Mit seinem Ethio-Jazz hat er Haile Selassie und Mengistu überlebt und eine der spannendsten, originellsten Jazzspielarten der Welt kreiert: Altmeister Mulatu Astatke gab sich am Freitag in Mulhouse die Ehre, am Vibraphon, am Piano, an der Wurlitzer und an der Perkussion – umgeben von seiner jungen britischen Step Ahead-Band. Seine dichte, zuweilen unheimliche, manchmal skurrile Kombination von Fünf- und Zwölftonskalen hat schon Jim Jarmusch begeistert. Auf der Bühne hat der 72-jährige sein Vermächtnis präsentiert: Das Album Sketches Of Ethiopia, mit dem er allen Ethnien Äthiopiens und ihren Melodien und Rhythmen ein Denkmal setzt – und zwar so, dass es auch für den westlich geprägten Jazzhörer zum unvergesslichen Erlebnis wird. Merci Mulatu, merci à la Filature de Mulhouse pour ce spectacle merveilleux!
Ear to Ear
„Musik ist das, was passiert“ – Berichte von genau da, wo’s passiert ist. Ganz gleich, ob’s gut oder manchmal auch weh getan hat…
Jazz mit Japonismen
Foto: Jean-Pierre Dalbéra
Gestern Abend bot sich im Freiburger Gasthaus Schützen die seltene Gelegenheit, eine japanische Koto im jazzigen Kontext zu hören, anlässlich des Release-Konzerts von „River Silver“ (ECM), der neuen CD des Quintetts Ethics um den französischen Basissten Michel Benita. Zusammen mit Michel Mathieu (flgh,tp), Philippe Garcia (dr), Eivind Aarset (g) und Mieko Miyazaki (koto) hat der 61-jährige eine ganz seltene, glückliche Verbindung von fernöstlichen Klängen und europäischem Jazz geschaffen, mit der 13-saitigen, ursprünglich höfischen Wölbbrettzither als heimlichem Star.
Danke an den Jazzkongress, der seit 10 Jahren spannende Künstler einlädt und am 1.2. sein Jubiläum feiert.
Ethics: „Haikool“ (live in Paris, 2010)
Quelle: youtube
Wundpflege vor Zehntausend
Björk
Zitadelle Berlin-Spandau
02.08.2015
14 Jahre später ist Björks Schmerz ganz ihr eigener, doch sie teilt ihn mit. Nach dem Beziehungsende mit Medienkünstler Matthew Barney hat sie ein Trennungstagebuch in Klänge gegossen. Ihr Album „Vulnicura“ (lat.: Wundpflege) ist ein Kreuzweg in neun Stationen – so minutiös und peinigend, dass es einem beim Hören an die Nieren geht. Kann also eine so intime Passionsgeschichte auf einer Großveranstaltung überhaupt funktionieren? Weiterlesen
There but for fortune
Auch ein halbes Jahrhundert später gibt es sie noch, die jungen Männer und Länder aus dem Phil Ochs-Song, unverändert. Und – fast – genauso unverändert gibt es auch ein halbes Jahrhundert später noch ihre Stimme.
Danke, Joan Baez, für den Auftritt in der kleinen Stadt.
TFF-Vorfreude #1
Das TFF Rudolstadt ist eines der ganz wenigen Festivals, die noch konsequent die globale Musikvielfalt präsentieren, nachdem viele andere Veranstalter in unseren Breiten und Längen immer mehr auf die anglo-amerikanische Konsensschiene einschwenken (oder schon immer auf ihr gefahren sind). Die so oft beschworene Interkulturalität Deutschlands, auf den Bühnen muss man sie mit der Lupe suchen. Umso mehr freue ich mich, dass es in knapp zwei Wochen an der Saale wieder losgeht, auch wenn ich 7 Stunden Anfahrt habe. Nur im thüringischen Städtchen lassen sich zum Beispiel Künstler wie die Mauretanierin Noura Mint Seymali erleben, mit der das Label Glitterbeat seine Vorliebe für Sounds aus dem Trockengürtel Westafrika untermauert. Seymali ist die Stieftochter der großen Dame der mauretanischen Musik, Dimi Mint Abba. Auf ihrem Album „Tzenni“ werden die traditionelle Stegharfe Ardine und Spießlaute Tidinit in ein kompaktes Rocksetting gefügt, das dank der E-Gitarre vom Gatten Jeiche Ould Chighaly auch mal psychedelisch werden kann – und überraschenderweise entfaltet die melismatisch verschlungene Vokalarbeit der Frontfrau dadurch noch mehr ungezähmte Flugkraft. Allein für dieses Konzert lohnt sich die Fahrt.
Noura Mint Seymali: „Tzenni“
Quelle: youtube
Kondolenz an die Angst
Benjamin Clementine
Laiterie Strasbourg, 24/03/15
Die Molkerei ist fast zum Bersten voll – alle sind sie gekommen, um den neuen Orpheus zu sehen, diesen 27 Jahre jungen Nordlondoner ghanaischer Herkunft, der aus seiner Heimat aufbrach, um in Paris sein Glück zu machen. Zu absonderlich war es in Edmonton gewesen, dass ein schwarzer Junge sich für die Klänge von Erik Satie, Giacomo Puccini und Claude Debussy begeisterte, im Klavierspiel seine Zuflucht suchte. Von der Métro hat sich Benjamin Clementine nun bis auf die Weltbühne gespielt – nicht nur mit dem Piano, auch mit einer Stimme, die in ihrem Timbre an Scott Walker und Antony Hegarty erinnert, in ihrer melancholischen Verzweiflung an Nick Drake.
Nur sein Flügel nimmt die Bühne ein. Der hochgewachsene Mann mit kantigem Afro und gehrockartigem Anzug über der nackten Brust sitzt auf seinem hochgeschraubten Hocker in der Vogelflugperspektive über den Tasten. Die Klassik hat er für sein Universum adaptiert, rollende Arpeggien hier, zarte Triller da, doch die Struktur der Songs, sie ist reiner Pop. Wären da nicht die Geschichten, die er erzählt, von London, das ihn obsessiv verfolgt, von der Steinbox, in der er an Einsamkeit fast verendet, vom triumphalen Sieg über die Angst, der er ein Kondolenzschreiben schickt. Denn diese Geschichten sprengen jedes Versmaß, ihnen muss sich der Verlauf des Stückes beugen, und manchmal berichtet der Dichter gleich mit Sprechstimme weiter, lässt den Song innehalten.
Diese Stimme, sie glimmt verletzlich im engelsgleichen Falsett, sie donnert soulig, manchmal trotzig in den tieferen Lagen. Sie ist einzigartig, und die Straßburger lauschen gebannt, brechen in frenetische Sympathie aus, wenn der letzte Akkord verklingt. Macht Clementine Ansagen, flüstert er allerdings so krankhaft schüchtern, dass man ihn nicht versteht. Oder kokettiert er mit seiner Unnahbarkeit? Frei von Prätention ist das, was sich da auf der Bühne abspielt nicht: Sein Schweigen vor den Stücken, um den Genius herabzurufen, das Kreisen der Finger über der Taste, das Zelebrieren von schlichten Halbtonrückungen. Dass ihn bei manchen Stücken dann die Cellistin Barbara Le Liepvre begleitet, meist mit warmen Liegetönen, manchmal auch mit gerupften Staccati, macht das Klangbild zwar angenehmer, führt aber auch in die Nähe eines klischierten Schönklangs, der seinen Songs die Intensität nimmt. Als er Nick Drakes „River Man“ covert, seine einzige Adaption, funktioniert das nicht. Man fühlt, seine eigene Musik ist schon einen Schritt weiter, jeder Rückverweis auf seelenverwandte Weltverzweifler überflüssig.
Wenn Pop und Klassik sich treffen, kann das genauso abgründig wie gekünstelt enden. Benjamin Clementine könnte einen Brückenschlag etablieren, der mehr als ein flüchtiger Flirt bleibt. Meine größte Befürchtung: Dieser Mann ist von seiner geheimnisvollen Anmut geradezu prädestiniert dazu, dass er nicht nur von der Musik- sondern auch der Modeindustrie in Beschlag genommen wird. Hoffentlich strahlt er uns demnächst nicht von einem Yves Saint Laurent-Werbeplakat entgegen.
©Stefan Franzen
Benjamin Clementine: „Cornerstone“ (live at Later…with Jools Holland)
Quelle: youtube
Shu-hu-gah
Musikalisch hat er mich gestern Abend bekehrt.
Textlich bleibt weiterhin ein großes Fragezeichen.
D’Angelo: One Mo’gin (live)
Quelle: youtube
The Last Gig In The Sky
Pink Floyd
The Endless River
Mitten in dieser 54-minütigen Abschiedssymphonie tritt er plötzlich ganz unvorhergesehen hervor: Rick Wright sitzt an der großen Pfeifenorgel der Royal Albert Hall und in diesem einen Moment scheint es tatsächlich, als spiele er da seine eigene Totenmesse. Als Requiem auf den und Versöhnung mit dem 2008 verstorbenen Keyboarder wollten Dave Gilmour und Nick Mason dieses wohl letzte Pink Floyd-Album inszenieren. Dafür haben sie die Archive der Aufnahmen zu The Divison Bell (1994) durchkämmt, viele Stunden Ausschussmaterial zu 18 „neuen“ Stücken in vier Sektionen zusammengesetzt. Doch The Endless River ist eher ein Abgesang auf die Bandversion der Siebziger geworden. Weiterlesen
Eklektizismus ist eine Tugend
Meshell Ndegeocello
Kaserne Basel 04/11/14
Klein, kurzgeschoren, dicke rote Brille – und über der rechten Hand ein dunkles, flächiges Tattoo, so dass man meint, sie hätte eine Art abgesägten Handschuh an. Nichts passt hier in die Muster der „schönen schwarzen Sängerin“, genauso wenig ihr komplexer Name (Swahili für „frei wie ein Vogel“) und am allerwenigsten ihre Musik. Doch der Abend in der leider nicht gefüllten Kaserne Basel wird lange in Erinnerung bleiben, auch wenn sie kaum mit ihrem Publikum reden mochte. Weiterlesen
Persiens funkelnder Reichtum
Danke an den größten iranischen Lautenspieler der Gegenwart, der gestern in der Katholischen Akademie in Freiburg gastierte. Das war ein großes Erlebnis! Mehr zum Konzert von Hossein Alizadeh gibt es hier.