Die Hoffnung ist Brasilianerin

Foto: Jérome Witz

Der brasilianische Musiker Lucas Santtana sieht nach der Wiederwahl Lulas neue Chancen für sein Land. Musikalisch feiert er das mit seinem politisch und ökologisch engagierten Werk O Paraíso.

Tiefenentspannt klingt Lucas Santtana im Interview, nachdem er wie viele Musiker durch vier Jahre der Angst und Unwägbarkeiten während der Herrschaft Bolsonaros gegangen ist. Jetzt, nachdem Lula da Silva die Präsidentschaftswahl erneut für sich entschieden hat, keimt Optimismus in der Musikszene. Mit viel Prominenz aus Samba und Pop wurde gerade in Brasilia die Inauguration gefeiert, und mit Margareth Menezes soll eine der großen afro-brasilianischen Sängerinnen Kulturministerin werden. Doch auf welch wackligen Füßen die brasilianische Demokratie derzeit noch steht, konnte die Welt vor wenigen Tagen bei den Bildern der Erstürmung von Regierungsgebäuden sehen.

“Meine Hoffnung zielt darauf ab, dass die Verantwortlichen für die größte Korruption aller Zeiten, die der letzten vier Jahre, verurteilt und bestraft werden, inklusive das Militär”, sagt Santtana. Bolsonaro konnte es nur wagen, so skrupellos zu wüten, weil Brasilien als einziges Land Südamerikas den Machtmissbrauch der einstigen Militärdiktatur nie gerichtlich aufgearbeitet hatte, meint er. Für die neue Amtszeit setzt Santtana auf Lulas vielfach gerühmtes Geschick, mit seinen Gegnern in Dialog zu treten. “Aber ich glaube nicht, dass er die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft beenden kann, denn Polarisierungen gibt es bei uns seit Jahrhunderten.”

Gerade die brasilianische Kultur hat immer von Polarisierungen gelebt, die sich in der Musik als stilistische Brüche befruchten. So bleibt die Spannung hoch, und von Gegensätzen unterschiedlicher Art lebt auch Santtanas neues Werk O Paraíso: „Der Grundcharakter meiner Musik ist gerade dieses Blurring von Akustik und Elektronik“, stellt Santtana klar und zweigt dann in die Biologie ab: „Gerade habe ich was Interessantes über den Pilz physarum polycephalum gelesen: In Tokio haben sie sich durch seine Vernetzungsmuster inspirieren lassen, das U-Bahn-System zu verbessern. Das ist doch der Beweis, dass Natur und Technik voneinander profitieren können.“

So wie sie das in seinen neuen Kompositionen tut, die in Paris eingespielt wurden, mit Musikern, die, so sagt Santtana, alle multistilistisch unterwegs sind, mit einem offenen, kreativen Geist. Der spiegelt sich dann etwa in einem Song wie „Muita Pose, Pouca Yoga“ (viel Pose, wenig Yoga) wider, wo er mokante Kommentare über die Instagram-Inszenierungen der Jugend zu einer Kombi aus Pop-Keyboards und Samba-Groove setzt. Dafür hat er Sprüche aus provokanten Plakataktionen des Straßenkünstlers Daniel Lisboa verwendet. In „Vamos Ficar Na Terra“ wettstreiten Reggae und der nordöstliche Xote-Rhythmus mit der Elektronik – und all das dient zu einer beißenden Kritik am Menschenverächter Elon Musk, der zum Mars strebt, anstatt vernünftige Lebensbedingungen auf dem Heimatplaneten zu schaffen. Und in „What’s Life“ finden sich Synthesizer und ein Verweis an Kraftwerks „Roboter“ zu einem Pagodão-Rhythmus aus Salvador da Bahia.

„Meine zentrale Frage auf diesem Album über das Leben auf unserem Planeten ist: Wollen wir Maschinen sein oder Natur? Bei aller Begeisterung für Künstliche Intelligenz, die gerade in der Luft liegt: Ich setzte für unsere Zukunft auf die Natur, auf das Wissen der Vorfahren. Nur dann werden wir eine Chance aufs Überleben haben.“ Für Santtana ist das Paradies schon da, man müsse es in der Vielfalt der Erde nur erkennen – und respektieren. Für mehr Kommunikation mit der Natur sind die Weichen in Brasilien nun gestellt. Santtana spricht anerkennend von Sônia Guajajára: Zum ersten Mal in seiner 500jährigen Geschichte wird Brasilien eine Ministerin für Indigene Völker haben. Außerdem sind am Tag nach Lulas Wiederwahl die Zahlungen in den Amazonas-Fonds wieder in Kraft gesetzt worden, die während Bolsonaros Amtszeit gestoppt wurden. “Die Zeichen stehen auf Veränderung, aber natürlich müssen wir als Gesellschaft weiterhin Druck ausüben.“ Man könnte, anknüpfend an den bekannten Spruch „Gott ist Brasilianer“ auch sagen: Die Hoffnung, sie ist Brasilianerin. Zumindest für den Moment.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 13.01.2023

 

Lucas Santtana & Flore Benguigui: „The Fool On The Hill“
Quelle: youtube

Zwischen Bach und Sesotho-Gebet


Geschätzt von Yo-Yo Ma, gefeiert bei den BBC Proms, mit einem Bein in der afrikanischen Tradition, mit dem anderen in der Musik der Zukunft: Der Cellist, Komponist, Arrangeur und Sänger Abel Selaocoe aus Südafrika definiert schwarzes Selbstbewusstsein in einer stilentgrenzten Klassik neu. Ich konnte ihn kürzlich über Zoom interviewen, nachfolgend unser Gespräch in ungeschnittener Länge. Selaocoe wird am 6.9. beim Lucerne Festival in der Lukaskirche auftreten.

Abel Selaocoe, gab es einen Schlüsselmoment, in dem Sie erfuhren: Das Cello ist mein Instrument?

Selaocoe: Der erste Einfluss kam von meinem Bruder. Er war ein großartiger Fagottist und so begeistert von Musik, dass er mich mitzog. Als ich mir das Cello aussuchte, hatte ich schon eine Vorstellung davon, was für einen Umfang an Tönen man produzieren kann, dass man sehr hoch „singen“ kann, aber auf einem Instrument auch sehr tiefe Basslinien spielen kann. Mein Bruder sagte zu mir: Wenn du in der Musik wirklich verschiedene Dinge ausprobieren möchtest, wie wir das mit unseren Stimmen gemacht haben, als wir anfingen, dann könnte das Cello das richtige Instrument für dich sein. Aber angefangen hat alles mit der Stimme, und auch auf dem Instrument habe ich dann versucht das auszudrücken, was ich zuvor schon mit der Stimme gemacht hatte.

Hatten Sie auf dem Cello ein Vorbild, ein Idol?

Selaocoe: Ja, eine Rolle bei der Wahl des Cellos spielten natürlich auch die Leute, die damals um mich herum waren. Es war nicht nur das Instrument, das ich liebte, sondern auch die Menschen, die mich inspirierten. Weil ich aus einem Township stamme, in dem ich von viel Armut umgeben war, hielt ich immer nach Menschen Ausschau, die aussahen wie ich, aber außergewöhnliche Dinge machten. Kutwlano Masote war einer von ihnen. Er wurde mein allererster Cellolehrer, und zu sehen, was er auf dem Cello machte, wurde eine große Inspiration für mich. Es war auch sein Charakter, denn er war gleichzeitig auch eine Persönlichkeit im Radio, lotete sehr viele verschiedene Dinge in der Musik aus und spielte mit Leuten aus verschiedenen Stilen. Ich liebte ihn sehr als Person und konnte es nicht erwarten, mich in eine ähnliche Richtung zu entwickeln.

Ist die Technik, die Sie in ihrer klassischen Ausbildung erlernten, auch heute noch dominant oder gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie beschlossen, sich zu befreien und Ihre eigenen Varianten von Staccato, Spiccato oder Pizzicato zu verwenden, die möglicherweise aus anderen musikalischen Traditionen stammen?

Selaocoe: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Nun, die klassische Musik hilft mir in so vieler Hinsicht als Grundlage für mein Spiel, aber auch wenn es ums Zuhören geht. Klassische Musik besitzt eine Schönheit, einen Reichtum, eine Dynamik. Das Zarteste, das ich je gespielt habe, war eine Stelle aus einer Mahler-Symphonie. Ich wertschätze solche Momente und schöpfe in meinen Improvisationen daraus. Ich lerne eine Menge in der klassischen Musik, besonders was Streichinstrumente angeht. Ich habe mich entschieden, auch Einflüsse von afrikanischen Streichinstrumenten  aufzunehmen. Es gibt eine einsaitige westafrikanische Fiedel, die Goje heißt, und dann gibt es eine andere, die ist aus Äthiopien und Eritrea und hat kein Griffbrett. Du presst von der Seite dagegen, und vom Druck ist abhängig, in welcher Oktavlage der Ton rauskommt. In der klassischen Musik spielen wir immer auf- und abwärts, aber in afrikanischen Kulturen kann man Druck verwenden, um verschiedene Tonhöhen zu erzielen. Das ist unglaublich, Du hast nur fünf Töne, aber es ist so abwechslungsreich. Ich habe gerade angefangen, in dieser Welt zu leben und versuche, ein sehr viel perkussiverer Spieler zu werden. In diesem Zusammenhang bin ich auch inspiriert von einem Instrument namens Ohadi, da schlägt man mit einem Stick auf eine Saite und erzeugt dadurch Obertöne. Manchmal entstehen auch neue Sachen durch Rumalbern im Probezimmer, etwa, in dem ich dasitze und versuche ein Kind zu imitieren, wie es eine Sprache lernt. Das ist die Reise meines Lebens, und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch am Anfang meines Lernprozesses bin, wie ich das Cello spielen kann um Orte zu erreichen, die ich mir nie erträumt hätte. Weiterlesen

Schmerzbewältigung auf Urdu

Foto: Blythe Thomas

Sie ist die erste Musikerin mit pakistanischen Wurzeln, die einen Grammy erhalten hat. Ausgezeichnet wurde Arooj Aftab für ihr drittes Album Vulture Prince, ein meditativer, bewegender Songzyklus, in dem sie Verlust und Schmerz mit Poesie auf Urdu und mit Gästen aus aller Welt einfängt.

Wer sich für eine Stunde in Ruhe begibt, und Aftabs neues Werk Vulture Prince auf sich wirken lässt, erfährt: Klang ist mehr als Worte und lässt eine Welt jenseits von intellektuellem Sinnverständnis zu. Die acht Songs sind immer bewegend und können an bestimmten Stellen des Albums zu Tränen rühren. Im April erhielt dieses Album mit einem Grammy höchste internationale Musikweihen, und das, obwohl kaum jemand der Hörenden im Westen Urdu verstehen wird.

Urdu ist nicht nur die Amtssprache Pakistans, es ist auch von jeher die Sprache der Sufis aus diesem Kulturkreis, die mit ihrer Poesie die Sehnsucht nach dem Göttlichen in romantische Metaphern gefasst haben. „Es hat sich immer gut angefühlt, auf Urdu zu singen“, bekennt Arooj Aftab. „Die Urdu-Poeten sagen komplizierte Dinge in schönen, einfachen, minimalistischen Bildern. Ich bin eine minimalistische Komponistin, und ich mag es nicht, wenn es eine Menge Worte gibt und eine lange Geschichte. Wenn dagegen viel mit wenigen Worten gesagt wird, ist das für mich perfekt. Eigentlich lasse ich den Sound die Geschichte erzählen.“

Arooj (sprich: aruudsch) Aftab kam zwar schon als Teenagerin aus der pakistanischen Metropole Lahore in die USA, ist aber tief geprägt von der Musikkultur ihrer ersten Heimat. In Europa kennt man die vielen starken Frauenstimmen Pakistans kaum: Abida Parveen, Iqbal Bano oder Begum Akhtar standen immer im Schatten des großen Nusrat Fateh Ali Khan, der den Qawwali, den leidenschaftlichen Gesang der Sufis dominierte. Für Aftab sind diese Frauen aber „powerhouses“, Kraftwerke, die sie bei der Suche nach ihrem eigenen Timbre immer begleitet haben. Am renommierten Berklee College of Music in Boston absolvierte sie dann ein Jazzstudium, interessierte sich dabei besonders für die freieren, elektronischen Formen der Sparte. Eines ihrer Alben hat sie lediglich auf Synthesizer- und Gitarren-Klangflächen sowie Stimmenschichtungen aufgebaut, und erzählt damit die Geschichte der betörenden Sirenen der Antike.

Mit „Vulture Prince“ nun fasst Aftab ihr pakistanisches Erbe, ihr Jazzvokabular und ihre experimentelle Seite zusammen. Als “post-minimalistisch, jazzig und semi-klassisch“ bezeichnet sie diesen Songzyklus, der in einer Phase von weltpolitischem und privatem Verlust und Schmerz entstand: „Es ist der Spiegel meines persönlichen Lebens, der Spiegel der Pandemie, von Genoziden, die überall auf der Welt passieren, es geht um Depressionen und Krankheiten. Dann aber auch um die Welt, die dich überrascht, die dich dazu auffordert, weiterzumachen, dir sagt, dass du immer noch wunderbare Dinge machen, Menschen inspirieren kannst. Es ist eine Platte, die nicht losgelöst von den Ereignissen in ihrem eigenen La-La-Land schwebt.“

„Vulture“, der Geier aus dem Titel, hat für sie als mythologisches Tier eine ambivalente Symbolkraft. Er ist in den alten Geschichten königlich, wird bejubelt, aber auch gefürchtet, da er Andere seiner Art frisst. Genau wie ein Prinz, der parallel zu seiner Royalität oft Bösartigkeit, Abweichlerisches ausstrahlen kann. „Da meine Musik auch die dunklen Dinge umfasst, fühlte sich dieses kombinierte Bild als Überschrift für das Album gut an“, sagt Aftab.

Von der Produktionsweise ist es ein typisches Pandemie-Album: Niemals standen zwei Musiker gleichzeitig im Aufnahmeraum. Dass „Vulture Prince“ trotzdem nicht nach Patchwork sondern nach Homogenität klingt, führt Arooj Aftab auf den weiten Horizont der Mitwirkenden zurück: Die Harfenistin Maeve Gilchrist hat zwar einen keltischen Hintergrund, ist aber denkbar weit von jedem Irish Folk-Klischee entfernt. Badi Assad hat das Brasil-Idiom längst abgelegt und konnte auf ihrer Gitarre die richtigen Phrasen finden, um zusammen mit einem Streichquartett in „Diya Hai“ den Worten des indisch-türkischen Dichters Mirza Ghalib zu begegnen. Immer Weltbürgerin von Beginn ihrer Karriere an war Anoushka Shankar, die die Sitar zu einem globalen Instrument erhoben hat – ihr Spiel bereichert das Finalstück „Udhero Na“. „Für mich war wichtig, dass die Persönlichkeiten der Musiker ihre Instrumente übersteigen. Dass sie ihre Farbe einbringen, aber davon ausgehend wie Wasser agieren können.“

Welchen freien Umgang sie mit der Sufi-Poesie pflegt, lässt sich schön in „Last Night“ ablauschen: Die Verse des Mystikers Rumi sind hier in einen trabenden Reggae gekleidet, dessen Rhythmus sich zeitweise aber fast verflüchtigt. Am intensivsten wird das Album in einem Text der Frauenrechtlerin und engen Freundin Annie Ali Khan, die über Misogynie und Unterdrückung der Frauen in Pakistan recherchierte und sich 2018 das Leben nahm. Unterm Eindruck ihres Todes schrieb Arooj Aftab „Saans Lo“ zu einem Gedicht, das ihr Khan hinterlassen hatte. „Im Text heißt es: ‚Die Welt kann dich vor äußerst harte Herausforderungen stellen, kann dir Menschen wegnehmen, die du liebst und bewunderst. Atme, atme, atme – und versuche, dich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen.‘“ Am Ende klingt das Stück in einem friedlichen, orgelartigen Hauchen aus. Arooj Aftabs Album ist wie ein langer, tiefer Atemzug gegen diesen großen Schmerz.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 1.7.2022

Arooj Aftab: „Saans Lo“
Quelle: youtube

Eine Feier des Portugiesisch-Seins

Foto: Hugo Silva

Beheimatet in zwei Welten – so beschreibt Júlio Resende sein künstlerisches Selbstverständnis. Bereits 2013 brachte der Pianist aus Lissabon ein Tribut an die größte Fadista aller Zeiten, Amália Rodrigues heraus. Seit Jahren hat er sich mit Fado genauso wie mit Jazz intensiv auseinandergesetzt. Der Pianist aus Lissabon hat das spannende Experiment unternommen, den üblicherweise gesungenen Fado aus seinem traditionellen Korsett zu befreien. Er spielt ihn rein instrumental und verbindet ihn mit der Improvisation des Jazz. Die Entstehung seines neuen Albums war für ihn daher ein ganz organischer und natürlicher Prozess.

Meinen Interview-Beitrag über Júlio Resende und sein neues Werk Fado Jazz strahlt SRF 2 Kultur am Dienstag, den 5. April ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Roman Hosek aus. Wiederholt wird die Sendung am 8. April ab 21h, in der Schweiz ist sie auch nach der Ausstrahlung online zu hören.

Cully Jazz 2022 – Jazz und World aktuell – SRF

Júlio Resende: „Vira Mais Cinco“
Quelle: youtube

Weltbürgerin aus Basel


Seit etlichen Jahren bereichern experimentierfreudige Frauen mit globaler Perspektive die Jazzszene der Schweiz, von Erika Stucky über Lisette Spinnler bis Elina Duni. In der Sendung JazzFacts im Deutschlandfunk stelle ich die auf diesem Blog schon bekannte Yumi Ito aus Basel vor, die in ihren frühen Dreißigern bereits ein immenses Spektrum an Talenten ausspielt. Sie bereichert den Jazz um Nuancen aus der Klassik, aus dem Pop und aus dem Songwriting.

„Weltbürgerin aus Basel“ – ein Interview-Porträt der Sängerin, Pianistin, Komponistin, Arrangeurin und Orchesterleiterin Yumi Ito, am Donnerstag, den 10.3. ab 21h05, und danach auch im Podcast:

JazzFacts (deutschlandfunk.de)

Yumi Ito Trio: „Running“ (unplugged)
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Makebas eigensinnige Erbin

Heute würde Miriam Makeba 90 Jahre alt. Als Afrikanerin in New York hat Somi Kakoma seit fünfzehn Jahren atemberaubende und komplexe Visionen von Black Music entwickelt. Mit „Zenzile – the reimagination of Miriam Makeba“, ihrem Tribut an die große Südafrikanerin, setzt Somi ihren Dialog zwischen den Kontinenten fort. Und sie arbeitet zugleich ihre eigene Geschichte auf – mit Gästen von Gregory Porter bis Angélique Kidjo.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag in der Sendung Jazz World aktuell am Dienstag, den 8.3. ab 20h, zu hören im Live-Stream, in der Wiederholung am 11.3. ab 21h oder in der Schweiz auch im Podcast nach der Sendung.

Somi & Gregory Porter: „Love Tastes Like Strawberries“
Quelle: youtube

Liebesbrief an die Welt


Die Berner Bassistin und Bandleaderin Eva Kesselring, die sich als Künstlerin Eva Kess nennt, hat mitten in Zeiten des Social Distancing ein Kunststück fertiggebracht: In den Winterthurer Hard Studios spielte sie mit 14 Musikern innerhalb von drei Tagen ein Large Ensemble-Album ein. Die Botschaft dieses Albums ist einfach, die Musik aber spannend und komplex. Mit Eva Kess habe ich über den „Inter-Musical Love Letter“ für die Sendung Jazz & World aktuell auf SRF 2 gesprochen. Ausstrahlung ist am Dienstag, den 08.02. ab 20h, Wiederholung am 11.02. ab 21h. Die Sendung ist im Live-Stream zu hören, in der Schweiz auch im Podcast danach.

Eva Kess: „Inbetween Worlds“
Quelle: youtube

Hölzerner Hauch

Foto: Urszula Las

Sechs Streicher, ein Hackbrett, eine Flamencogitarre: Das ist die schlanke Rezeptur, aus der ein Füllhorn an Imaginationen zwischen Spanien, Frankreich, Balkan, Persien und China erwächst. Renaud Garcia-Fons‘ neues Werk „Le Souffle Des Cordes“ ist eine turbulente und tiefsinnige tour d’horizon voller Esprit und Virtuosität.

Man kann ihn sich als einen Steuermann vorstellen, der mit seinem fünfsaitigen Kontrabass am Bug einer wendigen Karavelle steht und durch musikalische Gefilde und Jahrhunderte navigiert. Nicht umsonst hieß eine seiner herausragenden Platten vor zwanzig Jahren „Navigatore“. Renaud Garcia-Fons‘ Spielphilosophie war es seit den 1990ern, Geographien und Epochen miteinander zu verbinden, Klänge des Mittelmeers und des Nahen Ostens mit der Alten Musik und Barock, Jazz mit musique du monde. „Main dans la main“, nennt er seine Verzahnungs- und Verschränkungstechnik im Interview, Hand in Hand gehen die Stile und Orte bei ihm, stehen nicht als bloße Blöcke nebeneinander. Und das macht auch sein neues Werk „Le Souffle Des Cordes“ (e-Motive Records/Galileo) so faszinierend.

„Ich hatte dieses Projekt schon lang im Hinterkopf, als Orient-Okzident-Komplettierung einer Trilogie, die mit ‚Silk Moon‘ und ‚Farangi‘ begann, Duos mit dem türkischen Stachelgeiger Derya Türkan und der Lautenistin Claire Antonini. Meine Idee war, jetzt ein klassisches Streichquartett einzusetzen, und zwar abseits seines üblichen Klanges. Sie sollten von der Rolle der Solisten auch immer wieder in die Begleitung wechseln, rhythmischere Parts spielen.“ Zum Quartett, dessen Prímás Florent Brannens der Bassist schon durch ein Teamwork für die France Musique-Sendung „alla breve“ kannte, tritt Türkans Kemence und die orientalische Kastenzither Kanun von Serkan Halili. Die Wahl des Albumtitels mag bei der Beschränkung auf Saiteninstrumente zunächst irritieren, man hätte ihn vielleicht eher bei Bläsern vermutet. Nun ist das französische Wort „souffle“ mit dem deutschen „Atem“ aber nur unzureichend übersetzt. „Souffle“ meint auch den Hauch, das Rauschen und Zischen, den spirituellen und poetischen Odem. Und davon gibt es genug während der knappen Stunde, die die zwölf Kompositionen dauern.

Allein schon durch den rauchigen, obertonreichen Klang der Kemence wird man ins Rauschhafte entrückt, oft lassen sich der in schwindelerregenden Lagen gespielte Bass und die Stachelgeige kaum auseinanderhalten. Zum Beispiel im schwebenden Tanz von „Le Bal Des Haftan“: „‘Haftan‘ ist das persische Wort für sieben und bezeichnet sieben hochentwickelte spirituelle Wesenheiten, die unseren Erzengeln ähneln“, führt Garcia-Fons aus. „Ich stellte mir hier vor, wie diese Wesen miteinander in Dialog treten und tanzen, in einer sehr würdevollen Art und Weise.“ An anderer Stelle, in „Jinete Viento“ zeichnet er ein positives Gegenbild zum düster-morbiden Gedicht „Canción De Jinete“, in dem ein Pferd einen toten Reiter trägt. „Meine Revanche an Garcia Lorca“, schmunzelt Garcia-Fons. „Bei mir wird der Reiter zum Pizzicato im rasanten Bulería-Rhythmus vom Sturm hinweggetragen, und am Schluss jongliere ich mit der Melodie des Revolutionsliedes der spanischen Republikaner.“

Poetische Anspielungen gibt es zuhauf: Jedem Stück hat der belesene Franko-Katalane im CD-Booklet einen Vers aus der Weltliteratur zur Seite gestellt, als imaginative Orientierungsmarke für seine Hörerschaft. Im vielleicht schönsten Stück, „Mamamouchi“, bemüht er einen Charakter aus Molières Farce „Le Bourgeois Gentilhomme“: „Wie Molières lachhafte Figur, die zu einer Art türkischer Sultan wird, trägt auch mein Stück humoristische Züge. Man hört Sequenzen aus dem Barock im Vivaldi-Stil, taucht dann in eine festliche osmanische Sphäre ein, findet sich dann in einem spanischen Fandango wieder. Ein Spaziergang zwischen den Welten, der aber mit sehr großer Präzision gespielt werden muss!“ Ähnlich traumwandlerische Brückenbauten gelingen dem Ensemble in „Qi Yun“, wo afrikanische und asiatische Pentatonik verwoben werden, sich ein interkontinentaler Blues entspinnt.

Es muss fast scheitern, einen so besonnenen und bescheidenen Menschen wie Renaud Garcia-Fons am Schluss des Gesprächs danach zu fragen, wie er seine Perfektionierung auf dem Bass während der letzten drei Jahrzehnte selbst einschätzt: „Weiterentwickelt habe ich vielleicht das ‚pizz di arco‘, die Technik, mit der ich die Oud nachahme. Und meine Phrasierung konnte ich beim Bogenstrich ein wenig mehr jazzy gestalten. Da gibt es keinen Bruch, nur Kontinuität. Einen höheren Grad an Reife? Ich hoffe es.“ Der „souffle“ auf seinem neuen Werk jedenfalls, er ist atemberaubend.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #142

Renaud García-Fons: „Animame!“
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Die Nächte reden mit mir

Der persische Santurspieler Kioomars Musayyebi baut auf seinem neuen Album  A Voice Keeps Calling Me Brücken vom Iran über den arabischen Raum bis zur Alten Musik Europas.

„Schon im Iran wollte ich so viele Kulturen wie möglich kennenlernen“, sagt Kioomars Musayyebi. „Denn ich bin überzeugt, dass Musik eine gemeinsame Sprache ist, in der wir ohne Worte miteinander reden können, auch wenn die Gesellschaften durch die jeweilige Kultur und verschiedenen Rituale ein wenig auseinandergegangen sind. Nur der Dialekte, die Akzente sind anders.“ Aufgewachsen ist Musayyebi im Teheran. Dass er zur Musik kam, ist seinem Vater zu verdanken, der selbst kurdische Lieder sang und aus seinem Sohn einen Künstler machen wollte. Er gab ihn in die Obhut des größten persischen Meister auf dem Hackbrett Santur, Faramarz Payvar, der den Jungen nicht nur für das Instrument begeisterte: „Bei Payvar Schüler zu sein, das hieß, auch eine Philosophie fürs Leben mitzubekommen. Er war ein ganz besonderer Pädagoge.“ Bis heute verdankt Musayyebi seinem Meister viel, hat aber natürlich den Spielstil weiterentwickelt, ihn auch mit Techniken des Payvar-Schülers Parviz Meshkatian bereichert.

Sein Bedürfnis, über die klassische persische Musik hinauszuschauen, konnte Musayyebi im Iran nur begrenzt umsetzen. Daher kam er 2011 nach Hildesheim, wo er an der Musikhochschule rege Aktivitäten entfaltete: „Dort gab es viele Möglichkeiten für mich, etwas auszuprobieren: Wie klingen meine persischen Wurzeln zusammen mit arabischer Musik, mit Jazz, Weltmusik und anderen Instrumenten?“ Seitdem spielt der heute in Essen lebende Komponist in einer Vielzahl von Ensembles, um diese Begegnungen auszuloten, etwa im Transorient Orchestra, im Nouruz Ensemble oder in der Band Beyond The Roots, die sich letztes Jahr als multinationales Kollektiv um die Kölner Klarinettistin Annette Maye gegründet hat. Um eine ganze Bandbreite von Facetten auf einem einzigen Album unterzubringen, hat Kioomars Musayyebi auf A Voice Keeps Calling Me (Pilgrims Of Sound) acht Stücke für verschiedene Besetzungen mit Streichern, Blas- und Zupfinstrumenten versammelt.

„Es sind die unterschiedlichen Melodien in meinem Kopf, die mich rufen“, erklärt Musayyebi seinen Kompositionsprozess. „Ich denke beim Schreiben überhaupt nicht unbedingt an die Santur. Manchmal komponiere ich am Klavier oder auf der Sitar, manchmal zieht es mich zur Alten Musik, nach Persien oder in den arabischen Raum. Es kann sein, dass die Klarinette in meinem Kopf sagt: Ich muss diese Melodie spielen, oder einmal die Geige, oder sie tun sich in meiner Vorstellung zusammen. Und langsam reift die Idee: OK, dieses Stück gehört diesem oder jenem Ensemble.“ Die Melodien seien wie Stimmen, die ihn rufen, daher auch der Albumtitel, den er zugleich einem Gedicht von Sohrab Sepehri entlehnt hat. Vom großen Poeten der iranischen Moderne empfängt er in allen Lebens- und Gemütslagen Einflüsse.

Auf A Voice Keeps Calling Me wird es gerade wegen des ständigen Wechsels der Besetzungen, der unterschiedlichen „Stimmen, die rufen“, nie langweilig: Im Eröffnungsstück „Entezar“ bringt Musayyebi seine Sehnsucht nach Indien zum Ausdruck, indem er seinem indischen, ebenfalls in Deutschland lebenden Kollegen Hindol Deb eine prominente Solorolle zugesteht. „Djozz“ ist eine Widmung an den Mitmusiker Bassem Hawar und seine irakische Stachelgeige „Djoze“, gleichzeitig ein Paradestück für eine Suite, die zwischen Europa, dem arabischen Raum und Persien vermittelt. „Als ich im Iran lebte, hatten wir diesen achtjährigen Krieg mit dem Irak“, erinnert sich Musayyebi. „Und hier in Deutschland war der Iraker Bassem Hawar einer der ersten Musiker, die ich kennengelernt habe. Wir haben viele Stunden geredet und gemerkt, dass wir beide die gleichen Gefühle haben, dass unsere gemeinsame Musik Frieden bringt.“

Im Titelstück hat Musayyebi eine Melodie reaktiviert, die aus einer Fernsehserie stammt, die er als Kind im Iran gesehen hat. Nach 30 Jahren in seinem Kopf kommt sie nun zu neuen Ehren. Mit Annette Maye und dem Beyond The Roots-Ensemble wurde die lange Improvisation „Igra“ als spannender Hybrid zwischen Jazz und eurasischer Musik kreiert. Schließlich zwei Nachtstückchen, die zum einen ganz in die persische Klassik zurückführen („Nächtliches Geflüster“), zum anderen mit dunkler Flöte und schnurrender Djoze wunderbar dunkle Klangfarben erzeugen („Letzte Nacht“): „Die Nächte reden mit mir, in den Nächten kann ich gut denken und mich wohlfühlen“, sagt Musayyebi. „Jede Nacht könnte auch die letzte sein: Vielleicht sehen wir uns morgen nicht mehr. Aber wir haben die Hoffnung, dass der Morgen kommt und alles wieder von Neuem beginnen kann.“ Bei all den Inspirationen, die Kioomars Musayyebi derzeit außerhalb seiner Heimat empfängt, zieht es ihn – auch wegen der problematischen politischen Situation – vorerst nicht zurück. „Ich möchte noch mehr von der Welt sehen. Da gibt es noch viele Stimmen in anderen Ecken, die mich rufen.“

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

Kioomars Musayyebi Quartet live
Quelle: youtube