die Vielfalt in der Gemeinsamkeit zu feiern: Das ist die Philosophie des Projekts Small Island Big Song. Doch die koordinierende Kraft dafür kam wie so oft bei Weltmusikprojekten nicht von den Indigenen selbst.

Niedergeschlagen von den Berichten darüber, wie sich Erderhitzung und Plastikvermüllung auf die Ozeane auswirken, beschlossen BaoBao Chen und Tim Cole vor vier Jahren, ihre Organisationstalente zu nutzen und auf die düsteren Zukunftsaussichten mit einer kulturellen Gegenkraft zu antworten. „Wissenschaftler liefern seit Langem Fakten und Lösungen, aber niemand hört richtig zu“, sagt Chen. „Wir haben die Gabe, mit den Musikern eine Geschichte zu erzählen, und wenn wir so die Menschen übers Herz ansprechen, können wir vielleicht eine nachhaltigere Veränderung anstoßen.“ Immer wieder fällt im Interview ein Wort, das für die Austronesier zentral ist: „Mana“ kann man als Verantwortung, aber auch als Integrität, Anerkennung übersetzen. „Wir wollten, dass so viel Mana wie möglich in unserem Projekt ist“, sagt Cole. „Deshalb haben wir Künstler ausgewählt, die auf ihrer jeweiligen Insel als Wächter der Kultur gelten, und sie gebeten, einen Song in ihrer Umgebung, draußen in der Natur einzuspielen und dann mit den anderen zu teilen.“

Von den vielen Beteiligten, allesamt ganz verschiedene starke Persönlichkeiten, können wir hier leider nur einige herausgreifen: Ganz zentral ist etwa eine der drei taiwanesischen Musikerinnen und Musiker, SiaoChun Tai. Sie ist Paiwan, eines von sechzehn auf Taiwan lebenden indigenen Völker, die zum Teil immer noch um ihre Anerkennung von offizieller Regierungsseite kämpfen. „Paiwan sind gewöhnlich eher introvertiert“, sagt sie, „daher sind unsere Lieder auch eher statisch, und wir verwenden eine Menge Metaphern in den Texten. Wenn wir zum Beispiel einen hübschen und talentierten Mann preisen wollen, tun wir das mit der Umschreibung ‚erstklassige Zypresse‘, eine solche Frau würde ‚bunter Schnellkäfer‘ genannt werden. Selbst in Liebesliedern stellen wir also einen Bezug zur Natur her.“

Small Island Big Song feat. Siao Chun Tai: „Senasenai A Mapuljat“
Quelle: youtube

Es gehört zu den ergreifendsten Momenten einer Small Island Big Song-Show, wenn SiaoChun Tai mit ihrer dunklen Stimme ihr Lied „Senasenai A Mapuljat“ anstimmt, im begleitenden Video dazu schaut sie bei Mondschein auf den Ozean hinaus, singt von der Verwandtschaft der austronesischen Völker, deren Vorfahren einst an diesem Strand aufbrachen. Eine Verwandtschaft, die auch heute noch auf Taiwan gespürt wird: Als Charles Maimarosia vor zwanzig Jahren mit seiner Bamboo-Band nach Taiwan kam, vergaß die Gruppe dort eines ihrer Bambusinstrumente. Die Einheimischen kannten solche Instrumente noch von alten Fotos, sie waren bis vor kurzem dort auch noch beheimatet, aber das Wissen um die Fertigung und ums Spiel war bereits abhandengekommen. Dank dieses einen Instruments konnte die Tradition wiederbelebt werden, und heute gibt es bereits einen ganzen Park zu Ehren der „Bamboos“ an der Ostküste.

Instrumentenkunde ist neben dem omnipräsenten Naturbezug ein spannendes Kapitel in den austronesischen Verflechtungen, und wir finden sie auch bei der SIBS-Musikerin Alena Murang aus Sarawak, dem malaiischen Teil Borneos. Die aussterbende Pagang, die in ihrem Kelabit-Dorf noch gespielt wird, ist eine frühe Verwandte der madagassischen Röhrenzither Valiha, die Sammy Samoela in der Band virtuos einbringt. Murangs Hauptinstrument ist aber die Sape, eine bootsförmige Laute, die bis zur Christianisierung bei Heilungszeremonien verwendet wurde und einen zärtlichen, beruhigenden Klang hat. Mit der Sape sorgt sie für eine bewegende Facette bei SIBS, wenn sie zu Ehren des Flusses, an dem sie geboren wurde, das Stück „Pemung Jae“ anstimmt. Alena Murang bezeichnet sich als „kulturelle Aktivistin“ und steht zwischen den Welten: Ihr Vater ist Kelabit, ihre Mutter eine anglo-italienische Ethnologin, und sie selbst versucht, die Kultur der Kelabit sowohl forschend als auch ausübend zu bewahren, in Musik und Bildender Kunst.

„Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, mit den Alten zusammenzusitzen, ihr Vertrauen zu gewinnen und einfach zuzuhören, was sie mir weitergeben wollen. Seit der Generation meiner Großeltern haben wir gewaltige Veränderungen durchgemacht, etwa was die Glaubenswelt und den Übergang vom Dorf- zum Stadtleben betrifft.“ Murang lebt zwar in Kuala Lumpur, kehrt aber zur Reisernte, die bei den Kelabit als heilig gilt, in ihr Dorf zurück, oder auch, um neue Lieder zu lernen, die sie in die Arbeit mit SIBS einbringt. Hoffnung macht ihr, dass junge Indigene nun auch auf Borneo anfangen, wie zuvor schon in Kanada oder Neuseeland, Fragen nach ihrer wahren Geschichte stellen und diese aufarbeiten. Die Natur ist dabei ganz zentral: „Wenn wir über kulturelles Erbe sprechen“, so Murang, die sich auch für den Schutz der Ozeane einsetzt, „dann betrifft das genauso die Umwelt. Auch die Natur ist unser Erbe.“ Eine Erkenntnis, die sich schnell durchsetzen muss: Drei Viertel des Regenwaldes von Sarawak, der älteste der Erde, sind von Abholzung bedroht oder bereits vernichtet.

Wohin unkontrolliertes Fällen von Bäumen führt, dafür gibt es im Pazifik ein historisches Beispiel: Zum Kanubau und Ofenbefeuern haben die Bewohner in früheren Jahrhunderten die einst dicht bewaldete Osterinsel (Rapa Nui) komplett gerodet. Nach der landschaftlichen Verödung sind die mythischen Moa-Statuen heute das Pfund, mit dem das Eiland wuchert. Yoyo Tuki ist der einzige Musiker der knapp 6000 Einwohner zählenden Insel, der seine Botschaft von der Erhaltung der Inselkultur um die Welt trägt, die schon lange mit Pop flirtet. So ist Tuki der „Hit-Maker“ von SIBS: Mit „Ka Va‘Ai Mai Koe“ hat er der All Star-Band einen Ohrwurm im Reggae-Gewand geliefert. „Wie überall im Pazifik ist Reggae auch auf Rapa Nui sehr beliebt, und ich sehe mich als zeitgenössischen Songwriter, der solche Einflüsse auch miteinbezieht.“

Small Island Big Song feat. Yoyo Tuki: „Ka Va‘ ai Mai Koe“
Quelle: youtube

Tukis Transportmittel dafür sind eine Ukulele und eine charismatische Stimme, die auf der Bühne vor allem im Trio mit Charles Maimarosias Bambus-Bass und dem berühmten Einschüchterungstanz Haka des Maori-Sängers Jerome Kavanagh eine virile Wechselwirkung entfaltet. Seine Texte sind von der Lebenserfahrung der Rapa Nui-Community geprägt, die auch heute wieder mit Umweltproblemen zu kämpfen hat: „Wir leiden zwar nicht unter dem steigenden Meeresspiegel wie andere Pazifikinseln, aber es wird eine unglaubliche Menge Müll aus Asien, Amerika und Europa an unsere Küsten gespült. Wir müssen die einsammeln und auf Schiffen nach Chile zurückschicken. Fische und Schildkröten konsumieren das Plastik und verenden daran.“ Die unkontrollierte Einfuhr von Autos und die Flut an Touristen, die die berühmten Moa-Statuen anschauen wollen, sind weitere Probleme: Gerade die Erlebnisreisenden zerstören den unberührten Charakter von Rapa Nui. „Meine Rolle ist es, die junge Generation weltweit zu erreichen“, sagt Yoyo Tuki, „ihnen von unserer Identität und den Werten zu erzählen, die durch die moderne Lebensweise weggefegt wird.“

Auch auf der CD von Small Island Big Song ist die Natur stets präsent. 18 Stücke wurden schon vor den ersten Livekonzerten von Tim Cole zu regelrechten Mosaiken zusammengefügt, mit insgesamt 50 Musikern, die nicht alle Teil der Shows sein können. „Es war fast unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, in welche Reihenfolge wir die Songs bringen sollten“, erinnert sich Cole. „Letztendlich haben uns die Naturgeräusche, die wir immer mit aufgenommen haben und die wie ein weiterer Musiker wirken, die Entscheidung abgenommen: Erst kommen Stücke, die im Regenwald angesiedelt sind, dann sind die Wassersounds in den Mangroven und an Flüssen Thema, schließlich geht es zum Ozean.“ Zu jedem Track gibt es außerdem einen Film, die allesamt online zu sehen sind. Dort antwortet etwa die taiwanesische Sängerin Ado Kaliting Pacidal nach einem Taifun am Strand auf eine Röhrenzither aus Madagaskar. Charles Maimarosias Bambus-Instrumente fanden ihren Widerhall bei einer Band auf der Insel Bougainville und wurden mit Wasserpercussion von Frauen aus Vanuatu gepaart. Und der Rapper Sandro aus dem madagassischen Volk der Vezo vereinigt sich in „Gasikara“ mit seinem Kollegen Mau Power von den Torres Strait-Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea zu einer Klage über das Verschwinden von Korallenriffen.

Ein Problem des ganzen ozeanischen Raumes: Charles Maimarosia ist es, der zum Ende des Interviews als unmittelbar Betroffener von der Klimakatastrophe einen Einblick in seinen Alltag gibt: „Auf der Salomonen-Insel Guadacanal sind die Korallen seit einigen Jahren bleich, es ist kein Leben mehr in ihnen, der Laichraum für die kleinen Fische ist zerstört. Außerdem beobachten wir, dass das Wasser jedes Jahr steigt, es hat das Grasland überflutet, wo früher unsere Hütten standen. Wir können nirgendwo anders hin, Papiere für andere Staaten bekommen wir nicht. Irgendwann wird es zur Überbevölkerung kommen, wir müssen unsere Zukunft mit großem Bedacht planen.“

Die Austronesier haben über Jahrtausende stets im Einklang und in Nachhaltigkeit mit der sie umgebenden Natur gelebt. Mit der internationalen Arbeit von SIBS geht jetzt ein bereits altbekanntes Dilemma der Globalisierung einher: Um die riesigen Distanzen zu überbrücken und im Teamwork ihre Botschaft um die Welt tragen zu können, muss der Musikertross etliche Langstreckenflüge absolvieren. Trotzdem werden das „Peanuts“ sein im Vergleich zum Schaden, den der Westen in ihren Regionen anrichtet. Letztendlich sind wir es, die darüber entscheiden, ob dieses kulturelle Netzwerk überleben oder an unserem Wohlstand zugrunde gehen wird – mit jeder Kreuzfahrt, jedem Flug und jedem Stück Plastikmüll.

dieser Artikel ist erschienen in der Zeitschrift Folker, Ausgabe 5/2019

CD: „Small Island Big Song“, zu bestellen auf der Website www.smallislandbigsong.com

Radiotipp: SRF2 Kultur strahlt am Freitag, den 18.10. in der Sendung „Passage“ mein einstündiges Special über Small Island Big Song aus.

Small Island Big Song feat. Ben Hakalitz & Koyawa: „Alie Sike“
Quelle: youtube

Waschprogramm mit Wiedergeburt

Als sie Anfang der Neunziger beginnt, Fado zu singen, interessiert sich niemand für das Genre. Nicht zuletzt dank ihrer Vision, Portugals Nationalstil zu erneuern, kann er heute auf seine große Erfolgsgeschichte zurückschauen. Nun hat Mísia selbst eine Wiedergeburt erfahren – nach zwei schlimmen Jahren, die sie auf Pura Vida (Galileo) verarbeitet.

Im Booklet ihres neuen Werks sieht man ein seltsames Bild: Mísia schlüpft aus der Waschtrommel heraus wie aus einem Mutterleib, umgeben von Gegenständen, die ihr lieb und teuer sind: darunter befinden sich etwa ein Foto ihrer Mutter, ein Fernando Pessoa-Figürchen, eine Marienstatue. „So war das Leben von 2016 bis 2018 zu mir, wie eine Waschmaschine“, sagt die 63-Jährige. „Nur wusste ich nicht, welches Programm eingestellt war, wann Wasser kam, wann der Schleudergang – und wann das Ganze aufhören wird.“ Mísia spricht mit fester Stimme, da ist nicht Anklagendes, nichts Pathetisches.

Wer einmal Krebs gehabt hat, für den ist nichts mehr wie zuvor. Und natürlich wirkt sich eine überstandene Krankheit auch auf den Schöpfungsprozess einer Künstlerin aus. Mísia hat sie zum Leitthema des Albums gemacht, nie plakativ, immer mit poetischem Feingespür. Und sie hat anhand ihrer Leidensgeschichte und Wiedergeburt den Fado, den sie seit fast 30 Jahren immer wieder neu erfunden hat, nochmals auf eine andere Stufe transzendiert. Da ist nichts von klassischer Besetzung mit Bass, portugiesischer und spanischer Gitarre. Vielmehr beginnt Pura Vida mit einer Bassklarinette. Später rückt immer wieder eine E-Gitarre in den Mittelpunkt, mal vordergründig rotzig, mal unterschwellig und noisy. „Alle großen Weltreligionen sagen, dass das Leben mit einem Atemhauch anfing. Die Klarinette steht für diesen Atem, der wieder in mein Leben trat. Und die Elektrische steht für das Dunkle, Gefährliche, die Störung, für die Nähe zum Tod, die ich erfahren habe. Deshalb bat ich den Musiker auch, sie sehr rau zu spielen. Die portugiesische Gitarre dagegen verkörpert das Spirituelle, das Kristalline, den Himmel.“

Halb Spanierin, halb Portugiesin hat Mísia stets eine gesunde Distanz, eine Außenperspektive zum Fado pflegen können, löste sich immer wieder von ihm, beschritt Seitenpfade in den Pop, die Klassik, den Tango. „Pura Vida“ ist in diesem Sinne radikal: „Wie der Titel schon sagt, wollte ich pure musikalische Noten, reine Musik ohne Klassifizierung. Ich sagte zu meinem künstlerischen Leiter, dem Pianisten Fabrizio Romano: ‚Nimm diese Melodien, aber behandle sie in den Arrangements nicht als Fado, gib ihnen alle Freiheiten.‘ Denn auch das ist die Erkenntnis der letzten beiden Jahre: Ich habe gelernt, frei zu sein.“ Und so lässt sie Fado mit Tango verschmelzen und kollidieren, legt unter Amália Rodrigues‘ Hymne „Lágrima“ einen E-Gitarren-Kontrapunkt, verleiht dem „Fado Dos Dois Pardais“, in dem der Körper als Käfig besungen wird, den Duktus eines Schubert-Liedes. Und, schöner Kunstgriff, sie beklagt sich mit den Worten ihres favorisierten Dichters Tiago Torres da Silva, der ihr vier Texte geschrieben hat, beim Fado selbst: „Jedes unserer Schicksale ist wie eine Beleidigung.“

Nein, fatalistische Akzeptanz lag ihr fern während ihres Krebsleidens. Selbst mit Infusionen unter ihrer Bühnengarderobe ging sie auf die Bühne, ließ kein einziges Konzert ausfallen. Und sie beteuert, dass ihre Stimme nicht unter der Krankheit gelitten hat: „Sie hat sich nur in puncto Ausdruck der Gefühle verändert, das Timbre, die Tonalität sind die gleichen geblieben. Sie ist menschlicher, organischer geworden. Es ist als hätte ich einen Ort entdeckt, zu dem ich gehen konnte, um meine Stimme wiederzubekommen, einen Ort, wo sich die Stimme meines Inneren und meines Äußeren neu begegnen konnten.“

Die intensivsten Momente auf „Pura Vida“ sind diejenigen, auf denen sie sich der Vermählung mit dem Tango hingibt, einmal mit dem Gast Melingo, einmal in ihrer Adaption von Horacio Ferrers „Prelúdio Para El Año 3001“. „Der Tango ist dem Fado viel näher als der Flamenco, sie sind eine Familie“, sagt Mísia. „Doch der Tango fährt dir mehr in die Eingeweide, ist temperamentvoller. Schon früher, nach einem Konzert in Buenos Aires, sagten mir Leute, ich sollte doch mal das ‚Prelúdio‘ interpretieren, es sei wie geschrieben für mich. Jetzt war der richtige Zeitpunkt dafür, denn am Ende des Textes heißt es: ‚Ich werde wiedergeboren werden!‘ Als ich das im Studio sang, musste ich weinen. Sehr reinigend war das, tatsächlich wie eine Waschmaschine.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #130

Mísia: „Ausência“
Quelle: youtube

Rudolstadt-Nachlese in Bildern III: Der Sonntag

Seun Kuti & Egypt ’80

Seun Kuti

BaoBao Chen, Charles Maimarosia und Tim Cole von Small Island Big Song mit dem Autor

Quiana Parler von Ranky Tanky (USA)

Ivan Vilela (Brasilien)

Kazachya Sprava (Russland)

Margo Timmins von den Cowboy Junkies (Kanada)
(alle Fotos: Stefan Franzen)

Rudolstadt-Nachlese in Bildern II: Der Samstag

Der Maori-Musiker Jerome Kavanagh (Small Island Big Song)

Small Island Big Song

Yoyo Tuki (Rapa Nui – Osterinsel) & Charles Maimaroisa (Salomonen-Inseln) von Small Island Big Song

Alena Murang aus Sarawak, Borneo an der Sape-Laute (Small Island Big Song)

Die indigene Musikerin Ado Kaliting Panical vom Volk der Pangcah aus Taiwan (Small Island Big Song)

BraAgas (Mähren)

 Monica Njava von Toko Telo (Madagaskar)

 Hudaki Village Band (Ukraine)

Luedji Luna (Bahia, Brasilien)
alle Fotos: Stefan Franzen

Rudolstadt-Nachlese in Bildern I: Der Freitag

Soweto Soul (Südafrika)

Die 29. Ausgabe des Rudolstadt Festivals stand im Zeichen des Iran,
der pazifischen Kultur der Austronesier und vieler Highlights von Brasilien bis Russland.

Ein dreiteiliger Streifzug in Bildern.
(alle Fotos: Stefan Franzen)

 

Ali Ghamsari (Iran)

Ayça Miraç Quartett (Türkei-Lasistan-Deutschland)

Hamnava Ensemble (Iran)

Tribute to Márkos Vamvakáris (Griechenland)

Perlenweberin in Brooklyn

Die Sängerin Céline Rudolph lotet mit Sinnlichkeit und vokaler Farbenpracht eine Welt zwischen Jazz, Brasilien, Afrika und Chanson aus. Über ihr neues Werk Pearls und ihre Arbeit in Brooklyn hat sie mit mir gesprochen.

Céline Rudolph, Ihr neues Album entstand in New York. Wie hat das Ihren Sound verändert?

Rudolph: Ich bringe R&B- und Soul-Elemente in meine Welt hinein, singe mehr Englisch. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass sich meine Identität ganz auflöst, also halte ich parallel dazu an meiner Vielsprachigkeit fest, und auch an meinen Fantasiesprachen, am Archaischen, Kinderliedhaften.

Hat sich in diesem neuen Stil auch – bewusst oder unbewusst – Ihr Vokaltimbre gewandelt? Wie hat sich New York auf Ihre Stimme ausgewirkt?

Rudolph: Ich spüre, dass da ein Schwenk vom Tropischen zum Städtischen passiert ist. Es ist jetzt nicht nur mehr das Besingen der schönen Seite, sondern auch das Nachdenkliche, Resümierende, existentielle Fragen. Ich bin unterwegs und erfahre dieses pulsierende, auch wahnsinnig laute Leben, dabei hilft es auch, bei sich zu bleiben – und womöglich hört man das dann auch in meiner Stimme.

Prägend für das Album war der Drummer Jamire Williams, der auch produziert hat. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?

Rudolph: Er hat in Berlin ein Konzert als Sideman gespielt, und seine kraftvolle Live-Energie hat mich umgehauen. Ich habe dann nach ihm recherchiert, seine Arbeit ganz intensiv gehört und mich schließlich entschlossen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wir haben Musik ausgetauscht, erst sehr intuitiv, dann entwickelte sich der Plan, Songs auszusuchen und ein Album zu machen. Ich selbst habe dann meinen langjährigen musikalischen Partner, den Jazzgitarristen Lionel Loueke mitgebracht, Williams hat aus seiner Heimatstadt Houston den Bassisten Burniss Travis für die Band vorgeschlagen. Für die Keyboards kam Leo Genovese von der Esperanza Spalding-Band dazu. Und in Brooklyn haben wir alles in drei Monaten zusammengesponnen.

Gerade die Keyboards sind ein wichtiges neues Element, sie erzeugen einen glasigen, träumerischen Sound.

Rudolph: Ich hatte zwar zuhause schon Experimente mit Fender Rhodes gemacht, aber in Brooklyn hat sich das richtig entwickelt. Der Toningenieur dort hatte eine ganze Sammlung von analogen Tasteninstrumenten, Mini Moogs, Orgeln. Wir haben dieses Element sehr betont, dadurch kommt auch eine Popfarbe hinein. Wir hatten so viel Spaß daran, dass die Keys formgebend für die Produktion wurden.

Stimmt es, dass Ihr Sohn für den Albumtitel Pearls verantwortlich ist?

Rudolph: Ja! Als ich ihm mal eine Geschichte erzählte, sagte er: „Mama, dein Kopf ist ja voller Perlen!“ Was für ein schönes Bild! Ich habe mir das aufgeschrieben und dann weiterentwickelt. Unsere Phantasien schweben und schwirren im Kopf rum, und was passiert mit denen eigentlich? Die Keyboards und diese ganzen leuchtenden Sounds sind auf jeden Fall eine Übertragung dieses poetischen Bildes.

Das neue Repertoire hat trotz Brooklyn-Prägung auch wieder afrikanische Farben, etwa im Stück „C’est Un Love Song“.

Rudolph: Entstanden ist der Song, als ich auf der Gitarre kleine Patterns gespielt habe. Lionel Loueke spielt westafrikanische Kora-Klänge in seinem Solo. Aber es sind auch Elemente aus dem Süden Afrikas zu finden. Ich selbst war sowohl in West- als auch in Südafrika, habe Afrika also schon mal quasi umrundet, und so ist das Stück eine Reminiszenz an den ganzen Kontinent, auch mit dem Französischen und Englischen im Text, da ja Beides dort gesprochen wird.

In „Aumbaeleo“ haben Sie Ihre Vorliebe für Fantasiesprachen mit Blues verknüpft. Ist das ein Genre, das Sie sich neu erschließen?

Rudolph: Etliche der neuen Songs haben tatsächlich Blues-Anleihen, auch der Titelsong selbst .Das habe ich vorher nicht gemacht, diese erdige Seite, die entdecke ich jetzt grade und es macht mir wahnsinnig Spaß, da reinzugehen.

Der außergewöhnlichste Songtitel ist „L’Ascenseur Pour L‘Equinoxe“. Da denkt man natürlich gleich an Miles Davis.

Rudolph: Ja, doch das Zitat von seinem „L’Ascenseur Pour L’Échafaud“ kam erst gegen Ende rein. Inspiriert ist es von dieser coolen Schwarz-Weiß-Welt der 1960er. Gleichzeitig ist meine Version ja nicht so lieblich, hat mehr Ecken und Kanten, das ist eher meine Tonwelt. Trotzdem hat es dieses Flair von Film Noir, und deshalb habe ich Miles am Schluss hinzugefügt.

Wie setzen Sie dieses Programm auf der Bühne um, welche Musiker werden Sie in Lörrach begleiten?

Rudolph: Ich komme mit einem eigens zusammengestellten Trio mit dem Bassisten Bänz Oester und dem derzeit in Basel lebenden Brasilianer Vinicius Gomes an der Gitarre. Wir werden Teile aus Pearls spielen, aber das Programm wird auch meine brasilianische Seite zur Geltung bringen. Also eine Mischung aus dem Neuen und der „Weltmusikabteilung“.

© Stefan Franzen
live: Céline Rudolph Trio: Rosenfelspark Lörrach, 26.7. als Support für Mayra Andrade bei Stimmen
CD: “Pearls” (Obesssions/Membran)

Céline Rudolph: making of „Pearls“
Quelle: youtube

Klassikkosmos auf dem Kirchhügel


Der Boswiler Sommer ist eines der kleinen Klassikfestivals der Schweiz, das durch ein fantasiereiches Programm in Kammerbesetzungen und eine intime, ländliche Atmosphäre Alleinstellungsmerkmale in der Region hat. Ich habe mit dem künstlerischen Leiter, dem Cellisten des Züricher Casal Quartetts, Andreas Fleck gesprochen.

Herr Fleck, Boswil ist ein Dorf mit nicht einmal 3000 Einwohnern im Kanton Aargau. Wie kommt ein so renommiertes Festival an diesen Ort und welche Rolle spielt die ländliche Umgebung für seinen Charakter?

Andreas Fleck: Günter Grass hat mal das Wort „Weltkunst auf dem Land“ geprägt. Er war wie viele Schriftsteller und Komponisten in Boswil zu Besuch, unter ihnen auch Pau Casals, Yehudi Menuhin, Wilhelm Backhaus. Die Geschichte ist ja die, dass eine Kirche, die nur noch als Abstellraum diente, und ein Pfarrhaus, das mit 20 Zimmern nebendran steht, in den 1950ern dem Verfall anheimfiel. Eine Gruppe junger Leute, darunter einer mit einer großen Musikaffinität, haben das zufällig gefunden und wollten das retten. Sie fragten einfach die größten Künstler für Benefizveranstaltungen an. Mit dem gesammelten Geld wurde renoviert, das Pfarr- zum Künstlerhaus, in dem heute über 100 Musikabende pro Jahr stattfinden. Dieses Gebäudeensemble mit Park liegt wie auf einer Insel oberhalb eines ganz normalen Dorfes mit Landwirtschaft und Industrie. Wenn man auf dem Kirchhügel ist, spürt man den historischen Ort mit einer ungeheuren Aura. Das geht allen so, die zum ersten Mal dort sind. Sie merken: Hier geht es nicht um mich, sondern um das, was hier entsteht. Das ist kein Ort der Eitelkeiten, kein „Cüpli-Festival“. Wir haben Kieswege, und da kommt man mit Stöckelschuhen nicht weit.

Den Boswiler Sommer gibt es seit fast 20 Jahren. Wie würden Sie die Eigenheiten im Vergleich zu anderen Klassikfestivals charakterisieren?

Fleck: Vor 19 Jahren gab es das noch nicht so oft, dass ein Festival ist von Musikern entwickelt und programmiert wird, in einer sehr familiären Art. Auf einem kleinen Fleck von circa 1000qm wächst alles zusammen. Inspiriert ist es vom Lockenhaus-Festival im österreichischen Burgenland, weil für uns auch die Kammermusik zentral ist. In der Regel wird alles in Boswil produziert, nichts kommt fertig an. Wir wollen mit den Musikern alles erarbeiten, oft in einem Prozess von 18 Monaten, das heißt für Künstler, die bei sechs oder sieben Konzerte mitspielen, proben und aufführen nonstop.

Die aufführenden Gäste werden vom Chaarts Chamber Ensemble begleitet – ist das quasi das Festivalorchester, das aus dem Boswiler Sommer hervorgegangen ist?

Fleck: Dafür muss ich etwas ausholen: Der Impuls, das Festival zu gründen, rührte aus einer Zeit, in der ich mit dem Casal Quartett hundert Konzerte pro Jahr hatte. Wir fanden es so schade, dass wir dabei immer für das Gleiche angefragt wurden: Schubert, Beethoven, Dvořák, Mozart, Haydn. Wir hatten dagegen Lust, mit Freunden an einen Ort zu gehen, und dort Programme zu machen, die aus dem Rahmen fallen. So ist das erste Festival dann auch ein sehr kammermusikalisches geworden, doch am Schluss wollten wir alle zusammen noch ein größeres Werk spielen. Und als das zum Orchester zusammenwuchs merkte ich: Wow, Kammermusiker haben einfach viel mehr Sound, weil sie es gewohnt sind, allein zu spielen und daher ein viel größeres Bewusstsein für das Ich haben innerhalb eines Ensembles, sie erzeugen eine hohe Dichte. In der Folge haben wir größere Werke mit wenigen Musikern aufgeführt, wobei wir zum Beispiel bei der „Eroica“ dieses Jahr bei einer Ensemblestärke sind, wie sie bei Beethoven ja eigentlich historisch korrekt ist. Man hat Individualisten, und die müssen überzeugt sein, dass es ihnen im Orchester auch Spaß macht, selbst wenn sie nicht mehr die einzige Geige oder das einzige Cello sind. Und so hat sich Chaarts aus dem Boswiler Sommer entwickelt.

Chaarts bettet zwei Artists Of The Year ins Programm ein, die Cellistin Ciara Enderle und den Oboisten Philippe Tondre. Welches sind Ihre Kriterien für die Auswahl dieser Resident Artists?

Fleck: Es sollten herausragende Instrumentalisten sein, die schon eine große Erfahrung mitbringen, Dinge mit anderen zu teilen, sich vernetzen zu können. Die hohe Kunst Kammermusik zu verstehen, ist: Hier trete ich in das Gesamte ein, und dort trete ich hervor. Und man muss Lust haben, etwas Neues zu probieren. Chiara Enderle spielt Szenen aus Prokofjews „Romeo und Julia“, die bisher für Bratsche und Klavier arrangiert wurden. Sie überträgt das jetzt einfach für das Cello, und das ist höllisch schwer. Vielleicht stößt sie da auch ein Tor auf für andere Cellisten. Das wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.

Die Klassiksparte beklagt oft eine Überalterung der Zuhörerschaft. Findet sich auch in Boswil der berühmte „Silbersee“? Oder locken Sie durch die jungen Mitwirkenden auch junge Zuhörer?

Fleck: Ich würde mich nie beklagen über den „Silbersee“. Jeder Zuhörer ist mir gleich lieb, ob jung oder alt. Die Tiefe dieser Musik, die kriegt einen irgendwann im Leben. Boswil hat ja über das Jahr verteilt sehr viele Veranstaltungen, die alle aus dem klassischen Bereich sind, es gibt gleich zwei Jugendorchester, die dann natürlich die Familie als Publikum mitziehen. Daher ist der Hauptanteil unseres Publikums zwischen 40 und 50, dann natürlich auch die Älteren, aber auch Junge, Studenten. Ich würde sagen, das Durchschnittsalter ist um 20 Jahre jünger als bei anderen Klassikfestivals. Das liegt auch an den lustvollen Programmen, die Berührungsängste nehmen.

Wie können Sie die zehn Tage finanziell meistern?

Fleck: Privates Geld von Firmen zu bekommen ist ausgesprochen schwierig, Events wie das Lucerne Festival ziehen alle Großsponsoren ab. Das Potenzial liegt eher im mäzenatischen Bereich, doch im Unterschied zu Basel ist der Aargau ein eher armer Kanton mit wenigen Stiftungen. Der große Anker ist der Staat mit dem Swisslos-Fonds. Da können wir uns drauf verlassen, dass wir einen bestimmten Rahmenbetrag bekommen.

Lassen Sie uns aus dem Programm ein paar Highlights herausgreifen. Als übergreifendes Motto haben Sie „Legendär!“ gewählt, aber es gibt auch andere rote Fäden, wie zum Beispiel Powerfrauen wie Carmen oder Scheherazade.

Fleck: Die Herangehensweise an das Thema „legendär!“ ist sehr divers. Es kann das sein, was ein Stück ausgelöst hat in der Geschichte seiner Zeit. Etwa im Programm „Pioniere“ mit Debussy und Glasunow, wo ein Werk eine neue Richtung einschlägt und dadurch zur Legende wird. Aber es gibt natürlich auch Figuren, die sich in der Musikgeschichte niederschlagen. „Legendär“ heißt auch immer erzählerisch, aufgeladen mit einer Geschichte. Und diese Geschichten haben es an sich, dass sie von Figuren bevölkert sind. Da wir kein Theater sind, müssen wir uns Werken zuwenden, in denen Figuren musikalisch existieren. Darüber hinaus bieten wir am Festival auch Formen an, in denen die Musik nicht immer nur die Hauptrolle spielt. Etwa einen „Casanova“-Abend, wo das Erzählte im Zentrum steht, und wir haben das Theaterstück über das „White Album“ der Beatles aus Zürich geholt, bei dem Chaarts immer mitgewirkt hat – in diesem Fall also ein Album, das „legendär“ wurde.

Sie konfrontieren Brahms mit Klezmer, und Sie führen mit Martinù, Janáček und Rimsky-Korsakoff die Zuhörer in den Orient. Ist das Inbezugsetzen der Klassik mit Volkskulturen auch ein Merkmal Ihrer Programmphilosophie?

Fleck: Ich finde es rückblickend seltsam, dass man die klassische Musik mit ihren zentralen Protagonisten oft als eine eremitische, enklavische Angelegenheit betrachtet hat. Und das, obwohl ihre großen Komponisten alle von Volksmusik umgeben waren, sie konsumiert und weitergesponnen haben, bei Brahms ist das ja nachgewiesen. Es macht den größten denkbaren Sinn, dass man diese Dinge auch wieder hörbar macht. Es ist auffällig, dass das Publikum extrem darauf anspringt, das Brahms-Klezmer-Konzert war das erste ausverkaufte. Mich persönlich interessiert diese Sparte mehr, als sich der Neuen Musik zuzuwenden. Hier liegen Schätze herum, die man wirklich nur ausgraben muss und dann intelligent neu besetzen.

Am Samstag eröffnen Sie mit Gustav Holsts „Planeten“ in einer sehr jungen Kammerfassung von George Morton und mit Mahlers „Lied von der Erde“ in der intimen Lesart von Schönberg. Einem doch eher plakativen, lautmalerischen Werk stellen Sie einen sehr persönlichen, schmerzvollen Abschied von unserem eigenen Planeten gegenüber. Reizte Sie dieser krasse musikalische Gegenentwurf?

Fleck: Für mich ist es die denkbar größte Spanne überhaupt, es geht hier um alles, was wir haben, und das wird in Musik umgesetzt. Fragen wie: Wer sind wir, wie klein oder wie wichtig sind wir? Die ganze Dimension des Menschen und des Kosmos steckt in diesem Programm, von Religion über Astrologie über Endzeitentwürfe bis zum Klimawandel: Wir merken, wir haben nur diesen einen Planeten und können uns auch nicht davon entfernen. Das ist thematisch extrem aufgeladen gerade. Wegen dieser Aufladung wollte ich noch den Astrophilosophen Roland Buser dabeihaben, der es schafft, in einer halben Stunde einen Bogen zu spannen zwischen diesen beiden Welten auf eine sehr unterhaltsame Art. Dass wir nur ein Staubkorn sind in diesem ganzen Geschehen, das kann er so charmant und witzig, gleichzeitig aber so sinnhaft erzählen. Ein intellektueller Spaziergang zwischen diesen beiden kolossalen Werken.

© Stefan Franzen
Das Interview erschien in „Der Sonntag“, Ausgabe 23.6.2019

Boswiler Sommer: 29.6. – 7.7.

Gospel für die Gefallenen

Der südafrikanische Sänger, Schriftsteller und Schauspieler Nakhane Touré schöpft für seine erschütternden Songs Inspiration aus seinem Xhosa-Erbe und elektronischen Sounds, aus dem Kampf um seine sexuelle Selbstbestimmung und der Lossagung von der Kirche.

Nakhane, Ihre Stimme ist sehr besonders und einzigartig. Wenn man überhaupt irgendwelche Vorbilder heraushören möchte, dann landet man bei Scott Walker oder David Bowie…

Nakhane: Ich habe beide viel gehört, denn mir liegt diese Tendenz zum Opernhaften und Lächerlichen, und beide diese Stimmen haben das ja. All meine Tanten und meine Mutter haben klassische Musik in Chören gesungen, damit bin ich aufgewachsen, sie waren meine Heldinnen. Aber meine Mutter hörte auch Soul, und lange Zeit wollte ich Marvin Gaye sein! Doch als ich im Teenager-Alter anfing, selbst Songs zu schreiben, wollte ich nicht mehr klingen wie jemand anders, ich fand so viel Bestätigung in meiner eigenen Stimme und darin, herauszufinden, was ich mit ihr anstellen könnte.

Sie sind auch als Buchautor und Schauspieler erfolgreich – hat irgendeine der drei Tätigkeiten Priorität für Sie?

Nakhane: Singen tue ich, seit ich vier oder fünf Jahre alt bin, die Stimmbänder sind ja ein Teil meines Körpers und in dieser Tatsache liegt sehr viel Kraft. Später erst bekam ich dann Musikunterricht und lernte lesen, und ich merkte, dass ich mich auch für Schauspiel interessierte. Sowohl Schauspielkunst und Literatur als auch Musik und Komposition habe ich dann auch studiert, ohne beruflich damit etwas anstellen zu wollen. Es war einfach die Einstellung: Ich habe das Verlangen etwas zu tun, also tue ich es.

In Ihrer Musik stehen elektronische Elemente im Mittelpunkt, Beats und Synthesizers. Würden Sie sagen, dass sich noch etwas von Ihrem Erbe darin findet, aus der Tradition der südafrikanischen Xhosa?

Nakhane: Ja, das steckt in meiner Art und Weise zu singen, Melodien zu kreieren, Harmonien zu schichten. Mein Produzent und ich streiten uns, wenn es darum geht, die Taktschläge zu zählen. Ich setze oft auf dem Offbeat ein, da zeigt sich der geographische Unterschied zwischen Europa und Südafrika. Als ich mich entschied, ein Album in England aufzunehmen, wollte ich anders klingen, ganz und gar nicht britisch. Deshalb gibt es auch ganz konkret afrikanische Sounds in meinen Songs, etwa das Daumenklavier Mbira aus Simbabwe oder die Chöre, die auf südafrikanischen Gospel zurückgehen. Ein Song wie „Clairvoyant” hört sich sehr südafrikanisch an – ich liebe die Musik meiner Heimat und lasse mich immer wieder von ihr beeinflussen.

Sie haben gerade die Gospelfarbe Ihrer Musik erwähnt. Über die Chöre hinaus gibt es auf Ihrem aktuellen Album You Will Not Die ja auch Kirchenglocken in den Arrangements und jede Menge religiöser Themen in den Texten. Würden Sie Ihre Musik als spirituell bezeichnen?

Nakhane: Ich würde sie als „Gospel für die Gefallenen” bezeichnen. Mir dient die Musik der Kirche dazu, über mein Leben, über meine Sexualität, meine Familie zu schreiben. Dies alles möchte ich preisen anstatt nur eines christlichen Gottes. Mit diesem neuen Album nehme ich Abschied von meiner Kindheit und der Kirche, aber ich wollte dabei nicht zornig klingen. Der christliche Glaube war ein so großer Bestandteil meines Lebens, dass ich ihn nicht als etwas Hässliches darstellen wollte, sondern als etwas voller Wärme und Liebe.

Können Sie uns eine Vorstellung davon geben, welche Schwierigkeiten Sie hatten, als schwuler Mann in Südafrika aufzuwachsen – machte Ihnen die Xhosa-Gemeinschaft da Probleme, oder kamen die nur durch die Kirche?

Nakhane: Ein komplexes Thema. Bei den Xhosa gibt es auf der einen Seite so viel Akzeptanz, andererseits auch Gewalt. Es hängt davon ab, wo du bist, mit wem du zusammen bist, welche Art von Queerness du lebst, was du sagst, wie du dich darstellst, ob du bedrohlich wirkst. Auch, ob du eine Fernsehberühmtheit bist, ob du eine Figur verkörperst, die die Anderen zum Lachen bringt, dann lieben sie dich. Aber in dem Moment, in dem du eine wirkliche Person bist, wird es kompliziert. Auf der anderen Seite gibt es eine sehr vielschichtige Idee von Sexualität in der Xhosa-Gesellschaft, die die europäische übersteigt. Das Geschlecht spielte keine große Rolle – doch dann kam die Kirche und hat ihre Regeln aufgestellt, dass du dich so oder so verhalten musst. Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir das fünfte Land auf der Erde sind, dass die gleichgeschlechtliche Heirat legalisiert hat.

Was steckt hinter dem Albumtitel “You Will Not Die“?

Nakhane: Als ich noch ein Christ war, hatte ich die klare Vorstellung, dass ich nach dem Tod in den Himmel kommen würde. Danach wurde dieses klare Bild verschwommen. Ich hatte Angst vor allem:  vor dem Überqueren der Straße, vor dem Besteigen eines Flugzeugs, vor Sex. Doch dann hatte ich einen Traum, in dem mir eine Zahl gezeigt wurde. Ich kenne zwar ihre Bedeutung nicht, doch dieser Traum veränderte mich, ließ wieder zu, dass ich Freude an der Welt und an meinem Dasein hatte, an jedem Moment. Ich hatte nicht mehr diese Einbahnstraße im Kopf, dass alles entweder im Himmel oder in der Hölle enden wird. Meine Songs haben mir geholfen zu erkennen, dass ich nicht böse bin, dass mit mir alles stimmt. Früher habe ich mich immer gegen den Begriff „Katharsis“ gewehrt – doch jetzt akzeptiere ich ihn.

© Stefan Franzen
dieses Interview habe ich für das Programmheft des Stimmen-Festivals geführt, dort wird Nakhane am 25.7. im Rosenfelspark Lörrach auftreten

Nakhane: „New Brighton“ feat. ANOHNI
Quelle: youtube

Heimat ohne Ort

Ein meditatives Plädoyer für die Grenzenlosigkeit der Musik und gegen politische Trennlinien: Placeless, eine gemeinsame CD der iranischen Schwestern Mahsa und Marjan Vahdat mit dem Kronos Quartet.

 

Seit 1973 hat das Kronos Quartet eine Lanze für ungewöhnliche Teamworks gebrochen. Es dürfte nahezu keine Weltgegend mehr geben, die die vier Amerikaner um den Geiger David Harrington nicht schon musikalisch besucht haben. Ihre gemeinsame CD mit dem persischen Schwesterpaar Mahsa und Marjan Vahdat dürfte im riesigen Katalog jedoch eine Sonderstellung einnehmen – ihres spirituellen Tiefgangs wegen, aber auch wegen der Brisanz, die eine US-iranische Kollaboration per se darstellt.

Gleich zu Beginn des Interviews betont Mahsa Vahdat: «Wir möchten mit unserer Arbeit keine politischen Slogans transportieren. Doch unsere Botschaft ist: Alle Einschränkungen, die Politiker uns versuchen aufzuerlegen, alle Mauern, Trennlinien, Antagonismen können Kunst und Musik überwinden.» Die erste Begegnung mit dem Kronos Quartet geht auf das Jahr 2016 zurück: Damals trifft Vahdat in San Francisco, ihrer heutigen Wahlheimat, den Komponisten und Arrangeur Sahba Aminikia, der schon mit den vier Streichern gearbeitet hat und beide Seiten miteinander bekannt macht. «Die Chemie stimmte einfach», erinnert sich Vahdat. Aminikia arrangiert im Folgejahr drei Stücke für Stimme und Quartett. Der norwegische Produzent Erik Hillestad vom Label KKV, auf dem sowohl Mahsa als auch Marjan Vahdat seit etlichen Jahren CDs veröffentlichen, hört das Ergebnis und ist enthusiastisch, will ein ganzes Album mit beiden Schwestern und den Amerikanern produzieren. In einem langen Prozess wird das Repertoire in Oslo erarbeitet.

«Natürlich gab es Herausforderungen», sagt Vahdat, für die es nicht die erste US-iranische Zusammenarbeit ist, zuvor hatte sie schon mit dem Bluesmann Mighty Sam McClain musiziert. «Gerade bei den langsamen, rhythmisch freien Eingangssequenzen, in der persischen Musik heißen sie Avaz, mussten wir sehr detailliert arbeiten. Aber solche Herausforderungen sind notwendig, ohne sie hätte das Resultat keine Bedeutung. Vom ersten bis zum letzten Treffen vor Aufnahmebeginn in der akustisch ausgezeichneten Osloer Kulturkirken Jakob vergingen zwei Jahre. Wir entdeckten immer neue Sounds, je besser wir uns kennenlernten. Zeit und Reife spielten eine große Rolle.»

Dies liegt auch ganz zentral daran, dass die delikaten Wechselwirkungen zwischen Poesie und Musik «erhorcht» werden mussten: Alle Stücke gehen auf Melodien zurück, die Vahdat im Geiste der persischen Klassik und Folklore erfand. «Ich schöpfe Neues aus diesen alten Tonleitern, passe sie meiner eigenen ästhetischen Denkweise an, meinem eigenen Ausdruck. Dabei arbeite ich auch mit regionalen Färbungen, wie etwa im Lied ‘Far Away Glance’, das auf Musik aus Khorasan zurückgeht», erklärt sie. Ihre Melodien transportieren die 800 Jahre alte Dichtung der Sufi-Lyriker Rumi und Hafez, aber auch zeitgenössische Verse von Mohammad Ibrahim Jafari, Atabak Elyasi und Forough Farrokhzad. Letztere hat eine Ausnahmestellung in der iranischen Dichtkunst inne, denn sie schrieb bereits vor 50 Jahren aus einer sehr weiblichen Perspektive heraus, ist also gerade heute, in der Ära der Restriktionen gegen Frauen in der iranischen Gesellschaft eine Symbolfigur. «Dabei haben die alten und die neuen Verse Vieles gemeinsam», meint Vahdat. «Auch Hafez hat schon Heuchelei angeprangert und den Missbrauch der Religion, um Menschen zu beherrschen.» Besonders begeistert sie der zweigesichtige, «schwebende» Charakter der Liebesgedichte: Physisches und Spirituelles mischt sich, konkrete Attribute, wie etwa die Haare der oder des Geliebten können auch eine Metapher für Göttliches sein.

«Meine Schwester und ich haben viele Jahre nach einem Weg dafür gesucht, wie wir Spiritualität und Liebessehnsucht in unserem Gesang wiedergeben können. Viele unserer Zuhörer sind ja keine Iraner, sie wissen nichts über diese Gedichte und sollen sie trotzdem verstehen. Ich glaube, auch das Kronos Quartet hat die spirituelle Stimmung in diesen Gedichten aufnehmen können, ohne unbedingt die Worte zu erfassen.» Und wie klingt das Ergebnis?

Wenn Mahsa und Marjan Vahdat rhythmisch freie, seelenvolle Vokal-Lamentationen singen, liefern die Streicher manchmal lediglich rauchige Bordune und Liegetöne, etwa in Farrokhzads „The Sun Rises“. An anderer Stelle kommt eine ausgefeilte Partitur mit Pizzicati und impressionistischen Harmonien à la Ravel zum Zuge („I Was Dead“). In „Vanishing Lines“ denkt man an einen Quartettsatz, wie er in der abendländischen Romantik gespielt wird. Und fast tänzerische Gesten hellen das ernste Repertoire in „Fate Astray“ auf. Belebend ist dabei immer der Wechsel zwischen den schwesterlichen Stimmen: Mahsa mit ihrem eher lyrischen Ton, der an der persischen Klassik geschult ist, Marjan, die regionale Farben fassen und Akzente imitieren kann – mit einem „furchtlosen Ausdruck“, wie es ihre Schwester nennt.

Eine intensive Zwiesprache zweier Kulturen, die im politischen Tagesgeschäft Erzfeinde sind. Was schließlich zum Titel der CD, Placeless, führt. Er beruht auf einem Rumi-Gedicht aus dem Diwan-e Schams-e Tabrizi, in dem der Sufidichter davon spricht, dass er sich keiner Religion zugehörig fühle, keiner geographischen Herkunft, weder der Erde noch dem Firmament. Er schließt mit dem berühmten Vers: „Mein Ort ist ohne Ort, meine Spur ohne Spur.“ Für Mahsa Vahdat spiegelt sich darin genau der Charakter dieses Projekts wider: „Es bedeutet, sich jenseits aller Grenzen aufzuhalten, keine Fesseln zu haben. Das ist von jeher das Konzept des Kronos Quartets und nun unserer gemeinsamen Arbeit. Auch für mich ist das wichtig, denn ich war während der letzten Jahre viel unterwegs, immer in Bewegung, da ich in meiner Heimat nicht arbeiten kann. Ja, meine Wurzeln liegen im Iran, aber ich kann eins werden mit Zuhörern überall auf der Welt. Der Ort, an dem ich singe, wird dann mein Zuhause und zugleich habe ich das Gefühl einer ‚Ortlosigkeit‘.“

© Stefan Franzen
erschienen auf qantara.de

Mahsa & Marjan Vahdat, Kronos Quartet: „My Ruthless Companion“
Quelle: youtube

Folksoulige Vielfalt

„Ich bin in einer Baptistenkirche groß geworden, und die Ausrichtung der Musik über das Ego hinaus steckt auch heute noch in meiner Musik“, sagt Lydia Persaud (sprich: pör-sod). „Das kannst du ruhig ‚spirituell‘ nennen.“ In Torontos Szene ist die junge Sängerin eine vielgefragte Stimme, kein Wunder, hat sie sich nach ihrer Jazzausbildung an der Humber School über die vergangenen Jahre doch in jedem Genre ausprobiert und bewährt: Country-esker, kompakter Satzgesang mit dem Frauentrio The O’Pears, Soul- und Pop-Powerballaden mit der Coverband Dwayne Gretzky, intime Jazzfarben auf der frühen EP Lost And Found.

Jetzt erscheint ihr erster Longplayer Let Me Show You. „Alle meine Projekte haben mich zu diesem Album geführt“, so Persaud. „Es stecken das Storytelling und die Harmoniegesänge des Folk drin, den ich erst relativ spät kennenlernte, obwohl es hier in Kanada für dieses Genre einen großen Industriezweig gibt, der immer noch wächst. Aber meine Songs haben auch den emotionalen und stilistischen Drive von R&B und Soul, mit dem ich von klein auf in Berührung war. Ich würde es also Folksoul nennen.“ Für die Ausformung ihres Songwritings nennt sie als prägenden Einfluss unter anderem Rufus Wainwright: Den „stream of consciousness“ seiner Erzählkunst bewundert sie, und ihre Version von Wainwrights „Poses“ berührt mit ihrer brillanten Phrasierung und ihrem großen dramaturgischen Atem tief.

Lydia Persaud: „Poses“
Quelle: youtube

Für Let Me Show You ist Persaud beim Schreiben vom Piano auf die Bariton-Ukulele umgestiegen. Das hat bewirkt, dass die harmonische Dichte ihrer älteren Jazzkompositionen sich auf der neuen CD in eine Leichtigkeit gelöst hat, an der auch die unverschämt locker groovenden Band-Kollegen aus ihrer Heimatstadt großen Anteil haben. In etlichen Stücken geht es um Liebesmelancholie, wie im angenehm verträumten Titelstück. Doch bei aller Relaxtheit des Sounds geht Persaud in ihren Lyrics auch härtere Themen an: Etwa in „No Answer“, wo es um den schwierigen Umgang Kanadas mit den Verbrechen an den Indigenen geht. Sie sitzt tief, die Enttäuschung über Präsident Justin Trudeau, der trotz seiner Bewusstheit für die kulturelle Diversität Kanadas dem Pipeline-Bau durch ein Gebiet der First Nations zustimmte. Persaud, die einen guyanischen Vater und eine ukrainische Mutter hat, solidarisiert sich mit denen, die für die Vielfalt der Gesellschaft sorgen, sei es durch ihre Gene oder ihre Überzeugungen.

„In meinem Blut ist dieses Erbe, aber in meiner Musik nicht. Ich bin ein Produkt Kanadas, und meine wichtigste Erfahrung ist es, wie ich als woman of color hier zu meiner Identität fand.“ Herkunft und Geschlecht ließen sich nicht ignorieren, sagt sie, aber sie seien eben auch nicht alles. Persaud ,die im CD-Booklet ausdrücklich ihre LGBT-Community grüßt, hat der Buntheit und Weiblichkeit Kanadas mit der Singleauskopplung „Honey Child“ eine schöne Hymne geschrieben: „Der Song ist eine Ermutigung, sich selbst zu lieben – egal, was für einen Körper du hast und welche Hautfarbe.“

© Stefan Franzen

Lydia Persaud: „Well Wasted“
Quelle: youtube