Monty re-visits

Foto: Jean Baptiste Millot

Der neu aufgestellte Verein MPS-Studio e.V. blickt mit einem breiten Kulturangebot in die Zukunft. Zum dreijährigen Geburtstag kehrt ein Star der 1970er und 80er an die Wirkstätte in Villingen zurück.

Als führendes deutsches Jazzlabel hatte MPS weltweit einen klangvollen Namen, mit einem riesigen Katalog von Stars wie Oscar Peterson über die Singers Unlimited bis zu Bill Evans. Hunderte von Aufnahmen entstanden seit den Sechzigern direkt in Villingen, in einem Studio mit edelsten Technikkomponenten. Der Industrielle Hans-Georg Brunner-Schwer (HGBS), Ex-Chef des Rundfunkgeräte-Herstellers SABA und leidenschaftlicher Pianist, hatte es eingerichtet. Nach dem Tod von HGBS kam das Unternehmen in turbulente Fahrwasser, etliche Jahre dauerten die Querelen um die Nutzung und Verwaltung der Studios an. Zum Glück ist das seit 2022 Geschichte: Ein neu gegründeter Verein, MPS-Studio e.V. hat die Räumlichkeiten in der Richthofenstraße übernommen und führt den musikgeschichtsträchtigen Ort tatkräftig in die Zukunft.

„Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt renoviert, die Archive in Ordnung gebracht, bieten jeden Monat eine Führung an, haben regelmäßig Konzerte in den Studios“, sagt Töni Schifer, erster Vorsitzender des Vereins. Der gelernte Drucktechniker und Leiter der Kreativagentur Monitorpop war Mitgründer des Kultladens Nastrovje Potsdam, gleiste das Filmmusik-Label Crippled Dick Hot Wax auf und war schon im Vorgängerverein bei MPS aktiv. Aktuell hat der Verein 170 Mitglieder, die nicht nur aus der Regio stammen, sondern auch ideell aus der Ferne unterstützen. Zu den Konzerten kommt ein Stammpublikum, aber sie ziehen auch Besucher aus der Schweiz, aus Hamburg und Berlin an, überregionale Wirkung ist erwünscht.

„Es gibt in Villingen ja einen Jazzclub, und zu dem wollen wir ganz bewusst nicht in Konkurrenz treten“, stellt Schifer klar. „Stilistisch stellen wir die Konzerte breit auf, von klassischem Jazz über World bis zur Avantgarde, auch im Geiste von Joachim Ernst Berendt, der für MPS ja viele Platten produziert hat.“ Auch einen Talk hat man kürzlich angeboten, an dem sich zeigte, dass der Verein die Vorgeschichte der Firma SABA tiefenscharf aufarbeitet, indem man das Thema Zwangsarbeiter während der Nazi-Zeit aufs Podium brachte. Welches Aushängeschild MPS für Villingen ist, hat die Stadt Schifer zufolge begriffen, breite Unterstützung durch die örtliche Politik ist gegeben.

Am 13. Dezember wird nun der dritte Geburtstag gefeiert, und ein besonderer Name ziert das Programm: Mit dem Jamaikaner Monty Alexander kehrt einer der großen Pianisten des Labels in den Schwarzwald zurück. „Wir haben uns angeschaut, wer an MPS-Künstlern überhaupt noch unterwegs ist, da bleiben nicht mehr viele. Und Monty war ein Aushängeschild des Labels, einer der ganz wichtigen Pianisten. Er spielte Hauskonzerte bei den Brunner-Schwers, erlebte hier auch mal Weihnachten und hatte hier sogar eine private Liebesbeziehung.“ Zwischen 1972 und 1985 veröffentlichte Alexander, der auf Empfehlung von Oscar Peterson nach Villingen kam, annähernd ein Dutzend Alben auf MPS, darunter Klassiker wie „We’ve Only Just Begun“. Heute, mit über 80 Jahren gilt er als stilbildend in seiner Verquickung von Jazz mit afrokubanischen Elementen und Reggae. Nostalgische Randnote: Monty Alexander wird schon am Tag vor dem Konzert in der Neuen Tonhalle mit einem Presse-Termin in den MPS-Studios seine alte Wirkstätte besuchen.

Der Verein blickt unterdessen schon über das kleine Jubiläum hinaus: Das analoge Mischpult soll von einem Spezialisten hergerichtet werden, eine Digitalisierung des Archivs steht an. Und es gibt es Pläne, die Jugend und Nachwuchskünstler verstärkt mit Workshops und Führungen einzubeziehen, Aufnahmesessions mit Nachwuchskünstlern einzufädeln – damit MPS auch bei der nächsten Generation seinen klangvollen Namen behält.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 09.12.2025

live Neue Tonhalle Villingen, 13.12., 20h30
mps-studio.de

Monty Alexander: „Where Is Love“
Quelle: youtube

Winterglück im Wohnzimmer

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Elbphilharmonie Hamburg, 16.11.2025
Philharmonie Köln, 21.11.2025

Bunte Vintage-Lampen, ein paar Stühle, dazu das kleine Beistelltischchen mit Wählscheibentelefon, ein schlichter Teppich. Das Bühnenbild soll die Atmosphäre eines intimen Wohnzimmerkonzerts vermitteln – und das inmitten der größten, philharmonischen Konzerthäuser Deutschlands. Doch wer kann einen solchen Spagat mit Leben und Authentizität füllen?

Arm in Arm kommen die beiden, die das vermögen, auf die Bühne – er in sportiver Freizeitkleidung, sie, als möchte sie mit Rock und schicker Bluse auf ein dörfliches Tanzfest gehen. Gefunden haben sie sich, weil sie sich in ihrer gegenseitigen Bewunderung wohl einfach finden mussten: die schönste, warmherzigste und virtuoseste Stimme der katalanischen Musik, und der einstige Eurovision Song Contest-Held, nach dramatischer Herztransplantation einer der führenden Kreativköpfe der neuen portugiesischen Szene. Ihr gemeinsames Album Sílvia & Salvador ist ein unspektakulärer, intimer Meisterstreich, der die Kraft der Menschlichkeit und die Liebe zur Stimme in allen Facetten feiert, ohne Angst vor Sentimentalitäten und Wohlklang, von Barcelona und Lissabon hineingreifend nach Uruguay, Mexiko, Brasilien und auch ins Chanson und in Country-esques.

In Deutschland hat das Paar ungleiche Voraussetzungen: Sobral ist durch den ESC und vorherige hiesige Tourneen bekannt, und er kann sich auf eine große Anzahl von Exil-Portugiesen im Auditorium stützen, spricht ein wenig Deutsch, was er in augenzwinkernden Ansagen charmant ausprobiert. Sílvia Pérez Cruz ist nach 25 Jahren Karriere tatsächlich das erste Mal auf deutschen Bühnen zu hören – doch es ist schnell spürbar: Ihr fliegen dank ihres ergreifenden, gewinnenden Naturells und ihrer überwältigenden, vokalen Wärme schnell die Herzen zu.

Bereits im Eröffnungsstück ist klar, dass das Intime im philharmonischen Großbau bestens funktioniert: „Ben Poca Cosa Tens“, mit Worten des Dichters Miquel Martí i Pol, erzählt von der Trennung und der Einsamkeit, und wie diese in einem gewagten Aufschwung im frischesten Licht („llum fresquíssima“) Trost findet. Die beiden Stimmen, verwandt in Timbre und hohem Register, schrauben sich mit großem Atem in höchste Höhen, fliegen schließlich, als würden die Schmerzensschreie in Schwerelosigkeit münden. Und hier muss gleich auch das Loblied der drei Bandmusiker gesungen werden: Berklee-Absolventin Marta Roma bringt durch ihren feinen, eleganten und genauso pfiffig-rhythmischen Cello-Strich kammermusikalisch-klassisches Flair hinein, Dario Barroso aus Tarragona ist ein souveräner, ideenreicher Riff-Kapitän. Die Überraschung im Trio ist aber der Mallorquiner Sebastià Gris, der vor allem mit Mandolinen und Banjo eine feinmaschige Zupf-Textur gestaltet, Volkstümliches clever mit Virtuosentum verknüpft.

Familiäre Nährstoffe bezieht die Show von vielen Freunden und Verwandten der Protagonisten: Der Uruguayo Jorge Drexler hat Sobral und Pérez Cruz „El Corazón Por Delante“ geschenkt, ein mit seligen Terzen gefüllter Gesang, der bei vielen anderen Interpreten ein wenig kitschig anmuten könnte, hier aber zum leutseligen Walzer mit Publikumsbeteiligung wird. Schwester Luisa Sobral und Ehefrau Jenna Thiam sind in der Autorinnenriege zu finden – letztere sorgt mit „L‘Amour Reprend Ses Droits“ (Musik: Carlos Montfort) für den Chanson-Moment des Abends: In Sílvia Pérez Cruz‘ Phrasierung leuchtet hier ein wenig Édith Piaf durch, allerdings befreit von jeglicher Härte der Pariserin. Endgültig zum Wohnzimmer werden die Elb- und die Kölner Philharmonie aber durch „Someone To Sing Me To Sleep“. Barroso leitet hier mit vielen Themenanspielungen romantisch und wehmütig ein, dann verschmilzt er mit den beiden tiefempfundenen Stimmen (der sonst so falsett-verliebte Sobral in erstaunlichen Bass-Lagen) zum spätnächtlichen Lagerfeuer-Moment. Hinter mir sind bewundernde Seufzer zu vernehmen.

Es ist ein Abend, der auch von wechselnden Konstellationen lebt: Sobral lässt es sich nicht nehmen, mit Marta Romas Pizz-Begleitung Max Raabes „Kein Schwein ruft mich an“ aus seiner Überraschungskiste frei zu lassen, in Hamburg lässt das alle hanseatische Reserviertheit schmelzen, im karnevalesken Köln sowieso. Dann schaltet er radikal auf die waidwunde Samba-Ballade „Ella Disse-Me Assim“ um, brüllt seinen Liebesschmerz ohne Mikro in den Saal. Pérez Cruz sorgt für Atemlosigkeit im Auditorium, als sie Lorcas Gedicht „Pequeño Vals Vienés“ von Leonard Cohen zurückstiehlt – dunkler und mit allmählicher Steigerung in Hamburg, dramatischer in Köln mit großer Ornamentik und improvisatorischer Fantasie, die auch einen Seitenpfad zu „Hallelujah“ öffnet. Hier zeigt sich: Aus jedem Song schöpft sie ihr eigenes lichterfülltes Universum.

Der finalen Kurve sind die lebhafteren, mitreißenderen Stücke vorbehalten: Mit beherztem Schlag auf der großen Trommel kommt Erdigkeit in Sobrals „Mudando Os Ventos“. Und in „Muerte Chiquita“ geht Pérez Cruz auf eine genauso spielerische wie feurige Flamenco-Exkursion, die einen in die Knie zwingt. Das Publikum fordert Zugaben und bekommt zwei denkbar grandiose: Für ihr „Mañana“ im Stil einer bittersüßen mexikanischen Ranchera wird Sílvia Pérez Cruz zur Gesangslehrerin, und die steifen Ränge der Philharmonie quellen über vor Herzschmerz. Schlussschwung gibt es mit Sobrals „Anda Estragar-Me Os Planos“, mit einem zarten Hauch von Western-Saloon. Der Abstecher der beiden Koryphäen von der Iberischen Halbinsel brachte eine große Portion Winterglück in diese klirrend kalten Novembertage.

© Stefan Franzen

 

Ein Mann wie eine Insel

Spagat zwischen Klassik und Indie-Pop:
Der PhilClub.Freiburg startet mit dem Kanadier Owen Pallett in die neue Saison.

Februar 2017 in Toronto: Kanada feiert seinen 150. Geburtstag mit einer Konzertserie namens „Canada Mosaic“, in der sich Klassik und Popkultur durchwirken. Einer der Höhepunkte: Der heutige Dirigent des Philharmonischen Orchesters Freiburg, André de Ridder, leitet das Toronto Symphony Orchestra im Zyklus „Songs From An Island“ für Bariton und Orchester von Owen Pallett. Das Torontoer Publikum, altersmäßig gut durchmischt, ist begeistert von den Liedern in einem englisch-spätromantischen Ton. 2020 arbeitet Pallett die Lieder für seine eigene sanfte, empfindsame Stimme zu einem in Teilen symphonischen Indie-Pop-Album um, das ein wenig folky, bekennend lyrisch, manchmal geradezu träumerisch tönt. „Wenn Owen Songs schreibt, dann gehen die durch sehr viele Metamorphosen und Arrangements“, so Freiburgs GMD. „Wir versuchen im Phil Club jetzt, die Versionen vom Album wiederzugeben. Er selbst wird Gitarre spielen, und für die drei Stücke mit Schlagzeug hat er sich Andi Haberl von The Notwist gewünscht.“ Doch wer ist Owen Pallett, dessen Name dem Klassik-Publikum und auch Pop-Affinen hier wenig vertraut sein dürfte?

Pallett und De Ridders eigene Band Stargaze fanden seit zwölf Jahren mehrfach zusammen, etwa bei der Ruhrtriennale oder im Berliner Berghain. Der 46jährige Kanadier hat eine klassische Ausbildung und ist heute als Filmmusiker gut im Geschäft. Er trat als einer der Kreativköpfe der Montrealer Alternative-Pop-Bubble um die Band Arcade Fire in Erscheinung, arrangierte die Stücke der Weltstars und war als Geiger auch mit ihnen auf Tour. Parallel veröffentlicht er Konzeptalben, für deren Geschichten er Alter Egos entwirft, so auch auf dem fünften und bislang letzten „Island“. „Er sieht selbst, dass er in der Musikszene nirgendwo so richtig reinpasst und eigentlich eine Insel ist“, sagt de Ridder. „Mit dem schönen Titel ‚Lewis get‘s fucked into space‘ verabschiedet er sich von seinem bisherigen zweiten Ich, das er Lewis nannte. Das Werk ist auch eine Identitätsfindung für ihn“.

Der Auftakt-Abend zur neuen Phil Club-Saison bringt eine neue Variation in die beliebte Reihe. Die Aufführung eines ganzen Albums verdichtet das bisher eher Intermezzo-hafte Teamwork von Orchester und den Gästen aus der Popwelt. Und strahlt bezugsreich in die Saison aus, wie de Ridder verrät: „Im April wollen wir zum 40jährigen Jubiläum ‚The Colour Of Spring‘ von Talk Talk auch in Gesamtlänge spielen, mit Chören, inklusive Kinderchor und Blockflöten. Wir nutzen also die verschiedenen Ensembles des Theaters für ein wunderbares spartenübergreifendes Projekt.“ Bezüge gibt es noch mehr: Vor Palletts „Island“ erklingen im Phil Club die „Shaker Loops“ von John Adams, dessen Oper „Doctor Atomic“ im November Theaterpremiere hat. Und mit Jonny Greenwood von Radiohead ist im ersten Symphoniekonzert ein weiterer Popschaffender mit Filmmusik im Programm.

Anglophone Durchlässigkeit ist also erneut spür- und hörbar, gemäß der Liebe de Ridders zur „Crossgenre“-Philosophie: „Die deutsche Klassik-Szene ist sehr vom Solistentum geprägt, man neigt dazu, sich zu separieren. In Kanada und den USA setzt man auf Kollaborationen, auf Offenheit und Respekt gegenüber anderen Genres, das begünstigt Dinge, die sonst nie entstehen würden.“ Der GMD hat beobachtet: Freiburg zeigt sich aufgeweckt genug für diese Perspektive. Ob sie auch nach seinem Weggang weitergepflegt wird? „Die neue Intendanz ist dafür sehr empfänglich, weil sie selbst spartenübergreifend arbeitet. Aber natürlich muss man meiner Nachfolge den Raum geben, vielleicht wieder ein völlig neues Konzept mitzubringen.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung

Live: Freiburg.Phil Club mit Owen Pallett, 8. Oktober, 20:00 Uhr, Theater Freiburg (Kleines Haus)

Owen Pallett: „A Bloody Morning“
Quelle: youtube

Seelenfutter auf der Burg


(alle Fotos © Stefan Franzen)

Ledisi & Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt
Heidecksburg Rudolstadt
04.07.2025

„We can’t be silent anymore“, heißt es in einer Textzeile, die sie kraftvoll in den thüringischen Nachthimmel hineinbettet. An dieser Stelle, die man am amerikanischen Nationalfeiertag natürlich bedeutungsschwanger aufladen kann, wenn man will, liegt ihr das Publikum längst zu Füßen. Ledisi Anibade Young, kurz Ledisi, zählt zu jenen Soulsängerinnen, die besonders bei uns oft unterm Radar der hochgepushten Queens hindurchgesegelt ist. Dabei lohnt es sich, ihr Werk zu erkunden: Denn da gibt es nicht nur den Grammy-Song „Anything For You“ (2020) zu entdecken, auch eine berührende Album-Hommage an Nina Simone, ein Teamwork mit Prince und nicht zuletzt ihre Rolle als Gospelsängerin im Film „Selma“. Ihre Klangsprache ist dabei in den letzten beiden Dekaden auch nicht frei von cool konfektioniertem Neo-R&B gewesen.

Ihre Stimme aber, sie ist über jeden Zweifel erhaben, und sie trägt im symphonischen Ambiente grandios. Ledisis Erfahrungen mit Orchestern reichen zurück bis ins Alter von acht Jahren, als sie mit dem Symphony Orchestra ihrer Heimat New Orleans einen ihrer ersten Auftritte absolvierte. Erprobt von Tuchfühlungen mit portugiesischen bis chinesischen Musikerinnen und Musikern erweisen sich an diesem denkwürdigen Abend die Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt unter Oliver Weder als Traumpaarung mit der Amerikanerin. Soul und Klassik im Epizentrum des größten deutschen Folk- und Weltmusik-Events – ein Wagnis, das nicht nur aufging, sondern zum ganz großen Highlight in der gesamten Festivalgeschichte wird.

Das liegt an einer Akteurin, die vokal an diesem 4. Juli Meisterin über alle Timbres ist: In ihren Nina Simone-Adaptionen aufrichtig earthy, waidwund in Brels „Ne Me Quitte Pas“, fast schwerelos in Harrisons „Here Comes The Sun“, mit bitterböser Raserei in „I Put A Spell On You“. Es gibt zahllose Augenblicke, die einem allein durch die physische Wucht ihrer Shouts Tränen in die Augen treiben: Wo holt sie diese Spitzentöne her, aus welcher Welt klaubt sie diese Schleifen in Aretha Franklin-verdächtigen Lagen?

Das Erhabene dieses Abends ist aber zu gleichen Teilen Beitrag eines Klangkörpers, der kongenial mit Ledisi zu atmen versteht: Die Streicher flirren und seufzen, swingen und jagen, in der Bläsersektion gibt es fulminante Dialoge mit der Protagonistin von Posaune, Sax und Trompete – und besonders von der E-Gitarre kommen mehrfach fein modellierte Interludien.

Diese Show ist ein einziges großes Glücksgefühl, da es wirklich keine Leerstellen gibt, alles wohldosiert zwischen orchestraler Bigband-Wucht und intimen Zwiesprachen balanciert. Und in diesen stilleren Momenten,  in denen Ledisi mit dem Konzertflügel von Brandon Waddles und der Rhythmussektion in hellwachem Kontakt steht, offenbart sie eine Kopfstimme, die mit ihren still leuchtenden Farben übers Soul-Fach in klassische Qualitäten hineingreift. Während Simones „Wild Is The Wind“ gehorchen ihr sogar die Glocken des Elfuhr-Schlags, die tonart- und taktgerecht einstimmen. Man wünscht sich, dass diese Frau die perverse Verbrecherclique, die ihr Land im Griff hat, mit ihrer Stimme hinwegfegen könnte – und auf einer Metaebene hat sie es auch getan.

Mit der letzten Zugabe wandelt sich die Burg zur Kirche: „Precious Lord“ setzt einen tief gospelgetränkten Schlusspunkt, der zu Ledisis Wurzeln hinab- und zugleich ins Himmlische entführt. Dann zieht sie ihre goldenen Absatzschuhe aus und schreitet barfuß in die Sommernacht. Und zum ersten Mal ist da ein Gefühl, dass Arethas verwaister Thron doch nicht für alle Zeiten leer bleiben muss.

© Stefan Franzen 

Baltisches Barcelona

Rita Payés
JazzBaltica, Timmendorfer Strand
28.06.2025

Frische 18 bis 23 Grad, ein schönes Windchen, Sonne über der Lübecker Bucht: Dieses Setting ist der paradiesische Rahmen für die JazzBaltica. Und als Überraschung am Samstagmittag ein katalanisches Quintett, das vom Jazz und Latin-Fach mit dem Programm De Camino Al Camino eine lyrische Brücke schlägt ins Songwriting.

Rita Payés heißt die Dame aus Vilassar de Mar, die zwischen einer empfindsamen Stimme und inspirierten Posaunen-Soli changiert. In Kommunkation steht sie mit einer grandiosen Band: Süffig-melodische Läufe an der Flamenco-Gitarre von ihrer Mutter Elisabeth Roma, der argentinische Bassist Horacio Fumero unterlegt wendig und dialogfreudig, Pol Battle lässt sich auch mal zu zornig-verzerrten Einlagen hinreißen, am Schlagwerk grundiert und interagiert Juan Berbin. Mediterrane Glückseligkeit an der Ostsee.

alle Fotos Stefan Franzen

Sturm des Schöpfergeists in Wien


In der Vorpfingstwoche wehte der Geist Gustav Mahlers durch Wien – mit zwei grandiosen Konzerten:

Mahlers Achte, die „Sinfonie der Tausend“, mit 350 Mitwirkenden im Musikvereinssaal:
Das Tonkünstlerorchester, unterstützt durch 3 Chöre (unter ihnen die Wiener Sängerknaben) bereitete Yutaka Sado nach 10 Jahren Wirkens in St. Pölten einen atemberaubenden Abschied.
Der Pfingsthymnus „Veni Creator Spiritus“ kombiniert mit der Schlussszene aus Goethes „Faust“: Mahlers Verbeugung vor dem glühenden, schöpferischen Sturm des Eros.

Und im Konzerthaus die Wiener Philharmoniker unter Iván Fischer und dem wunderbar warm-expressiven Alt von Tanja Ariana Baumgartner mit dem „Lied von der Erde“ – als berührendes Bekenntnis zur Vergänglichkeit des physischen Menschen im ewig sich immer wieder selbst schöpfenden Kreislauf der Natur.

Beide Konzerte sind dank ORF nachzuhören:
Mahlers „Symphonie der Tausend“ | DI | 10 06 2025 | 19:30 – oe1.ORF.at
Philharmonisches mit Iván Fischer | SO | 08 06 2025 | 11:51 – oe1.ORF.at

Mahler trifft auf Art-Pop


Dirty Pr
ojectors, David Longstreth & stargaze
Song Of The Earth
(Transgressive/Nonesuch)

Stargaze, das multinational besetzte Kollektiv von Freiburgs GMD André de Ridder, spannt mit der US-Indierock-Band Dirty Projectors zusammen. Die Inspiration lieferte Gustav Mahler.

Welche Musik komponiert man im unmittelbaren Angesicht der Klimakatastrophe? Nachdem Waldbrände atemraubend bis an sein Haus in L.A. gezüngelt waren, schuf David Longstreth, Mastermind der Dirty Projectors, kein dystopisch lärmendes Klangszenario. Vielmehr ist sein Zyklus „Song Of The Earth“ ein Werk, in dem trotz ausufernder Besetzung Verletzlichkeit im Zentrum steht. Vor allem das Besingen der irdischen Naturwunder und der Verzweiflung, wie wir unser offensichtliches, selbstverschuldetes Ende verdrängen, entfaltet sich opulent in 24 Kapiteln. Um Longstreths empfindsame Vocals agieren die drei Frauenstimmen der Dirty Projectors plus Gäste von Steve Lacy bis Ayoni. Sie begegnen Stargaze: Quintette aus Streichern und Bläsern, die teils noch orchestral aufgestockt werden, dazu Klavier, Cembalo, opulentes Schlagwerk. Diesen vielköpfigen Zwitter aus Orchester und Band am Pult bündelnd und bändigend: Crossgenre-Spezialist André de Ridder, dessen Wunsch es ist, das Stück einmal in Freiburg auf die Bühne zu bringen.

Zugegeben, das 64-minütige Opus ist überambitioniert, überfordert Pop-Hörgewohnheiten. Auch wenn sich ein paar Leitmotive herausschälen, geht, wer herkömmliche Songstrukturen erwartet, fast leer aus. Es gibt sehr stille, folkige Momente zur Gitarre, lyrische Chorschichtungen, kristalline Streichersounds, pastorale Anmutungen. Besonders ausgearbeitet sind die Holzbläser-Texturen, oft loop-artig und an den Minimalisten Philip Glass erinnernd. Die verschrobenen Instrumentenkombinationen und Taktwechsel lassen an Beach Boy Brian Wilsons „Pet Sounds“-Phase denken. Doch um die Ecke lauert der Kipppunkt, immer wieder greifen drohende Blech-Fanfaren an. „Schönheit gespickt mit Zerstörung“, nennt Longstreth das.

In dieser Verwitterung der Grenzsteine zwischen Songwriting und Klassik liegt vielleicht die Zukunft der Musik. Die letzte Pop-Generation mit Bryce Dessner und Owen Pallett entwirft ja schon länger selbstbewusst Orchesterpartituren, und auch ein Longstreth bindet sich vielsagend an das Erbe der Spätromantik an: Seinen Werktitel hat er dem „Lied von der Erde“, Gustav Mahlers Vokalsymphonie von 1908 entlehnt. Auch wenn die musikalischen Parallelen allenfalls am Ende aufscheinen, in Longstreths Elegie „Blue Of Dreaming“, sind die beiden über Zeitalter hinweg Verwandte im Geiste: Beide erzählen ergreifend und melancholisch vom Zurücklassen-Müssen einer Erde, die sich immerfort zyklisch erneuert – auch nach unserer Selbstzerstörung.

© Stefan Franzen

Dirty Projectors, David Longstreth & stargaze: „Blue Of Dreaming“
Quelle: youtube

Mexikanischer Zunder in Duisburg

Transatlantische Klangwellen
Alondra de la Parra, Thomas Enhco, Duisburger Philharmoniker
Mercatorhalle Duisburg
19.02.2025

„Sind die Ohren noch dran?“ Der Herr am Merchandising-Stand zwinkert einem Konzertbesucher zu, der etwas benommen Richtung Ausgang wankt. Das überwiegend ältere Publikum in der Duisburger Mercatorhalle zwitschert aufgeregt bis aufgescheucht durcheinander, während man eher amorph als geordnet mit abklingender Gänsehaut auf die Garderobe zusteuert. Was war hier passiert?

Die Ehre gab sich die in Berlin lebende mexikanische Gastdirigentin Alondra de la Parra. Sie ist eine der heftig aufstrebenden immer noch wenigen Frauen ihrer Zunft. Und sie bricht seit Jahren eine Lanze für modernere lateinamerikanische Kompositionen, insbesondere die symphonischen Werke ihres Mutterlandes. Unter dem Titel Transatlantische Klangwellen schlägt sie an diesem Abend den Bogen von Frankreich über Spanien bis nach Mexiko.

De la Parra, die unter anderem bei Kurt Masur Dirigieren gelernt hat, erweist sich als grandiose Rhythmikerin, die in der „Rapsodie Espagnole“ von Maurice Ravel das Flirren der iberischen Nacht als spannungsgeladenes Vorspiel für die zündende „Malagueña“ und die glühende „Feria“ inszeniert. Die exzellente Akustik des Saals lässt die Instrumentationskunst Ravels differenziert aufblitzen.

Auftritt Thomas Enhco: Der Pariser Pianist steht mit einem Bein in der Klassik , mit dem anderen im Jazz, seiner prioritären Liebe. In Manuel de Fallas „Nächte in spanischen Gärten“, das er erstmals auf ener Bühne spielt, füllt er die eigenartige Position zwischen Solistenfunktion und Orchesterkolorierung virtuos. Mehr noch geht er in seiner Rolle auf, als er seine Eigenkomposition Sept Visions in der Uraufführung präsentiert. Variationen, die von einem pastoralen Oboen-Thema ausgehend, zwischen atmosphärischer Filmmusik und Jazz-Improvisation pendeln, kurzweilig, schwelgerisch und mitreißend. Als Encore nimmt er sich ein Mozart-Thema vor, re-harmonisiert und rhythmisiert es so clever, dass es zu einem rührenden Stück mit Pop-Appeal wird.

Das Finale gehört dem mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas (1899-1940) und seiner zu einer viersätzigen Symphonie gruppierten Filmmusik La Noche De Los Mayas. Alondra de la Parra führt mit Esprit in dieses Werk der Superlative ein, an dem allein 13 Perkussionisten beteiligt sind. Die Stimmung eines Maya-Rituals wird zu Anfang in fiebrige Streichertöne gegossen, gekrönt von dräuenden Bläserfanfaren und bombastischer Trommel, kontrastiert von einem wehmütigen Flöten-Interludium. Von Schrappholz, Xylophon und Pauken wird das Orchester im quertaktigen Scherzo angeheizt. Überraschend träumerisch, fast an Richard Straussens Rosenkavalier-Schmelz erinnernd, aber letztendlich doch in Mexikos Terzenseligkeit wurzelnd, taucht man in die „Noche de Yucatán“ ein.

Der 4 .Satz, die „Noche de Encatamiento“, wird dann zur ausufernden, ekstatischen Orgie, vorangetrieben von Muschelhorn-Signalen. Die Perkussionisten-Riege tobt sich in kontrollierter Schichtung aus, de la Parra steuert die Fieberkurve am Pult mit unbeirrbarem Puls. Mit immer neuer Intensivierung in Lautstärke und Tempo schreitet das Ritual in etlichen Wellen voran, die schiere Dezibel-Wucht presst einen in den Stuhl. Diesen polyrhythmischen Laden zusammenzuhalten, ein Orchester, das hier fast zur reißenden Bestie wird, erfordert höchste Disziplin von einer Maestra, die mit wehendem Beinkleid Einsätze wie Dolchstöße gibt, aber auch immer wieder feinsinnig hinunterzügelt. Und sich beim enthusiastischen Schlussapplaus scheinbar ungerührt von diesem Kraftakt zum Saal umwendet. Was für ein Energiesturm – und was für eine ungeahnte Traumpartnerschaft zwischen einer resoluten, sensitiven Kosmopolitin und den fantastisch präzis agierenden rheinischen Spitzenphilharmonikern.

© Stefan Franzen

alle Fotos: Stefan Franzen

 

 

Nachlese: Ohren auf Weltreise – Reithalle Offenburg

Vielen Dank an alle, die ins Foyer der Reithalle Offenburg gekommen sind, um diesen tollen Abend mit uns zu feiern.
„Ohren auf Weltreise“ machte in meiner Geburtsstadt Station, bereichert und begleitet von Awa Ly und Lucie Cravero.


Jürgen Haberer schreibt am 5.2. im Offenburger Tageblatt:

„Gut eine Stunde wird das Publikum in der Reithalle in einen musikalischen Sog hineingezogen. In der feinsinnigen Reduktion entwickelt das Duo eine bemerkenswerte Aura und Kraft. Das Publikum ist begeistert und beeindruckt, weil hier auch ein durchdachtes Konzept zum Tragen kommt: ‚Ohren auf Weltreise‘ als eine Lesung mit Musikbeispielen, kombiniert mit einem richtigen Konzert.“

Fotos: © Stefan Franzen

 

Radiotipp: Mit 5 Instrumenten um die Welt

SWR Musikstunde
Mit 5 Instrumenten um die Welt
03. – 07.02.2025, jeweils 9 Uhr 05 (Wdh. um 23h03)

In ihren Ländern gelten sie als Nationalinstrumente, sind aber allesamt Teil einer großen Familie über Grenzen hinweg. Alle haben sie einen unverwechselbaren Klang und eine spannende, wendungsreiche Geschichte. Heutzutage erklimmen sie internationale Bühnen, treten aus ihrer Tradition heraus, begegnen der Klassik, verbünden sich mit Pop, flirten mit Jazz.

Fünf Instrumente, mit denen wir in dieser Woche um die Welt reisen – von Lissabon nach Thüringen, von Bamako nach London, von Teheran nach Berlin, von Dublin nach Venedig, von Valencia nach New Orleans und Rio.

Pedro Caldeira Cabral: „Fantasia Verdes Anos“
Quelle: youtube