Wie ein Außerirdischer

Starten Sie einmal eine Umfrage unter Liebhabern des portugiesischen Fado: Was verbinden sie neben dem Gefühlszustand der typischen Schwermut, der „Saudade“ vor allem damit? Richtig: Frauenstimmen. Heute vor einem Jahrhundert wurde Amália Rodrigues, die bekannteste Fadista aller Zeiten geboren. Mit ihr wurde Weiblichkeit zur zwingenden Voraussetzung für internationalen Erfolg im Genre. Ein Blick auf deutsche Bühnen während der letzten 20 Jahre bestätigt das: Mariza, Carminho, Gisela João, Cristina Branco… Zum 100. Geburtstag von Amália ist es an der Zeit, die Perspektive zurechtzurücken – und ein Sänger namens Telmo Pires hilft dabei.

„Fado als Mann? Vergiss es, Telmo, funktioniert nicht!“ Mehr als einmal musste sich der heute 47-jährige Telmo Pires das von Agenturen anhören. An seiner Arbeit ist aber nicht nur besonders, dass er sich gegen die weibliche Dominanz behaupten muss. Pires stammt aus Bragança in Nordportugal, wächst aber im Ruhrpott auf. „Dadurch habe ich eine ganz andere Schule. In Deutschland gab es natürlich nicht an jeder nächsten Ecke ein Fadohaus. Bevor ich mich mit portugiesischer Kultur auseinandergesetzt habe, war Prince mein erstes Jugendidol, ich hatte viele Einflüsse im Pop“, erinnert er sich im Interview. Doch das Land seiner Herkunft fasziniert ihn bereits, wenn er mit seinen Eltern als Kind die Sommerurlaube dort verbringt, und als Teenager zieht er dann alleine durch die Gassen des nächtlichen Lissabons, dessen Reiz des etwas Kaputten, Morbiden ihn in den Bann zieht. Von Deutschland aus beginnt er, sich für das Erbe seiner Vorfahren zu interessieren, saugt portugiesische Literatur und den Fado auf, sammelt zugleich Erfahrungen am Theater. „Bis heute gehe ich an Texte eher ran wie ein Schauspieler: Was kommt dem Text zugute, wie kann ich das Publikum mit diesen speziellen Versen erreichen? Ich möchte für jeden Song einen anderen Ton finden, jedem Wort seine Schwere geben.“ Auch das hat dazu beigetragen, dass Pires keine typische Fadostimme hat, sich gegen die Vereinheitlichung zur manchmal fast opernhaften Stimmgebung sträubt.

In Berlin startet er damit, Alben aufzunehmen. Experimentiert mit Besetzungen, die es im traditionellen Fado gar nicht gibt, mit Piano und Jazzgitarre. Nie sei es sein Anliegen gewesen, den Fado zu revolutionieren sagt er, er wollte sich lediglich an einen eigenen Stil herantasten. 2009 wird das Heimatland auf ihn aufmerksam und lädt ihn in eine TV-Talkshow. Die Portugiesen sind fast etwas ungläubig, dass da ein Landsmann in Berlin ihre Sprache singt. Telmo Pires fasst nach diesem Erlebnis Mut, siedelt 2011 in seine Traumstadt Lisboa über. „Ich bin hier eigentlich wie ein Außerirdischer im Fado gelandet mit meiner persönlichen Geschichte. Habe wirklich bei null angefangen, bin in den Fadohäusern aufgetreten, habe Kontakte geknüpft und dann den großartigen Produzenten David Zaccharia kennengelernt.“ Mit ihm, der auch mit der Sängerin Dulce Pontes arbeitet, kann er seine Visionen umsetzen.

Bis heute passt Telmo Pires nicht in die Sphäre des Fado hinein, besser: in das, was man für typisch Fado hält. Die Lieder über Sehnsucht nach Verlorenem, aufgeladen mit Metaphern, aber auch über augenzwinkernd erzählte Alltagsgeschichten schälten sich bereits vor 200 Jahren in den Altstadtvierteln heraus, aus brasilianischen und arabischen Quellen vermutlich, auch aus dem Gesang einheimischer Seeleute. In den kleinen Kneipen wird Fado bis heute sowohl von Männern als auch Frauen gesungen. Auf den großen Bühnen aber dominieren die Frauen, und daran ist Portugals Musikikone Amália Rodrigues schuld: Mit ihrer Omnipräsenz ab den 1960ern wurden vormals gar nicht traditionelle Insignien wie das schwarze Kleid und die Stola, auch der Bass neben der spanischen Gitarre und der tropfenförmigen Guitarra Portuguesa verbindlich. Erst recht nach ihrem Tod, als die leere Floskel „legitime Erbin von Amália“ zum höchsten Lob für eine junge Fadista wurde. 2020, zu ihrem 100. Geburtstag, sind Lissabons Bühnen voll mit Widmungen und Musicals, oft von durchwachsener Qualität. „Amália ist mit ihrem Charisma eine Übermutter“, urteilt Telmo Pires. „Das Bild des Mannes ist halt leider verstaubt geblieben: Da steht jemand im schwarzen Anzug auf der Bühne, kommuniziert nicht viel. Egal wo in Europa ich auftrete, kommen nachher Leute zu mir und sagen: ‚Herr Pires, wir wussten ja gar nicht, dass Männer auch Fado singen!‘ Die großen Plattenfirmen können und wollen das nicht verkaufen.“

Telmo Pires: „Sem Peso Ou Medida“
Quelle: youtube

Pires hat das Glück, ein kleines engagiertes deutsches Label gefunden zu haben, das ihm von Beginn an die Treue hält. Ohne dass seine Homosexualität zwingend Thema sein muss in seiner Kunst, geht er gegen das konservative Männer-Image des Genres an, bewegt sich bei seinen Konzerten fast wie ein Schauspieler, erklärt die Stücke, bricht Stimmungen. Sein Outfit mit Bart, Undercut-Frisur und enganliegendem Shirt zielt eher Richtung Jugendkultur. Beim Betrachten des Covers seines neuen Albums Através Do Fado würde man ihn vielleicht eher im Hiphop verorten – auch das wieder ein Stereotyp. Doch er ist sogar zur rein klassischen Fadobesetzung zurückgekehrt, weil er mit ihr heute am intensivsten seine Haltung, seine Stimme transportieren kann.

Die Palette der Stücke zum Beispiel den bedrückenden Klassiker „Medo“ aus dem Repertoire Amálias, in dem er die existentielle Angst und Einsamkeit, die sich abends mit dir ins Bett legt, beklemmend ausformt. Aber er greift mit Carlos Do Carmo auch den großen männlichen Fadista auf, der dieser Tage mit 80 Jahren seine Karriere beendet hat, eine Verbeugung vor der maskulinen Energie im Genre. Auf der anderen Seite interpretiert er mutig eine Ballade der portugiesischen Grand Prix-Teilnehmerin Maria Guinot aus den Achtzigern, hat sie in die Fadobesetzung übergesiedelt. Pires macht keinen Hehl daraus, dass er großer Fan des Eurovision Song Contests ist: „Ich habe dreimal in der EST-Geschichte für meinen Favoriten angerufen, und alle drei Mal hat dieser Song dann gewonnen, das letzte Mal bei Salvador Sobral. Ich sollte mich bezahlen lassen dafür“, lacht er.

Zentral auf Através Do Fado sind aber die Eigenkompositionen, unter ihnen das quirlige „Era Uma Vez“ über die Gentrifizierung, den Ausverkauf Lissabons, an der – unbequeme Wahrheit – die deutschen Easy Jet-Touristen erheblich Mitschuld tragen: „Klar, man muss sehen, dass Portugal am Tourismus verdient und auch deshalb geht es uns besser als vor vielen Jahren“, wägt Pires, der in Graça, einem der betroffenen Viertel lebt, ab. „Doch wenn es so weitergeht, dann ist die ganze Innenstadt sehr bald ein einziges Boutique-Hostel und die Deutschen und Franzosen kommen hierher, um sich gegenseitig anzugucken. Der Charme, den die Stadt in meiner Jugend hatte, die alten, verfallenen Häuser, das verlieren wir rasant.“ Alteingesessene Bewohner werden nach Jahrzehnten mit Ultimaten der Investoren aus ihren Häusern vertrieben, ein ehemaliges Krankenhaus in der Alfama wird zu einer Luxus-Wohnanlage umgebaut. Kürzlich, auch das ist Thema in diesem ironischen Song, wollte er in seiner Stammkneipe einen Cafézinho trinken, doch die neue Bedienung verstand gar kein Portugiesisch.

Telmo Pires sucht Tiefe in seiner Umgebung und im Alltag, sucht Tiefe auch in sich selbst. Das zeigen allein die beiden Songs, die das Album umrahmen, auch sie hat er selbst geschrieben: Am Ende des Werks das ausdrucksstarke A Cappella-Stück „No Espelho“ über das Akzeptieren seiner selbst mit allen Fehlern. Und zu Beginn „Só Meu Canto“: „Es geht darum, dass uns nichts gehört auf dieser Welt. Nicht einmal die Liebe. Uns gehört nur diese innere Stimme. Und durch meine Stimme hindurch sehe ich meine Kunst, meine Musik, mein Leben. Der Fado ist mein Vehikel, mein sehr persönlicher Fado natürlich.“ Dieser sehr persönliche Fado von Telmo Pires, er hat es verdient, den Klischees und Gesetzen der Musikindustrie zum Trotz mehr Gehör zu finden.

© Stefan Franzen, in einer gekürzten Version erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 23.7.2020

Telmo Pires: „Era Uma Vez“
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Neo-Soul-Flow aus London

Als Mitmusikerin von Prince machte sie zuletzt von sich reden, dann war sie fünf Jahre weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Bis sie sich im Februar mit einem Paukenschlag zurückmeldete: Mit dem BBC Symphony Orchestra kleidete Lianne La Havas ihr Repertoire in ein mächtiges, symphonisches Gewand. Zu hören auch einige neue Songs, Vorboten ihres dritten, selbstbetitelten Opus das jetzt erscheint (VÖ: 17.7.). Neue Band, neue Einflüsse von Radiohead bis Joni Mitchell und ein neuer Neo Soul-Flow: Zeit für ein telefonisches Update mit der 30-jährigen Südlondonerin.

„Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukommt, hatte noch niemals zuvor mit einem Orchester gespielt“, erinnert sich La Havas an ihren Abend mit dem Symphonieorchester. „Aber dann: Wow! Das hat mir eine so große Kraft verliehen, fühlte sich so befreiend an und ich war einfach extrem glücklich, mit einem der tollsten Klangkörper der Welt meine Songs zu spielen.“ „Befreiung“ ist tatsächlich auch der Überbegriff für ihr drittes Studiowerk, das sie in L.A. ersonnen, aber in London eingespielt hat.

Es ist mittlerweile schon acht Jahre her, dass die Tochter einer Jamaikanerin und eines Griechen in die Soulwelt mit ihrem Debüt „Is Your Love Big Enough?“ hineinexplodierte. Ihre sonnengetränkte und frische Ausstrahlung setzte sie in trotzigen Soulhymnen mit querstehenden Gitarrenriffs, genauso aber in charmanten, fast jazzigen Miniaturen um. Der Nachfolger „Blood“ peilte coolen R&B an, hatte aber eine etwas glatte Oberfläche. Beide Welten hat Lianne La Havas auf dem dritten Werk austariert. „Das erste Album war experimentell, sprang zwischen allen Genres, die ich mag, hin und her, das zweite war produzierter. Dieses neue Werk liegt in der Mitte, klingt sehr live, hat viele Gitarren, großen Gesang, berücksichtigt aber auch alle meine Studioideen“, analysiert La Havas. Selbstbewusst, aber nicht abgeklärt tönt „Lianne La Havas“. Viele der Stücke wurden in L.A. ersonnen, ihrer Lieblingsstadt zum Abhängen. Eingespielt wurde aber in London, mit Musikern, die von ihrem langjährigen Produzenten und Keyboarder Matt Hales zusammengestellt wurden, aus verschiedensten Bereichen, von Pop über afrikanischer Musik bis zu Jazz, Soul und HipHop.

„Ich wollte zunächst mal austesten, wie ich mit dieser neuen Band im Studio arbeiten kann, dafür nahmen wir uns ‚Weird Fishes‘ von Radiohead vor, einen Song, den ich schon ewig auf der Bühne gespielt hatte“, sagt La Havas. „Es war perfekt! Alle meine Hoffnungen haben sich erfüllt, denn jeder brachte seine Individualität ein. Diese Jungs haben mir wirklich geholfen, meinen Sound zu definieren. Es ist nicht einfach britischer Soul, sondern es klingt durch und durch nach mir.“ Ermutigt durch diese Synergieeffekte, begann La Havas Lyrics zu schreiben, die sehr intim von all dem erzählen, was sie durchlebte während der letzten Jahre. Vom Wiedergewinnen des Selbstvertrauens nach einem Tournee-Burnout im hymnischen „Bittersweet“. Von der liebevollen Erinnerung an ihre verstorbene Großmutter, deren Lebensweisheiten sie mit dem hymnischen „Sour Flower“ ein Denkmal gesetzt hat. Und von neuer Liebe, die sich in „Read My Mind“ mit elegant-süffigem Neo-Soul-Flow die Bahn bricht.

Sie tut das mit einer Stimme, die immer noch ihr unverkennbares Vibrato besitzt, das nur Lianne La Havas hat, die sich aber auch verändert hat: „Meine Artikulation ist viel stärker geworden. Ich lasse keine Töne mehr aus, bin nicht mehr so nachlässig oder zu relaxt. Hoffentlich wird die Stimme, wie sie jetzt ist, für lange Zeit meine Stimme sein!“ Lianne La Havas souliger Planet hat auf diesem dritten Opus auch ein paar überraschende Satelliten eingefangen. „Green Papaya“ ist so ein Song, der unweigerlich an die kanadische Songwriterin Joni Mitchell denken lässt. Und tatsächlich: „Ich dachte immer, ich sei ein großer Joni-Fan, aber während der Aufnahmen lernte ich erstmals ihr Album ‚Hejira‘ kennen. Mir gefiel, wie sie und der Bassist Jaco Pastorius da ganz nackt, ohne Beats zu hören sind. Das inspirierte diesen Song, der ebenfalls ganz ohne Drums auskommt.“ Das ruhige, psychedelisch-folkige „Courage“ hat sie ihrer Liebe zum Brasilianer Milton Nascimento zu verdanken, es ist eine Auslotung der süffigen tropischen Harmonien der 1970er.

Und schließlich kann man immer wieder, in den Gesangsschichtungen und den Gitarrengrooves, auch ihren Mentor Prince durchhören. „Sein Tod war ein Schock für mich und es vergeht keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke“, blickt La Havas zurück. „Jeder spricht von seiner rätselhaften Natur, aber ich entdeckte eine sehr liebevolle Seite an ihm und seinen hartnäckigen Willen, Bewusstsein und Kreativität immer noch mehr auszuweiten. Er unterbrach diesen Prozess in keiner Sekunde. Das kristallisierte sich alles in seiner Forderung heraus: ‚Sei du selbst, und rechtfertige dich niemals dafür.‘ Für mich ist das sein Vermächtnis.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 15.07.2020

Lianne La Havas: „Can’t Fight“
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Wilder Duft aus Marrakesch

Die Veranstalter des kleinen „Rock am Bach“-Festival in Kirchzarten hatten im letzten Sommer den richtigen Riecher. Sie luden ein Quartett namens Bab L’Bluz ein, das mit seiner treibenden marokkanischen Rockenergie frenetisch gefeiert wurde. Dieser Tage bringt die Band ihr Debütalbum heraus – und das gleich mit den höchsten Weltmusikweihen, auf Peter Gabriels Label Real World. Es nennt sich „Nayda!“, ein Begriff, der in Marokko seit der Jahrtausendwende verankert ist. Damals sorgte der Wechsel im Königshaus vom autokratischen Hassan II., der seine Gegner in Kerkern dahinsiechen ließ, zum gemäßigteren Sohn Mohammed VI. für gesellschaftliche Lockerungen.

Und auch für einen Riesenschub der Musikszene: Rapper, Hardrocker und Jazzer vereinten sich in der Nayda-Jugendbewegung, Minderheiten machten sich musikalisch bemerkbar, wie die Berber und die Gnawa, Nachfahren ehemaliger Sklaven, die die Marokkaner aus Schwarzafrika verschleppt hatten. „‚Nayda!‘, das heißt im Darija, dem marokkanischen Arabisch, zum einen ‚Party‘, zum anderen steht es für intellektuelles Aufwachen, für eine aufrechte Haltung, dafür, nicht einfach der Schafherde hinterherzulaufen“, sagt Yousra Mansour, Frontfrau von Bab L’Bluz.

Die quirlige Sängerin wuchs im libertären Geist von „Nayda“ auf. Schon die Eltern hörten einen Mix aus Led Zeppelin, Michael Jackson und klassischer arabo-andalusischer Musik. Jedes Jahr pilgerte sie nach Essaouira, um im Team des weltweit bekannten Gnawa-Festival mitzuhelfen. „Ich wurde immer mehr von dieser Musik in den Bann gezogen“, erzählt sie im Telefoninterview. Was wenig erstaunt bei den kreisenden Beschwörungszeremonien, die charakteristisch sind für die Gnawa. „2017 habe ich das Spiel auf der Gimbri begonnen, die Basslaute der Gnawa, und wurde in Marrakesch für ein Gnawa-Jazz-Projekt angefragt.“ Dort lernt sie den Franzosen Brice Bottin kennen, mit ihm, dem Drummer Hafid Zouaoui und dem Flötisten Jérôme Bartolome formt sie schließlich das Quartett Bab L’Bluz.

„Wir verstehen uns als erweitertes Powertrio im Geiste der Bands von Jimi Hendrix. Die Grundenergie heißt Rock, aber dann kommen Zutaten aus den marokkanischen Provinzen, aus der Gnawa- und Berbermusik, aus der Poesie der Hassania in Mauretanien dazu“, erläutert sie den Stilmix. „Bab L’Bluz“ bedeutet „Tor zum Blues“, zum afrikanischen freilich, viel älter als sein US-Bruder. Es packt einen beim Hören des Albums, etwa im ekstatischen Mondlied „El Gamra“ oder dem psychedelischen „Ila Mata“. Denn Bab L’Bluz heben sich aus der Fülle der oft behäbigen, ewig in Fünftonskalen kreisenden Desert Blues-Bands knackig heraus. Das liegt an der Kombination der Gimbri und der kleineren, eine Oktave höher gestimmten Awicha, sie übernehmen die Rollen von E-Bass und Stromgitarre, tönen aber weitaus ruppiger, trockener. Darüber legt Yousra Mansour ihre melismatischen Vocals, rauchige Flötengirlanden umschweben sie.

Bab L’Bluz: „El Watane“
Quelle: youtube

„Man hört dem Album eine gewisse Schizophrenie an“, lacht Mansour. „Ausgearbeitet wird das Rohmaterial im modernen Lyon, unserer zweiten Heimat, aber die Entwürfe der Songs passieren in Marrakesch, dieser sehr traditionellen und touristischen Stadt.“ Marrakesch mit seinem verwirrenden Gemisch aus Volksgruppen, Klängen und Düften gilt auch als „Tor zur Wüste“, und der Saharawind weht ständig hinein in die Songs von Bab L’Bluz. „Ich habe eine große Verehrung für die Kultur der Hassania in Mauretanien“, sagt Mansour. „Ein Song geht auf die Tebraa-Poesie der mauretanischen Frauen zurück, die in einer sehr konservativen und patriarchalen Gesellschaft ihre eigene Liebeslyrik als Geheimbotschaften an die Verehrten entwickelt haben.“

Die Frauen, das ist auch Mansours Einschätzung, haben sich generell in den letzten Jahren ihren Platz in der marokkanischen Musikindustrie erobert. Doch in anderen Belangen hat die Staatsführung bei aller Imagepflege in Richtung Europa im Innern wieder den Rückwärtsgang eingelegt. Konnte der als Versöhner geltende König Proteste während des „Arabischen Frühlings“ 2011 noch mit Verfassungsreformen im Zaum halten, hat sich seit 2016 ein neuer Widerstandsgeist in der Bewegung „Hirak El-Shaabi“ formiert – als Antwort auf die Unterdrückung der Berber im Rif-Gebirge, auf Polizeigewalt, Korruption und auf die Beschneidung einer regierungskritischen Presse bis hin zur Inhaftierung von Aktivisten und Journalisten.

Yousra Mansour äußert sich vorsichtig: „Niemand verbietet in Marokko den Ausdruck künstlerischer Freiheit. Man darf seinen Ärger immer höflich zur Sprache bringen, aber natürlich nicht zur Gewalt aufrufen.“ Und sie gibt zu bedenken: Kein Land auf der Welt sei doch frei von Mechanismen der Manipulation. Das ungezähmte Erbe der Nayda-Bewegung, es ist bei Bab L’Bluz also vielmehr musikalisch als politisch zu verstehen. Und so sind auch die Zeilen ihrer Single “Ila Mata” heute beileibe nicht nur auf Marokko anwendbar: “Eine Furcht ist in uns gewachsen, unsere Gehirne sind Gefangene geworden und unsere Unterschiede werden kriminalisiert. Wie lange noch wird Ungerechtigkeit herrschen? Wie lange noch wird Gewalt glorifiziert?“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 12.06.2020

Radiotipp!
Am Dienstag, den 16.6. sind Bab L’Bluz in SRF 2 Kultur im Rahmen der Sendung Jazz & World aktuell mit meinem Beitrag zu hören (Wdh. am Freitag, den 19.6. ab 21h)

Bab L’Bluz: „Ila Mata“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #14: Aus dem Sternenstaub


Heute sollte das Jazzfestival in Schaffhausen mit einem Release-Konzert der Schweizer Musikerin Yumi Ito starten. Pandemiebedingt hat sich die Leitung entschieden, die Künstler in einem Digitalformat ihre Konzerte in reduzierter Form präsentieren zu lassen. Yumi Ito wird heute Abend 45 Minuten hier online mit ihrem Set zu hören sein, als Vorgeschmack auf ihr Orchestra-Album
Stardust Crystals. Die eigentliche Veröffentlichung soll nun im September erfolgen, das neue Releasekonzert ist in ihrer Heimatstadt Basel für den 25.9. angesetzt, Infos folgen. Anlässlich des Schaffhausener Sets teile ich hier meinen Artikel aus dem Programmheft, der nach einem Interview mit ihr in Basel entstand.

„Ich habe am Rheinufer auf einer Wiese gelegen und in den blauen Himmel gestarrt“, erzählt Yumi Ito. „Und da habe ich plötzlich Klänge gehört, hatte die Vision von einem größeren Ensemble, das meine Songs spielt. Doch wie ich da hinkommen sollte: keine Ahnung!“ Der Weg zur Verwirklichung dieser Vision, er war spannend und gewunden. Doch am Ende führte er hinein in dieses gelungene Abenteuer voll eigenwilliger Zwischentöne und kleiner Geschichten mit Unebenheiten, mit Vertiefungen. Die 29-Jährige liebt das, was nicht allzu offensichtlich ist – und mischt daraus eine wunderbare, einzigartige Palette.

Um Yumi Itos Klangphilosophie zu verstehen, hilft es, in ihre künstlerische Biographie einzutauchen: Mit einer polnischen Mutter, Konzert- und Opernsängerin sowie Gesangspädagogin, und einem japanischen Vater, Konzertpianist, könnte die musikalische Laufbahn ja fast vorgezeichnet sein. Die Liedzyklen von Chopin schweifen durchs dreisprachige Elternhaus, in dem auch Fernost nachhaltig zu ihrem Erbe beiträgt: „Japan hat mich vielleicht durch die Art, wie ich denke und wie zielstrebig ich meine Projekte verfolge, geprägt. Das Geordnete, das Repetitive zieht mich an, dieses Minimalistische, das es auch im japanischen Design und bei japanischen Komponisten gibt.“

Doch neben ihren klassischen Pianostunden und dem mütterlichen Gesangstraining interessiert sich die Teenagerin bald für Pop-Vocals, fürs Keyboardspielen, hört Punkrock, sie will eine kräftige, soulige Stimme haben. Aber sie entdeckt auch – durch die Bossa Nova und Sängerinnen wie Gretchen Parlato – dass man die Stimme sprechend nutzen kann, nicht so voluminös singen, keine Verzierungen machen muss. Fürs Studium sucht sie sich den Jazz aus, findet als Leitsterne Ella Fitzgerald, Bobby McFerrin und Al Jarreau, letzterer ist als Juror bei einem Wettbewerb in Montreux begeistert von ihr. Der Jazz, er ist ja nur ein Gefäß, das ihr die größtmöglichen Freiheiten gibt: „Schon als Kind, als ich noch gar nicht wusste, dass es verschiedene Stile gibt, habe ich improvisiert und ich tue es bis heute fast täglich. Mich faszinieren diese Reibungen im Jazz, diese speziellen Akkorde, die ja auch im Impressionismus schon da waren. Aber gleichzeitig ist meine Musik auch viel vom ‚Nicht-Jazz‘ geprägt. Starke, eingängige Melodien sind mir wichtig, und mein Wunsch ist es, beides zu kombinieren, Komplexität mit Eingängigkeit zu verbinden. Es geht mir ganz klar darum, mich zu lösen vom Genre-Denken.“

Und das tut sie „breitbandig“: In Zürich, an der Hochschule der Künste, und in Basel am Jazzcampus lotet sie mit prominenten Lehrer*innen wie Lisette Spinnler, Guillermo Klein, Lucas Niggli und Mark Turner Komposition, Gesang und freie Improvisation aus. Natürlich auch die Standards: Doch die dehnt sie 2016 auf ihrem Debüt „Intertwined“ mit ihrem Quartett schon auf neunminütige, aufregende Gebilde. Und immer mehr – da ist der Hang zu starken Melodien – zeigt sich, dass sie kleine Geschichten aus ihrem Alltag und ihrem Umfeld in eigenen Songs festhalten und erzählen möchte, sie schreibt sie zunächst am Klavier. „Songs helfen mir, mich zu reflektieren. Ich kann regelrecht süchtig nach einem Song werden, der mir gefällt, höre ihn dann hundertmal“, gibt sie lachend zu. Der Campus mit seinem internationalen Studentenflair direkt am Dreiländereck bietet der „Nomadin im Herzen“ (Ito über Ito) für all das einen fruchtbaren Boden: Hier kann sie sich in den unterschiedlichsten Konstellationen, mit Gleichgesinnten aus allen möglichen Ländern auszuprobieren. Und als sie schließlich 2017 ihr grandioses Abschlusskonzert gibt, leitet sie fast ein Dutzend junger Musiker aus sieben Nationen an: Da steht schon die Urformation ihres eigenen Orchestra auf der Bühne.

Wir kehren zurück zur intuitiven Visionärin am Rheinufer die nicht weiß, wie die orchestralen Klänge in ihrem Kopf Wirklichkeit werden können. „Es erschien mir sehr unrealistisch“, erinnert sich Ito. „Doch dann habe ich mit meinem Cellisten Jo Flüeler darüber geredet, und der ermutigte mich: Mach einfach!“ Autodidaktisch schafft sie sich ein Arrangierprogramm drauf, beginnt, ihre Songs für Streicher zu setzen. Um die Musiker zusammenzustellen, nutzt Ito all ihre Kontakte von den Hochschulen, knüpft Querverbindungen zwischen all den prägenden Klangstationen ihrer Vita. Immer mehr Instrumente aus ihren akustischen Kopfgebilden kommen dazu, und die sind eher ungewöhnlich. Nein, eine Jazz-Bigband ist das definitiv nicht! Eher ein Large Ensemble, das mit einem Bein in der Kammermusik eines Claude Debussy steht, mit Harfe, Vibraphon und Flöte. „Mein Vater hat neben Klavier auch Flöte studiert, ich bin also als Kind ständig mit ihrem Klang in Berührung gewesen“, erklärt Yumi Ito ihre Vorliebe fürs Filigrane und zitiert auch die feingewobene Textur in den Werken von Toru Takemitsu als Einfluss.

Und so nehmen ein Repertoire, ein Bühnenprogramm, ein Album Gestalt an, der Titel „Stardust Crystals“ kristallisiert sich heraus. „Wir alle sind gemacht aus Kristallen von Sternenstaub“, heißt es im Titelsong. „Jeder verschieden und einzigartig, still aus dem Himmel herabfallend und in der Ewigkeit herumwirbelnd.“ Das könnte auch eine poetische Beschreibung für ihre Songs sein. Denn viele von ihnen, am Klavier noch embryonal und schlicht, wechseln jetzt ihren Aggregatzustand, werden hinggeweht zu anderen Färbungen und Harmonien, gehen manchmal abenteuerliche Wege der Metamorphose. „Meine Stücke funktionieren auch in ganz reduzierter Form, solo oder im Trio mit meinem Bassisten Kuba Dworak und Iago Fernandez am Schlagzeug“, sagt Ito. „Aber zu hören, wie sie orchestral erblühen können, mit so vielen wunderbaren Musiker*innen, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auf der Bühne zu spüren, das ist das Größte.“ Und diese Zusammengehörigkeit heißt auch: Jedes Bandmitglied ist in den ausdifferenzierten Arrangements gleichberechtigt, Jeder und Jedem ist der Part auf den Leib geschneidert, wird Raum für Soli eingeräumt. Stücke beginnen mal mit Geige, Viola und Cello, mal nur mit Harfe oder Array Mbira, mal mit Bassklarinette und Drums. Reizvolle Dialoge zwischen den Instrumentengruppen sind auskomponiert, man kann sie im Konzert geradezu räumlich miterleben.

Schauen wir uns doch ein paar dieser wirbelnden Sternenstaub-Kleinode näher an: Diese unbeschreibliche Kreuzung aus Empfindsamkeit und hymnischem Ton im Titelstück, sie erinnert an das Song-Universum von Björk. Die Streicherversionen aus dem Schaffenskatalog der Isländerin haben Ito in den Bann gezogen, genau wie die machtvolle nordische Sphäre der Insel selbst – drei Mal ist sie inzwischen da gewesen im Rahmen einer Künstlerresidenz. Ein Streichtrio nicht als romantischen Teppich auszurollen, sondern es in die rhythmische Arbeit miteinzubeziehen, da ist sie Björk wesensverwandt. Und auch in ihrer Eigenart, die Natur als beseelt zu sehen, die Zerbrechlichkeit des Planeten poetisch einzufangen. „Wir denken, wir sind die Könige der Erde, dabei zerstören wir unser eigenes Königreich“, so die Schlusszeile in dem Song, der von einer TV-Doku über die Arktis seinen Impuls empfangen hat.

Yumi Ito spürt, dass sie mit ihrer Musik immer wieder Geschichten erzählen will, die dem Innenraum, der Stille eine Stimme geben. Denn eine ähnliche ruhige Naturverbundenheit wohnt im „Old Redwood Tree“, ein Song, der so natürlich fließt, dass man seine ungerade Taktart gar nicht mehr wahrnimmt. In einer Frühversion kam der Groove noch vom Klavier, jetzt ist er auf die glasig-transparente Klangfarbe der Array Mbira, ein Daumenklavier des 21. Jahrhunderts von Izabella Effenberg übertragen. „Inspiriert ist das Stück von den Muir Woods in San Francisco, diesem Park von Mammutbäumen, der mich so beeindruckt hat, dass ich dachte, die Bäume sprechen zu mir“, so Itos Überzeugung. „Ich glaube, das Kristalline des ganzen Albums wird gut repräsentiert in diesem Stück.“ Und dann springt einen plötzlich ein Song mit einer kapriolenhaften, textlosen Melodie an, ein Ohrwurm, der sich festbeißt: „What Seems To Be“, entstanden aus einer ihrer vielen Improvisationsschnipsel, die Yumi Ito tagtäglich auf ihrem Smartphone aufzeichnet.

Sie singt das mit einer wie verwandelten Stimme – alles Nachdenkliche macht purer Freude und überschwänglicher Sinnlichkeit Platz. Dabei sind die Lyrics hintergründig: Es ist nicht alles so, wie es scheint, wir sollten zweimal hinschauen und immer kritisch bleiben. In dies Stimmungslage passt auch „Little Things“, ein Song darüber, wie wesentlich die kleinen Dinge im Leben sind, wie wichtig es ist, zu sich selbst zu stehen, Probleme mitzuteilen – gerade in Zeiten persönlicher Bedrängnis. Und genau darum geht es ihr auch in der Musik: das Anderssein, das Abweichen von der Coolness zulassen, nicht die glatte Fassade vorzuspiegeln. Man könnte auch sagen: die besonderen, auch schmerzlich gelebten Töne feiern.

„Schon als Kind habe ich mich als Sängerin und Schauspielerin gesehen, und diese schauspielerische Seite in mir ermöglicht es mir, dass ich in verschiedene Rollen schlüpfe. Doch ich bin dabei immer ich selbst“, erklärt Ito ihre vokale Wandlungsfähigkeit. Die sich in einem anderen Stück in Vollendung zeigt, ein Stück, dass unversehens wie ein Fremdkörper hereinplatzt: Der „Spaziergang in Prag“ ist eine Gruselmär‘ mit freier Vokalimprovisation, Kafka-esk und Zapppa-esk zugleich, ein mal schleichender, mal sprunghafter Gang durch die Gassen. Hinter jeder Ecke scheint der Golem zu lauern, wenn sich die Gesangslinien katzenhaft winden, ein plappernder Scat vom Zaun gebrochen wird, das Orchester sich in Kollektivimprovisation aufbäumt. Dieses Stück „Programmmusik“ spiegelt Yumi Itos Vielseitigkeit am überraschendsten wider.

Wo wird es für Yumi Ito hingehen? Das wagt man kaum vorherzusagen. Ihre Musik wird jedenfalls immer eine Weltsprache sein. Die Nomadin bekräftigt, es führe sie regelmäßig in die Ferne, um sich Inspirationen zu holen. Reisen sieht sie – nicht nur für eine Künstlerin – als Nährstoff: „Es erlaubt mir, anders auf die Schweiz zu schauen, vielleicht auch mehr zu hinterfragen, auch die positiven Dinge hier stärker wahrzunehmen“, sagt die erklärte Liebhaberin des interkulturellen Basels. Nicht zuletzt diese Vielfalt am Rheinknie spiegele sich in der außergewöhnlichen Instrumentierung ihrer Orchestermusik. In den kleinen Unebenheiten, Vertiefungen. Und aus diesen erwächst: große Musik.

© Stefan Franzen, erschienen im Programmheft des Jazzfestivals Schaffhausen

Hier nochmals der Hinweis: Yumi Itos Live-Set heute Abend, Mittwoch, den 13.5.2020 zwischen 21h15 und 22 h zu hören:
https://live.jazzfestival.ch/

Saint Quarantine #7: Ein Kyrie mit Rabih

Die Würdigungen ausgefallener Konzerte betreffen heute das Jazzhaus Freiburg: Dort hätten wir in normalen Zeiten am heutigen Sonntagabend den libanesischen Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil erleben dürfen. Wir hatten verabredet, dass wir uns da endlich auch mal persönlich kennenlernen. Wir holen das nach, lieber Rabih! Aus gegebenem Anlass kommt hier nochmals der Artikel, den ich im letzten Sommer nach meinem Telefoninterview fürs Jazz thing geschrieben habe.

In seiner reiferen Phase hat Rabih Abou-Khalil zu einem anderen Schaffenstempo gefunden. Sieben Jahre Albumpause gab es seit „Hungry People“, sein neues Werk The Flood And The Fate Of The Fish (enja) hat er entspannt zuhause eingespielt. Stefan Franzen unterhielt sich mit ihm über das Lebensgefühl in Frankreich, den Klang der Bass-Oud, knusprigen Studiosound und Orson Welles‘ Werbespots.

„Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was bei der Sintflut mit den Fischen passiert?“ Rabih Abou-Khalil lacht herausfordernd, im Hintergrund hört man die Brandung der Côte d’Azur. „Ich habe richtig Ärger gekriegt, als ich die Frage gestellt habe. Für mich ist sie ein Sinnbild dafür, wie wir als Menschen vor offensichtlichen Tatsachen und Problemen die Augen verschließen, wenn wir ein anderes Ziel haben.“ Den Elefanten im Raum nicht sehen wollen – das gilt im Privaten genauso wie auf klimapolitischer Ebene, selbst wenn es um unser Überleben geht. Doch Abou-Khalil ist kein strenger Mahner, bei ihm spricht die Musik für sich, Titel für seine Stücke und Alben findet er oft erst im Nachhinein, und die können dann schon mal humoresk bis sarkastisch ausfallen.

Das Meeresrauschen als Background für unser Gespräch schmeckt nach Urlaub. Hat sein neuer Wohnsitz bei Cannes auf seine Musik abgefärbt? „Ich bin ja nicht mit zwanzig hier hingezogen, wo ein Ortswechsel dich noch verändert“, sagt der Libanese. „80 Prozent der Leute, die hier leben, kommen gar nicht von hier. Südfrankreich ist, abgesehen von den großen Städten, ein kulturelles Vakuum, und das gefällt mir, denn ich habe hier völlige Freiheit zu tun, was ich will.“ Es ist ein wenig paradox: Mit sieben Musikern sind so viele Künstler an einem Abou-Khalil-Album beteiligt wie schon lange nicht mehr, neben den festen Triomitgliedern Jarrod Cagwin (dr) und Luciano Biondini (acc) sind Saxophonist Gavino Murgia und Ney-Virtuose Kudsi Ergüner dabei, eine zentrale Rolle spielt der portugiesische Fadista Ricardo Ribeiro und ganz neu in Abou-Khalils Arche ist die Japanerin Eri Takeya, die als klassische Violinistin lange Haltetöne als Textur für die vielen kurztönigen Instrumente lieferte. Trotzdem klingt alles durchlässiger, intimer.

Das liegt daran, dass von Stück zu Stück die Konstellationen wechseln, nie alle gleichzeitig spielen. „Ich habe viele Stücke mit verschiedenen Besetzungen versammelt, an denen ich parallel gearbeitet habe. Aber ich wollte keine drei CDs rausbringen, und so entstand die Idee mit den kammermusikalischen Gruppen. Und wichtig war mir, dass das nicht an zwei oder drei Tagen gemacht wird, sondern dass wir uns Zeit nehmen, und zwar bei mir zuhause, wo wir zusammen essen, leben und aufnehmen. Ich denke, das hört man auch.“ „Kammermusikalisch“ heißt allerdings nicht, dass das Werk einen besonders intimen Sound hätte, im Gegenteil. Günther Kasper, der die Aufnahmen nach dem Tod des langjährigen Pultmannes Walter Quintus beendete, hat einen präsenten, rockigeren Sound rausgekitzelt. „Knuspriger!“, sagt Rabih Abou-Khalil, und spielt damit auf ein grandioses, zickzack-metriges Stück namens „Crisp Crumb Coating“ an – den Titel hat er einem Commercial von Orson Welles für Fischstäbchen entlehnt. Da sind sie schon wieder, die Fische.

Ganz wesentlich prägt den Sound auch eine instrumentatorische Neuerung: „Seit vielen Jahren habe ich eine Bass-Oud, die eine Oktave tiefer gestimmt ist“, verrät Abou-Khalil. „So ein Instrument wurde schon vom arabisch-persischen Philosophen und Wissenschaftler Al-Farabi im Mittelalter beschrieben. Ich habe mir das damals von meinem Instrumentenbauer in München fertigen lassen, aber es war so groß, dass ich nicht darauf spielen konnte. Jetzt habe ich mich konsequent dahintergeklemmt, und siehe da: Der Körper passt sich an alles an!“ Da Michel Godard mit seinem Fuhrpark an Bassinstrumenten dieses Mal nicht dabei ist, haben alle, Abou-Khalil selbst, Akkordeonist Biondini und auch Schlagzeuger Jarrod Cagwin Bass-Funktionen übernommen.

Zentral aber sind die Gesangsstücke: Abou-Khalils long time companion Ricardo Ribeiro glänzt in einer Vertonung des bekannten, religionskritischen „Kyrie“ vom Poeten Ary Dos Santos, in „Falso Amor“ führt er die Hörer zurück in die Zeit, als Portugal arabisch war, und bei „Grãos De Area“ stellen sich Ribeiro und Kudsi Ergüner auf einen Dialog zwischen Stimme und Flöte ein – für beide eine chromatische Herausforderung. Ribeiro, so Rabih Abou-Khalil, habe es auch dieses Mal wieder geschafft, den Fado zu transzendieren. „Diese Fähigkeit, über das hinaus zu gehen, was das Ureigene ist, aber gleichzeitig nie das zu verlieren, was einen auszeichnet: Die suche und schätze ich bei vielen Musikern, mit denen ich arbeite. Ich glaube, ich habe ein besonderes Talent das zu erkennen.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #130

Rabih Abou-Khalil: „Kyrie“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #6: Anwältin der Menschlichkeit

Awa Ly
Safe & Sound
(Flowfish Records/Broken Silence)

Heute hätte die Senegalesin Awa Ly das Tollhaus Karlsruhe beehrt, um ihr neues Album Safe & Sound vorzustellen. Aus bekannten Gründen wird das nicht passieren. Als kleinen Ersatz hier mein Porträt dieser grandiosen Künstlerin, die wir hoffentlich nach überstandener Pandemie mit einem Ersatzkonzert begrüßen dürfen. Alles Gute nach Italien, Awa! Und bitte schaut mal auf der Seite des Tollhauses vorbei, das eine Fülle an Streams und Podcasts während dieser schwierigen Wochen anbietet. Auch Awa Ly sendet uns hier ihre musikalischen Grüße.

„Dass man im Jahre 2020 darum noch kämpfen muss! Dafür habe ich keine Worte.“ Mehrmals sagt Awa Ly das während unseres Interviews. Die Senegalesin mit Wohnsitz Italien ist eine Anwältin für die Menschlichkeit, und das probate Mittel für ihren Kampf ist Musik, denn damit, so ihre Überzeugung, könne man eben am direktesten die Herzen erreichen. Nachdem sie auf ihrem Debüt Five And A Feather, das sie 2017 im Jazzhaus und auf dem Stimmen-Festival vorstellte, noch eher akustisch unterwegs war, hat sich ihr Sound mit dem Produzenten Polérik Rouvière jetzt merklich verändert. „Schon als ich die ersten Lieder schrieb, fühlte ich eine hypnotische, berauschende Rhythmik in mir“, erklärt sie. „Eine Rhythmik, die mich an die Erde erinnert, fast tribal ist, aber nicht nur im afrikanischen Sinne. Denn der Rhythmus spielte ja seit der grauen Vorzeit in der Menschheitsgeschichte immer eine Rolle, wenn man sich in einen anderen Zustand, eine Trance versetzen wollte.“

Tatsächlich sind die Songs auf Safe & Sound geprägt von Call and Response-Chören, von jeder Art von perkussiver Gestaltung bis hin zu Klatschen und Trommeln auf der Wasseroberfläche, aber auch dem dezenten Gebrauch von Elektronik. Den Gegenpol stellt ein Streichquartett dar, das in einigen Songs für eine europäische Akzentuierung sorgt. „Ich bin sehr zufrieden mit dem Gleichgewicht, das wir da gefunden haben“, sagt Awa Ly, für die die Arbeit mit klassischen Streichern ein Premiere war, bei der sie viel gelernt habe.
Awa Ly sieht sich als eine moderne Schamanin, die ihrem Publikum mit jedem Song eine kleine Frage mit auf den Weg gibt, Fragen nach dem Platz des Einzelnen in seiner Umgebung, in der Natur, ja, im Universum. „Es ist eine Einladung zur Innenschau, dafür, dass du dich selbst kennenlernen kannst. Erst einmal für seine Seele zu sorgen hat nichts mit Egoismus zu tun, erst wenn du dich selbst kennst, kannst du Neugier für die anderen entwickeln.“ Diese Innenschau fehlt heute, so sagt sie.

Ein schönes Sinnbild dafür ist das Video zu ihrer Single „Close Your Eyes“. Lange Reihen von Menschen stehen da in einer Lagerhalle, sie starren auf ihre Smartphones, aber ihre Augen sind verbunden. „Das Smartphone ist nur ein Symbol für alle Bildschirme, Radios, Zeitungen, aus denen gefilterte Infos auf uns einströmen, die wir für bare Münze nehmen. Es ist wichtig, dass wir uns selbst befragen, was davon uns guttut. Der feine Unterschied zwischen anschauen und hinschauen.“ Vorbild ist für sie etwa die sudanesische Freiheitsaktivistin Alaa Sanah, die durch flammende Reden die Bevölkerung für ihre Selbstbestimmung wachrüttelte, und die sie im Clip zu „Close Your Eyes“ verkörpert. Vorbild ist aber auch eine ungenannte spirituelle Leitfigur, der sie den Song „Mesmerizing“ gewidmet hat, weil sie sie durch die Entwicklung des Albums begleitet hat. „Mir geht es nicht um feministische Appelle“, stellt Awa Ly klar, „ich kämpfe für die Menschlichkeit an sich. Aber natürlich bin eine Frau, fühle als Frau, und ich fühle, dass ich das Recht habe, alles zu tun. Bedauerlicherweise gilt das ja noch lange nicht für alle Frauen.“

Dass Awa Ly ihre neue CD Safe & Sound genannt hat, war eine Art Eingebung, wie sie sagt. Nach den Aufnahmen stand ihr diese Zeile förmlich vor Augen. Ihre Musik begreift sie als Schutzraum, eine Sicherheitszone, in die man eintauchen kann, wenigsten für die Zeit des Hörens. Für Ly, die sich als Senegalesin mit Lebenszentrum Europa für die Geflüchteten engagiert, ist es unbegreiflich, dass über das Ob und Wie der Rettung von Menschen aus dem Mittelmeer debattiert werden muss. „Ich habe das Privileg, dass ich nicht aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Problemen heraus fliehen musste. Daher habe ich die Verpflichtung, denen Halt zu geben, die dieses Glück nicht haben.“

© Stefan Franzen

Awa Ly: „Mesmerizing“
Quelle: youtube

Ein Zaun wird Wasser

„Ein Zaun schützt die Menschen. Menschen schützen den Zaun. Ein Zaun schützt einen Zaun. Er kommt, um Menschen zu berühren, um Menschen zu verwandeln.“ Das sind die ungewöhnlichen arabischen Eingangszeilen des neuen Masaa-Albums Irade. Und weiter: „Dein Zaun ist klares Wasser, dein Zaun ist Licht und Schatten, und das ist alles Freude.“ In einer Welt, in der die politische Großwetterlage allerorten auf das Errichten von Mauern und Zäunen ausgerichtet ist, sind das sehr optimistische Verse.

„Ich mag es, das Sinnvolle zu suchen in Dingen, die ohnehin existieren. Wenn man etwas verteufelt, dann wird man so verbittert, dass man nicht mehr drüber wegkommt“, sagt Rabih Lahoud im Interview. „Ich denke oft darüber nach, warum das auch in Deutschland immer öfter passiert, dass man andere Menschen ausgrenzt. Aber dann sehe ich immer wieder die Menschen dahinter. Die Menschen, die ausgrenzen, sind auch Menschen, und ich versuche, keine Verbitterung in mir aufzubauen, sie nicht als unwürdig einzustufen. So kann die Tat der Ausgrenzung verwandelt werden, sie soll fließen, damit sie weggeht, weitergeht, vorankommt, wie Wasser.“ Lahoud hat sich schon auf den letzten drei Alben als pointierter Poet in mehreren Sprachen hervorgetan. Mit Worten setzt er kurze, prägnante Akzente, über die man lange nachdenken kann. Dieses Dichten hat sich im wahrsten Wortsinn auf Irade nochmals „verdichtet“, wie Haikus, die japanischen Kurzzeiler schweben sie im Raum, um sie herum lange wortlose Passagen mit seiner empfindsamen, seelenvollen Stimme.

Der Weg zu diesem neuen Werk allerdings war nicht geradlinig. Masaa mussten den Weggang von Clemens Pötzsch am Klavier verkraften, sich erstmal neu sortieren. „Es kam für uns sehr überraschend“, erinnert sich Trompeter Marcus Rust zum Ausstieg des Tastenmannes. Die drei verbliebenen Musiker, neben Lahoud und Rust der Drummer Demian Kappenstein, berieten sich über das weitere Vorgehen. Ein neuer Pianist wäre nur mit dem alten verglichen worden. Und so fiel die Wahl auf einen alten Bekannten, den Gitarristen Reentko Dirks, der Masaa schon immer als seine Lieblingsband bezeichnet hatte und eine Vorbildung in orientalischer Musik hatte. „Seine Gitarre hat zwei Hälse“, erläutert Rust, er hat andere Spielmöglichkeiten, Vierteltöne zum Beispiel, und er kann ähnlich wie eine Oud, aber auch wie ein Bass klingen.“ Dirks, so sind sich alle einig, spiegele den Geist der Band wider, Dinge zu verbinden, das arabische Skalensystem des Maqam mit Flamenco-Power und ganz intimen, lyrischen Ideen. „Reentko kann sich von diesem Fee-artigen Wesen zu einem energetischen Rocker wandeln“, lacht Lahoud. „Aber insgesamt öffnet die Gitarre die zarten Welten noch mehr. Wenn ich mich darauf einlasse, was Reentko macht, dann merke ich, dass auch meine Stimme noch mehr in die leisen Nuancen hineingehen kann.“

Es sind besonders diese Passagen, die Irade zu einem sehr bewegenden Album machen: Zentral ist da ein Stück namens „Herzlicht“ , in dem Lahouds Stimme förmlich leuchtet. Kein anderes Stück trägt einen deutschen Titel, und als deutscher Hörer ertappt man sich natürlich dabei, auf ein paar Zeilen in der Muttersprache zu warten. Doch die kommen nicht. Ein wunderschöner textfreier Melodiefluss mündet am Ende in eine Kurzbeschreibung einer Seelenlandschaft im Stile von Khalil Ghibran. „Wenn mich Leute am Telefon hören, rechnen sie nicht damit wie ich aussehe“, erklärt Lahoud dieses Spiel mit den Idiomen. „Wenn sie mich dann treffen, ist das ein Riesenkonflikt zwischen dem, was an mir deutsch ist und was libanesisch sein sollte. Mit dieser Erwartung spiele ich auch bei diesem Stück. Der Konflikt ist von mir so gewollt: Denn am Ende geht es doch einfach darum, das zu genießen, was man schön findet, beide Welten in der Schönheit ihres Seins zu lassen.“

Verschiedene Welten zuzulassen, so wie sie sind – wenn das eine Maxime von Masaa ist, versteht man auch, warum sie sich in einem anderen Stück dem Philosophen und Wissenschaftler Averroes (Ibn Ruschd) nähern, der in Córdoba die Blütezeit des zwar nicht immer reibunglosen und friedlichen, aber trotzdem belebenden und fruchtbaren Miteinanders der Volksgruppen und Religionen im maurischen Andalusien mitgestaltete. Marcus Rust hatte diese Komposition ursprünglich fürs Pergamonmuseum Berlin geschaffen. Lahoud findet es bemerkenswert, dass nicht nur die Glaubensrichtungen, die sich heute wieder verstärkt „bezaunen“ vor 1000 Jahren größere Nähe hatten, sondern auch die Kunst eine enge Nachbarin der Wissenschaft war. „Dinge nicht so auseinanderzudividieren, das fasziniert mich und entspricht auch meinem inneren Wunsch, so zu sein. Und da hat die Musik die Kraft zur Vermenschlichung der Gesellschaft, denn sie braucht nicht das kognitive und analytische ‘Wer bin ich‘ und ‚Wo gehöre ich hin‘. Immer wieder erlebe ich Menschen, die berührt sind von einer Art von Musik, die sie vorher noch nie gehört haben.“

Masaas Album Irade bietet durch die vielen Verknüpfungen der Welten eine Chance zur Verständigung jenseits der Worte. Dabei lässt diese Musik durchaus auch den Schmerz zu. Etwa, wenn in „Lullaby For Jasu“ ganz offen der Krieg thematisiert wird. Rabih Lahoud ist im libanesischen Bürgerkrieg aufgewachsen, seine Eltern leben immer noch in Beirut und bekommen die derzeitigen Unruhen hautnah mit. „Ich dachte, ich hätte mehr Distanz durch mein Leben in Deutschland. Ich merkte, wie ich mich innerlich distanzieren musste, um wieder funktionieren zu können und nicht in dieser Kriegsstarre zu sein“, bekennt er. „Doch ich merke, wie ich jetzt wieder von den Nachrichten aufgesogen werde, wie diese Starre nie richtig weggeht und wie man das immer wachhalten soll, damit ein Krieg nie wieder geschehen kann.“ Bei Masaa nutzt Lahoud seine Talente für den Frieden auf eine denkbar schöne Weise.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

Masaa: „Herzlicht“
Quelle: youtube

Das Schöpfen aus Armeniens Erbe


aktueller Konzerthinweis: Das Naghash Ensemble tritt am 23.1. im Freiburger E-Werk auf!

Welche Kultur kann von sich behaupten, sie wüsste, wie ihre Musik vor 1500 Jahren klang? Als eines der ganz wenigen Länder ist Armenien in dieser glücklichen Lage. Sowohl in den sakralen als auch weltlichen Aspekten gehören die Klangschätze der Kaukasusrepublik zu den faszinierendsten der Welt. Den Namen des 1947 gestorbenen spirituellen Lehrers Georges Gurdjieff zum Beispiel hat jeder schon einmal gehört – er hat seine per Gehör verinnerlichten Melodien aus der Volksmusik vom russischen Pianisten Thomas de Hartmann transkribieren lassen, und in dieser Form erklingen sie bis heute in den Konzertsälen. Die Beschäftigung mit Musik aus dem kleinen Land am Rande Europas ist auch immer eine Zeitreise: Armenien erhob bereits 301 als erstes Land das Christentum zur Staatreligion, verfügt über eineinhalb Jahrtausende ungebrochene liturgische Musiktradition, vom Liturgiebegründer Mesrop Mashtots bis zu den Vertretern des 20. Jahrhunderts, allen voran dem Mönch Komitas Vardapet. Dem Bann der Klänge Armeniens erlagen weltweit klassische Musiker genauso wie Künstler, die eher im Jazz beheimatet sind. Starpianist Keith Jarrett wagte sich 1980 an die Einspielung sakraler Hymnen fürs Label ECM, auf dem sich etwa auch Bratschistin Kim Kashkashian und das Hilliard Ensemble mit weiteren Facetten armenischer Tonkunst befassten. Und das enfant terrible unserer Tage, der Pianist Tigran Hamasyan, wandte sich nach ungestümen Jazz-Experimenten den introspektiven Klängen seiner Heimat zu. Er urteilt: „Das ist Musik, die nicht von menschlichen Händen geschrieben wurde.“

Auch für den armenisch-amerikanischen Komponisten, Dirigenten und Pianisten John Hodian ist die Beschäftigung mit armenischen Klängen eine Lebensaufgabe. „Für mich hat die armenische Kultur immer eine etwas unheimliche Melancholie, die zugleich wunderschön ist, bedingt durch die tragische Historie“, sagte er einmal im Interview. In den vergangenen Jahren ist er in Deutschland schon durch sein Epiphany Project bekannt geworden: Mit der Sängerin Bet Williams bettete er da armenische Wurzeln in eine jazzig-folkige Umgebung ein, die auch unverkennbare amerikanische Elemente in sich trägt. Hodian ist an der US-Ostküste aufgewachsen, eine intensive Bindung zum Land seiner Vorfahren hat er erst in einer späteren Etappe seines Lebens aufgebaut. „In Amerika sagt man schon, wenn etwas 200 Jahre alt ist: ‚Mein Gott, was für ein Erbe!’ In Armenien sind Traditionen, die bis in vorchristliche Zeit zurückreichen, im Bewusstsein der Leute verankert.“ Genau aus dieser Dualität bezieht seine Musik ihre Spannung, auch die der neuen Unternehmung.

Hierfür verbindet Hodian geistliche Musik mit Texten des dichtenden Priesters Mrktich Naghash aus dem 15. Jahrhunderts. Der erste Impuls hierfür kam von einem Vokalquintett, das er in einem Tempel bei Jerewan geistliche Musik des Mittelalters singen hörte. Als er sich in Naghashs Texte versenkte, verknüpften sich in seiner Vorstellungskraft die Worte mit Musik aus jener Epoche. Es war der „kreative Blitz“, der für Hodian für jede erfolgreiche künstlerische Arbeit notwendig ist, wie er versichert. Fest stand für ihn auch gleich: Er wollte die beiden Jahrhunderte alten Inspirationsquellen für eine Neuschöpfung nutzen, denn an reiner Wiedergabe traditioneller Quellen war er noch nie interessiert. Hodian folgte dabei weitestgehend seiner Eingebung: 2010 stellt er ein Ensemble zusammen, in dem er den klagenden Ton der Schalmei Duduk, Armeniens Nationalinstrument, die Knickhalslaute Oud und die Dhol-Trommel mit seinem Klavierpart und einem Streichquartett textiert. Die Sphäre des Volksmusikalischen dockt so an der abendländischen Klassik an.

Über den Instrumenten agiert ein dreiköpfiges weibliches Gesangsensemble mit zwei Sopranen und einem Alt. Seine Chorsätze für die drei Frauenstimmen sind mal archaisch getönt, mal legen sie eine fast popkulturelle, eingängige Leichtigkeit an den Tag. Die dunkelmütige Schwere, die in Armeniens Klängen oftmals lauert, ist tatsächlich weitestgehend abwesend. Das Ergebnis ist eine einzigartige Musik, die auch ohne das Verständnis der philosophischen Texte von Naghash für uns Zeitgenossen zugänglich ist. Und die trotzdem eine seelenvolle, beglückende Tiefe besitzt – denn sie schöpft aus einer der ältesten Klangtraditionen der Erde.

Naghash Ensemble: „Agahootyan“
Quelle: youtube

Mahler-Herbst I: Moravian Rhapsody

Endlich wird die Landschaft schön. Ein scheinbar endloser Weg von Krakau aus liegt hinter mir, unvorstellbar langatmige Zuckelfahrten durch polnisch-mährisches Grenzgebiet, kaum nennenswerte Hügel, geschweige denn Berge zu durchqueren, dann eine kurze rasante Strecke, als es auf Prag zuging. Ich jedoch steige in Kolín um, wo der Regionalexpress nach Jihlava abzweigt, Gustav Mahlers große Lebensstation der Kindheit und Jugend. Der Zug fährt in die Dunkelheit der mährisch-böhmischen Wälder hinein, sanft geschwungen die Topographie, sanft geschwungen auch die Trasse. Das Abteil habe ich für mich, viele Leute wollen nicht in diese Kleinstadt von 30.000 Einwohnern, die früher mal Iglau hieß und eine deutsche Sprachinsel bildete.

Eine Schaffnerin kommt herein, sieht mein Interrail-Ticket, gestikuliert aufgeregt, sagt „Autobus“ und wiederholt immer wieder den Namen Havlíčkův (die absurden Akzente habe ich nicht erfunden), und ich denke mir, während ich den Namen des Ortes pausenlos wiederhole, um ihn nicht zu vergessen: OK, Schienenersatzverkehr also auch in Tschechien. Zwei Stationen weiter, ein Typ mit Rockermähne und Lederjacke reißt die Abteiltür auf. Kurioserweise hat auch er einen Schaffnerknipsapparat in der Hand. Instintkiv begegne ich seiner Ansprache mit einem Kopfschütteln, woraufhin er etwas finster gefärbt „Tickets“ sagt. Offenbar hat der Zug eine regionale Grenze überquert, was den Austausch des Personals erforderte.

Ich verpasse den Ort mit dem Kringel auf dem „u“ nicht, da steht auch ein Bus, und eine halbe Stunde später komme ich im dunklen Jihlava an, vielmehr in einem Außenbezirk, in dem es zwar meine Herberge gibt, aber sonst nur eine riesige Sportbar, wo die Jugend Billard spielt und die Küche kalt bleibt. Auch der Supermarkt hat vor drei Minuten dicht gemacht. Das Abendessen fällt also mager aus, eine halbe Packung Mandeln, die Minibar offeriert ein alkoholfreies Pflaumenbier mit einem erschreckenden Etikett, das Zeug schmeckt ähnlich wie der Weißwein, der uns vor 14 Jahren in Rio de Janeiro als „vinho da casa“ kredenzt wurde, eine Mischung aus fauligem Obstkorb und Essig. Im Fernsehen wird Gott beerdigt, was im tschechischen Dativ putzig klingt: „s Karlem Gottem“.

Mit sehr dürftigem tschechischem Grundvokabular ausgestattet mache ich mich am nächsten Morgen per Stadtbus ins Zentrum von Jihlava auf. „Náměstí“ heißt Marktplatz (unter drei Akzenten pro Wort geht es nicht), ein riesiges, abschüssiges Rechteck mit einigen herausgeputzten, bunten Häusern und mehreren Kirchen, doch mein erstes Ziel ist das Dům Gustava Mahlera in der Znojemské ulici čp. 4, das Gustav Mahler-Haus in der Znaimer Straße 4. Hier ist der von mir so geschätzte Komponist und Seelenverwandte von frühester Kindheit an aufgewachsen bis er 15 Jahre alt war. Der Vater Bernhard, ein Schnapsbrenner und Wirt, hatte das Haus erworben, in einer Zeit, als die Ansiedlung von Juden ausdrücklich erwünscht war. Heute ist ein Museum in den Räumlichkeiten, das Mahlers Leben in Iglau von 1860-75 genauso akribisch wie lebendig dokumentiert. Jana Součková, die Leiterin des Hauses versorgt mich fachkundig und engagiert mit Materialien für den Rest des Tages, den ich auf den Spuren Mahlers verbringen werde.

Man kann sich dank der detailverliebten, mit viel Herzblut gestalteten Vita-Schau hinabsenken in dieses Leben: Eine große Bilderstrecke mit Fotos der Eltern und Geschwister, Dokumente aus seiner Kindheit, von Schulzeugnissen bis zu Zeitungsbesprechungen seiner ersten Konzerte in der Stadt sind auf den Tafeln erfasst, ein paar Instrumente der böhmischen und mährischen Bauernmusik, die ihn beeinflusste, schließlich auch Grafiken von Künstlern aus der Umgebung, die vom Werk Mahlers inspiriert sind. Hier, in diesen Räumen, machte er seine ersten musikalischen Gehversuche, aß, schlief und träumte, und hier litt er sicherlich auch, unter dem jähzornigen Vater und wohl auch damals schon unter dem Lärm aus der Gaststätte im Erdgeschoss, in der jetzt ein Café geplant ist.

Mahler war ein Hochsensibler, wenn es um Geräusche ging. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, hier in dieser Familiengeschichte herumzustapfen, fast komme ich mir vor wie ein Eindringling. Und wieder einmal bin ich, wie bei Villa-Lobos, Grieg und de Falla, der einzige Besucher: Am genius loci ihrer großen Klangschöpfer ist die Welt offenbar nicht interessiert, nicht einmal vor Ort: Von Jana erfahre ich, dass beim Zuspruch der Einheimischen gegenüber dem Museum noch viel Luft nach oben ist.

Apropos Luft: Der Tag ist schön, herbstliche Sonne strahlt über Jihlava und ich will davon profitieren, mache mich auf zum Stadtrundgang.
Das Zentrum ist hübsch und überschaubar, in seiner Mitte der riesenhafte Marktplatz: Unten, wo früher die Marktstände waren, spielte Mahler schon im Vorschulalter für die Beschicker Akkordeon, die obere Hälfte war der Garnison vorbehalten, die dort ihre Aufmärsche machte, die Sounds der Blechblaskapellen machten mächtig Eindruck auf das Kind, nicht von ungefähr kommen den Klarinetten, Trompeten, Posaunen, Hörnern und Tuben prominente Rollen in allen Mahler-Symphonien zu. Die mächtigen Steintürme der Jakobuskirche etwas abseits, hier sang Gustav im Chor, und sein Lehrer Heinrich Fischer, selbst Komponist, war eine prägende Vaterfigur in der Musik.

Hinter dem Kirchhof, an der Stadtmauer entlang und weiter nach unten öffnet sich der „Heulos“, das Igel-Tal, parkartig. Ich setze mich auf eine Bank und stelle mir vor, wie hier – das ist überliefert – der vierjährige Gustav von seinem Vater vergessen wurde, und inmitten des Grüns plötzlich den berühmten „Naturton“ hörte, ein schockartiges pantheistisches Erlebnis für das Kind, das er zu Beginn seiner 1. Symphonie, dem „Titan“, so eindrücklich verarbeitet hat.

Vorbei geht der Weg an Mahlers Gymnasium, heute Jihlavas Stadtbibliothek, hin zum ehemaligen riesigen Garnisonshaus. Von hier liefen die Kapellen hinaus und schmetterten die Klänge, die sich im akustischen Gedächtnis Gustavs für immer festsetzten. Innen befindet sich ein Restaurant mit Volxküchen-Charakter, die Düfte locken zum Mittagessen, aber die Aufmerksamkeit der Kellnerinnen und Kellner, teils rustikal gepierct und ein bisschen auf Punk getrimmt, zu erregen, gelingt mir nicht so schnell wie der Hunger es will. Also fällt das Mahl etwas spießiger aus, nebenan im gediegenen „Hotel Gustav Mahler“ mit rotem Plüsch und nachgebildeten Schriftstücken des Namensgebers an den Wänden.

Gesättigt gehe ich weiter zum Theater, wo der junge Musiker im Teenager-Alter erste Erfolge mit einem Klavierabend feierte, nicht mehr lange sollte es ihn dann hier halten, mit 15 ging er zum Studium nach Wien, nur noch für Elternbesuche kehrte er ab 1875 zurück auf seinen Jugend-Turf. Am schönsten huldigt Jihlava seinem berühmten Sohn im Gustav Mahler-Park: Die Statue von Jan Koblasa lässt den Künstler ganz aus Kopf und ätherischem Körper bestehen, ein durchscheinendes, unirdisches und doch elegantes, himmelsbrausendes Wesen ist in dieser Skulptur eingefangen, die vor allem dem Dirigenten Mahler gerecht wird. Die Umgebung ist etwas gewollt hingestaltet – ein Brunnen, dessen 10 Fontänen die 10 Symphonien verkörpern sollen, Vogel- und Fischplastiken, die auf Mahlers Naturliebe hindeuten sollen, aber so abstrahiert sind, dass ich sie kaum ausfindig machen kann. Trotzdem: eine schöne Oase, die auf den Fundamenten der ehemaligen Synagoge errichtet wurde, die die Nazi-Schergen dem Boden gleich gemacht haben.

Der große jüdische Friedhof, auf dem man immer noch ans Grab von Mahlers Eltern treten kann, liegt ein Stück außerhalb: Marie, von ihm abgöttisch verehrt und der aufbrausende Bernhard ruhen hier. Es ist ein wenig tröstlicher Ort, der aus der Zeit gefallen ist. Schon vor dem 2. Weltkrieg hat Jihlava / Iglau gelitten: Die spannende und teils bittere Geschichte der ältesten Bergbaustadt der Region, ist im Frauentor dargestellt, von den Hussiten über die schwedische Besatzung während des Dreißigjährigen Krieges bis zu den grausamen Ereignissen während der nationalsozialistischen Jahre. Oben lässt sich eine schwere Klappe lupfen und ich stehe auf der Plattform im Freien, der Blick schweift über die Türme und die angrenzenden Felder der Region Vysočina, das „Dach Europas“ wird sie kurioserweise genannt, es ist – auch wenn man bei der Anfahrt das gar nicht merkt – eine gewaltige Hochebene. Und auch aus dieser Entfernung grüßt Koblasas Mahler-Statue mit ihrer unverkennbaren Silhouette im Spätnachmittagslicht.

Ein letzter Rundgang, bei dem ich auch ein temporäres Wohnhaus von Friedrich Smetana entdecke, und dann ein denkwürdiger Moment, der mir offenbart, dass Mahler nicht der Einzige ist, dem hier Schaufensterplatz eingeräumt wird: In einem Etablissement, das zumindest von außen ein wenig Underground-Retro-Flair hat, breiten sich Devotionalien für den gerade verstorbenen Schlager-Karel aus: Zerfledderte Singles, in deren Mitte ein schwarzer Leuchter mit abgebranntem Teelicht thront. Sterben wie Gott in Mähren.

Der Tag neigt sich, ein letzter Weg zurück zum kühlen Igel-Tal und zur Musikschule gegenüber der Jakobuskirche: Aus einem Fenster dringen Klavieretüden, um die Ecke schlägt die Turmuhr sechs, und plötzlich dröhnt aus einem anderen Proberaum eine satte, tieftraurige Blaskapelle. Gustav hätte dieses Durcheinander gefallen. Als ich am nächsten Morgen – wie einst Mahler im tiefsten Winter – in einem völlig überheizten Abteil mit Kopfschmerzen Richtung Budweis schaukele, habe ich den „Titan“ auf den Ohren – und ja, auch wenn der „Naturton“ durchs Rattern des Regionalzuges kaum zu hören ist, der Ausbruch der Bläserfanfaren ist es. Und er passt einfach zu dieser Szenerie aus Wäldern und Feldern, die im gleißenden Herbstmorgenblau vor dem Fenster vorbeirollt.

© Stefan Franzen
das Gustav Mahler-Haus in Jihlava: https://www.jihlava.cz/de/dgm/

alle Fotos © Stefan Franzen

Die Perlentaucherin

Die Trompeterin Yazz Ahmed ist eine der spannendsten Persönlichkeiten der quirligen Londoner Jazzszene. In ihren komplexen Suiten kombiniert sie die Traditionen ihres Herkunftslandes Bahrain mit Jazzimprovisationen. Auf ihrem neuen Album Polyhymnia ehrt sie herausragende Frauen – auch aus der muslimischen Kultur.

„Als ich ein Kind war, war mir gar nicht bewusst, wie wenig Mädchen Trompete spielen“, sagt Yazz Ahmed, die durch ihren Großvater, den Jazztrompeter Terry Brown zum Instrument kam. „Es war schwierig, irgendwelche Vorbilder zu finden. Doch heute gibt es etliche Kolleginnen und keine Vorurteile mehr, und die männlichen Mitmusiker haben sich daran gewöhnt. Es fühlt sich nicht mehr sonderbar an, ‚the girl with the trumpet‘ zu sein!“

Trotzdem ist Vieles ungewöhnlich und überraschend an dieser Frau: Ahmed wuchs im Golfstaat Bahrain auf, mit neun Jahren kam sie nach Großbritannien, wo sie ihre musikalische Ausbildung begann. Seit sie 2011 ihr Debüt veröffentlichte, ist der London-Jazz um eine aufregende Facette reicher, denn Ahmed überschreitet Genregrenzen. Mit den Worldbeat-Pionieren von Transglobal Underground, mit den Indierock-Stars Radiohead und Joan As A Policewoman erprobte sie sich, Klassikhörer überraschte sie durch ihr Arrangement von Gustav Holsts „The Planets“. In ihre eigenen Bandprojekten bezieht sie das Erbe ihrer arabischen Vorfahren mit ein: „Über Bahrains Kultur weiß man nicht viel in Europa“, sagt sie. „Es gab dort die Tradition des Perlenfischens, und wenn die Taucher von zuhause weg waren, dann sangen sie draußen auf dem Golf Lieder über ihr Heimweh, auch, um sich gegenseitig bei der Arbeit zu motivieren. Lieder darüber, dass sie möglicherweise reich zurückkehren würden, oder eben mit leeren Händen. Außerdem gibt es traditionelle Lieder, die Trommelgruppen von Frauen bei Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten singen. Diese Musik ist sehr perkussiv, rhythmisch, das Singen gleicht einer Beschwörung.“

Yazz Ahmed lernte diese Musik auf Reisen in ihr Herkunftsland kennen, und baute ihre Wurzeln atmosphärisch in ihre komplexen Kompositionen ein. Sie haben oft den Charakter von verschlungenen Suiten. Neben der Trompete spielt sie ein wunderbar weiches, sangliches Flügelhorn, und hier kann sie mit einer Neuerung aufwarten: Während die Viertelton-Trompete vom Algerier Bellemou Messaoud bereits in den 1960ern erfunden wurde und der Libanese Ibrahim Maalouf diese Tradition weiterführt, dürfte sie wohl die Erste sein, die diese Technik auch auf das verwandte Instrument übertragen hat, um die typisch arabischen Intervallschritte abbilden zu können. „Mit meinem Instrumentenbauer habe ich lange herumgebastelt, und das erste Flügelhorn hat auch gar nicht funktioniert. Danach hat er es verfeinert und perfektioniert, und endlich hat er es geschafft. Ich spiele das Viertelton-Flügelhorn nicht oft, aber wenn ich es tue, ist es eine Freude, diese Noten zu kreieren, die man auf einem westlichen Instrument niemals herausbringen würde!“

Heute sieht sich Yazz Ahmed als typisches Kind der Londoner Szene: „Offen, aufnahmebereit und experimentierfreudig“, so ihre eigene Einschätzung. Auf ihrem aktuellen Werk Polyhymnia geht der Fokus etwas weg vom arabisch getönten Sound: „Die Namensgeberin ist eine griechische Muse, ihr Name bedeutet ‚viele Hymnen‘, und die Stücke sind ja tatsächlich auch Preislieder, Hymnen auf herausragende Frauengestalten“, erläutert Ahmed. Ihre sechs ausgefeilten Kompositionen hat sie etwa der saudi-arabischen Filmemacherin Haifaa Al-Mansour („Das Mädchen Wadjda“) oder der von den Taliban verunstalteten pakistanischen Frauenrechtlerin Malala Yousafzai zugeeignet, aber auch den Civil Rights-Frauen Ruby Bridges und Rosa Parks, den Suffragetten und der Saxophonistin Barbara Thompson. „Sie alle sind für mich sehr kraftvolle, inspirierende Menschen“, sagt Ahmed. „Und es ist schon eine Herausforderung, in so viele verschiedene Charaktere hineinzuschlüpfen, sich in das hineinzuversetzen, was diese Frauen teilweise durchmachen mussten.“

Für die Besetzung wählte sie eine ebenfalls von vielen Frauen der Londoner Szene getragene Bigband, und sie entwirft mit ihnen eine couragierte, weibliche Dramaturgie. Junge Prominenz wie Saxophonistin Nubya Garcia und Trompetenkollegin Sheila Maurice-Grey von Kokoroko ist unter den Mitgliedern dieser großen musikalischen Familie. Ahmed selbst glänzt wiederum vor allem auf dem Flügelhorn in Solopassagen. „Es ist wirklich eine große Gruppe“, gibt sie zu, „und ich denke diese Tatsache spiegelt sich in einer durchweg hymnischen Stimmung. Das Album fühlt sich ‚chunky‘ an!“ Was mit dem deutschen Wort „fett“ nur halb so schön klingt.

Musikalisch geht es sehr divers zu. Die Widmung an Ruby Bridges, 1960 das erste schwarze Schulmädchen an einer zuvor weißen Schule in New Orleans, beginnt sie mit einem Funk-Groove, der dann mit harschen, dissonanten Tönen des Orchesters konfrontiert wird – ein musikalisches Spiegelbild der rassistischen Anfeindungen, denen Ruby auf dem Schulweg ausgesetzt war. In „One Girl Among Many“ bedient sie sich auch der menschlichen Stimme, um die eindrucksvollen Reden von Malala Yousafzai in Töne zu fassen. Auf verschlungenen Wegen über arabische Skalen und Jazzharmonien findet „Deeds Not Words“, das Stück zu Ehren der Sufragetten, seinen Weg schließlich zu einer triumphalen Metamorphose von „Shoulder To Shoulder“, dem Erkennungssong der Frauenbewegung aus jener Zeit.

Für ihre Verbeugung vor Rosa Parks griff sie gar auf eine Zwölftonreihe zurück, die ihre Bigband aber nicht als abstrakte Spielerei durchexerziert, sondern mit emotionalem Gehalt füllt. Und „Lahan Al-Mansour“ spielt mit den Melodien der arabischen Halbinsel, um die mutige Filmemacherin Haifaa Al-Mansour zu porträtieren. „Es gibt nicht viele Frauen in der Golfregion, die global so erfolgreich sind und öffentlich ihre Haltung bekunden“, so die Einschätzung von Yazz Ahmed. „Auch aus Bahrain kenne ich keine anderen Musikerinnen, und ich hoffe, dass ich junge Bahrainis inspirieren kann, ebenfalls zur Musik zu finden.“ Yazz Ahmeds nächstes Album, so lässt sich schon jetzt durchblicken, wird sich ausschließlich mit den Traditionen ihrer arabischen Heimat beschäftigen.

© Stefan Franzen
dieser Artikel erschien auf www.qantara.de

Yazz Ahmed: „Lahan Al-Mansour“
Quelle: youtube