Seinem lyrischen Ton konnte ich immer zuhören, auch wenn ich nie ein ausgesprochener Fan der Saxophonliteratur war.
Wayne Shorter, den ich vor allem bei seinen vielen Ausflügen abseits des Jazz schätzen lernte, von Milton Nascimento über Steely Dan bis Joni Mitchell, hat heute im Alter von 89 Jahren die Erde verlassen. Rest In Power.
Erinnern möchte ich an ihn mit einem seiner schönsten frühen Stücke, vom Post Bop-Album Speak No Evil auf Blue Note (1966).
Petros Klampanis Tora Collective (enja & yellowbird)
Zwischen Epirus und Mazedonien im Norden, Kleinasien und der Ägäis im Süden beherbergt die griechische Musik ein schillerndes Kaleidoskop von Stilen. Wir bekommen sie oft in Auszügen zu hören, selten deckt ein Ensemble alle Facetten ab. Der aus Athen stammende und dort und in New York lebende Bassist Petros Klampanis tut das, hat auf Tora Collective allerdings nicht nur ein Stilkompendium versammelt, sondern er formt aus all den griechischen Traditionen eine lebendige Jazzsprache. Dabei dienen ihm – wie so oft im Jazz – die traditionellen Melodien nicht nur als Ausgangspunkt zu weit abschweifenden Improvisationen, sondern Klampanis bleibt in Stücklänge in den lokal geprägten Färbungen.
Dass das gelingt, liegt auch an einer großartigen Band, in der die waidwunde Stimme der Sängerin Areti Ketime, Thomas Konstantinou an der Oud und Giorgos Kotsinis‘ schmerzlich vibrierende Klarinette herausragen. Dabei kann es mal sehr melancholisch wie im Volkslied „Ménexedes Kai Zouboulia“ aus Konstantinopel, mal sehr tänzerisch wie in „Hariklaki“ aus der Feder des in Smyrna wirkenden Rembetiko-Komponisten Panagiotis Toundas zugehen. Und ein paar Mal nehmen sich Klampanis auch die Freiheit, in Neukompositionen das Jazz-Idiom in den Vordergrund zu stellen. Großartig atmende Dynamik und viel Transparenz lassen alle Akteure, zu denen „Griechen-fremd“, aber sehr einfühlsam auch Pianist Kristjan Randalu und Trompeter Sebastian Studnitzky zählen – mit ihren Beiträgen wie in einer schmuck marmorierten Gesamtstruktur zur Geltung kommen.
Pulsar Trio We Smell In Stereo (Musszo/Kontor New Media)
Der Verdacht liegt nahe, dass bei dieser Band mindestens eines der Mitglieder synästhetisch veranlagt ist. „Wir riechen in Stereo“ könnte aber auch dahin deuten, dass hier Klänge aus Ost und West zu einem ganz neuen räumlichen Klangbild verschmelzen. In ihrer Verknüpfung von jazziger Improvisation, Popsong-Gestus und den Klangfarben der Sitar gehen die Musiker des Pulsar Trio auf ihrem vierten Abum einen kräftigen Schritt voran. Das synkopisch verhakte „Flotjet“ als Opener mit aberwitzigen Tremoli sorgt für hohen Puls, der aber sofort kontemplativ heruntergekühlt wird.
Diese Balance bestimmt auch den Rest des Werks: Das Titelstück katapultiert die Hörenden mit Wucht ins All, „Glaciers“ dagegen hat eine feingliedrige, auf einem Ton beharrende Spannungskurve, und „Susan“ ist eine schwebende Liebeserklärung. Eine Anschmiegung an barocke Figuren leuchtet in „Bacheweich“ durch, bevor der „Schlendryan“ sich mit Bass-Sitar bauchig gebärdet. Man schnuppert sich durch die Klangräume dieser Kompositionen und die Riechrezeptoren sagen: Osten und Westen vermählen sich in Kopf-, Herz- und Basisnote zu einer gelungenen neuen Duftpyramide. (Veröffentlichung: 3.3.)
Im fast biblischen Alter von 94 Jahren ist er nun gegangen, Burt Bacharach, wohl größter Popsongwriter aller Zeiten. Wie man einen Song aufbaut, mit welchen Überraschungen melodischer und harmonischer Art man es auf die Spitze treiben kann, welche Klimax-Kniffe, welche emotionalen Kipp-Punkte sich einbauen lassen, und die ganze Architektur dabei doch federleicht und ohrwurmig erscheinen zu lassen: Er wusste das alles wie kein/e andere/r seiner Kolleg/innen.
Vor seinem riesigen Werkkorpus kann man nur erstarren, für wen er geschrieben hat, würde einem endlosen, faden Namedropping gleichen. Daher habe ich mich entschieden, ihn mit sieben Versionen meines Lieblingssongs in die andere Welt zu geleiten. Und allein an diesen sieben Versionen durch die Genres und Geographie lässt sich schon ablesen, welche universelle Wucht seine Handschrift hatte.
1. Cilla Black feat. Rebecca Ferguson & Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
Ein erster Vorbote aus Carminhos neuem Album Portuguesa, das am 3. März erscheinen wird, kündigt sich an: die Single „O Quarto“, ganz in Schwarz-Weiß und mit den bekannten Fado-Insignien nebst Wolkenwucht inszeniert. Carminho tritt am 7.2. im Stadtcasino Basel auf.
SWR 2 wiederholt ab Montag, den 30.01. meine Musikstunde von 2020:
„Der Atem des Himmels – eine musikalische Geschichte der Düfte“
SWR 2 Kultur, 30.01. – 03.02.2023, jeweils 09h05 – 10h
„Parfums sind Symphonien und Parfumeure Komponisten. In der Kunst ist die Parfümerie die duftende Nachbarin der wohlklingenden Musik“, bemerkte einst Jean Cocteau. Zu welchen Liedern, Chansons, Songs, Symphonien oder Opernarien regten die Harze und Kräuter der Antike, die Blüten und Früchte des Mittelmeers, die Hölzer und Gewürze des Orients die musikalische Fantasie an? Welche Werke entstanden als Widmung an duftende Persönlichkeiten wie die Königin von Saba, Kleopatra, Louis XIV oder Coco Chanel? Und umgekehrt gefragt: Wie duften Puccinis Cio Cio San oder Tschaikowskys „Pique Dame“, welche Aromen verströmt ein Flamenco oder ein Tango in der Vorstellung der Parfumeure?
Um all diese nie ganz greifbaren, doch gerade deshalb immer schillernden, synästhetischen Abenteuer zwischen Nase und Ohren geht es in dieser Musikwoche, über 5000 Jahre hinweg, über fast alle Erdteile, von Babylon bis nach Buenos Aires, von den Pharaonen bis zu Kate Bush.
1. Von Myrrhe, Weihrauch und Balsam – die Wohlgerüche des Altertums (30.01.) 2. Tausendundein Aroma – die Düfte des Orients und Asiens (31.01.)
3. Vanille, Zimt, Orange und Jasmin – von den Tropen ins Mittelmeer (01.02.)
4. Könige, Romantiker und Synästheten – Streifzüge durch Europas Dufthistorie (02.02.)
5. Von Coco Chanel bis Kate Bush – Parfums der Neuzeit (03.02.)
Die Plauener Pianistin Johanna Summer liebt Herausforderungen. Sie gilt als Jazzmusikerin, schlug mit ihrem „Schumann Kaleidoskop“ (2020) aber einen Weg ein, auf dem sie klassische Klavierkompositionen einer Neudefinition unterzieht, die mit dem Prädikat „verjazzt“ völlig verfehlt beschrieben wäre. Das wird umso ohrenfälliger auf ihrer zweiten Solo-Scheibe, auf der sich die 27-Jährige einem Repertoire von Johann Sebastian Bach bis György Ligeti widmet. Summer versenkt sich in die jeweilige Tonsprache, um das Baumaterial, die „Genetik“ eines Komponisten zu erfassen.
Aus dem Moment schöpfend entwirft sie dann eine neue Architektur. In ihrer Adaption der Bachschen Sinfonie Nr.11 in g-moll lockt sie spartanische Phrasen aus der Tiefe des Tonraums, die sich dann allmählich zur Polyphonie des Originals ordnen. Schuberts „Impromptu Nr.4“ gestaltet sie erst als Fantasie über seine typische Handschrift, bevor sie dann in Fragmente des bekannten perlenden Motivs einschwenkt. In einem Wiegenlied des Katalanen Federico Mompou fängt sie dessen Vorliebe für glockenartige Harmonien auf, die als Vorspiel zur Melodie dienen, und im „Prélude“ aus Ravels „Le Tombeau De Couperin“ lässt sie die Thematik sich aus irisierenden Tremoli entfalten.
Ähnlich verblüffende Entdeckungen lassen sich bei ihren Lesarten von Beethoven, Grieg und Tschaikowsky machen. Summer schafft also tatsächlich „Resonanzen“ zum Original, alternative Fakturen, Geschwister aus einer unbekannten musikalischen Parallelwelt.
Sie hat die Musik ihres Volkes, der Shona aus Simbabwe, international und pionierhaft bekannt gemacht hat, ihr Instrument, das Daumenklavier Mbira war dabei das Vehikel. Nun ist Stella Chiweshe im Alter von 76 Jahren gestorben.
Als sie 1946 im Dorf Mujumi geboren wurde, hieß ihre Heimat auf der Weltkarte noch Rhodesien, und die Bedingungen für die lokale Kultur waren unter kolonialer Herrschaft hart. Sowohl die Regierung als auch die Kirche versuchten, die oft rituelle, heilige Mbira-Musik auszumerzen, sie musste heimlich weitergetragen werden. Stella Chiweshe musste als junge Frau außerdem die Hürde überwinden, dass ihr Instrument traditionsgemäß nur von Männern gespielt wurde. Sie setzte sich über diese Festlegungen hinweg, da sie überzeugt war, ihre Vorfahren hätten ihr mit dem Mbira-Spiel einen Auftrag gegeben. Als sie sechzehn Jahre alt war, erklärte sich ein Großonkel bereit, sie zu unterweisen. Schnell wurden ihre Fähigkeiten erkannt und sie erhielt den Titel „Queen Of Mbira“.
1974 trug Chiweshe mit der Gründung ihrer ersten Band die Mbira in die weltliche Musik hinein, das Stück „Kasahwa“ wurde zu einem großen Hit. Als die Kolonialherren sich 1980 zurückzogen, schloss sich Stella Chiweshe der National Dance Company des jungen Simbabwe an und tourte international. Im gleichen Jahrzehnt übersiedelte sie nach Deutschland, heiratete dort und eroberte mit ihrer Musik ein europäisches Publikum. Zahlreiche Plattenveröffentlichungen begleiteten ihre Karriere, beginnend mit der Scheibe „Ambuya?“ auf dem Label Piranha. Später kehrte sie in die Heimat zurück und gründete dort das Kulturzentrum Chivanhu Centre nördlich von Harare. Chiweshes Tochter Virginia Mukwesha führt heute das Shona-Erbe ihrer Mutter fort.
Leserinnen und Leser dieser Seitenstrecken-Kolumne auf greenbeltofsound.de werden sich an den kanadischen Weltenbähnler Erik West Millette erinnern, den ich 2017 während meiner Reise in Montréal getroffen habe.
Mit seiner Band West Trainz hat Erik jetzt ein weiteres Großprojekt zu Ende gebracht: Auf dem Album Rail Nomads, das Anfang Mai erscheinen wird, erzählt er als Gesamtkunstwerk die Geschichte der Hobos, jener Bahnfahrenden auf dem nordamerikanischen Kontinent, die zu Zeiten der Great Depression als blinde Passagiere auf den Zügen mitfuhren, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Die West Trainz-Crew gestaltet diese historische Reise mit 24 grandiosen Songs und Instrumentals, in die wie immer jede Menge Eisenbahnsounds eingebaut sind und die quer durch den Erdteil geht, bis zur Terminal City Vancouver.
Als Vorbote ist jetzt die Single „Beat That Train“ erschienen, ein von Olaf „Slim Dane“ Gundel gerapptes Stück Zeitgeschichte. Ein Auszug aus dem Text:
Den Ozean würde ich queren, wenn sie eine Unterwasser-Linie bauen
Schreibe geheime Zeichen in den Regen, wie übersinnliche Flecken
Hab‘ kein Telefon, um daheim anzurufen, keine Hausschlüssel, die mir gehören
Meinen Hut hab‘ ich an den Wind verloren, und meine Schuhe lösen sich auf
In den leeren Schuppen höre ich die wilden Rufe der streunenden Hunde
Ich ziehe am Joint, um wieder Mut zu fassen, grabe nach Schätzen in Mülltonnen
Und wenn die Nacht kommt wie ein Flutwelle, wandere ich auf dem Grab eines Lebendigen,
laufe einem neuen Tag entgegen.
Der brasilianische Musiker Lucas Santtana sieht nach der Wiederwahl Lulas neue Chancen für sein Land. Musikalisch feiert er das mit seinem politisch und ökologisch engagierten Werk O Paraíso.
Tiefenentspannt klingt Lucas Santtana im Interview, nachdem er wie viele Musiker durch vier Jahre der Angst und Unwägbarkeiten während der Herrschaft Bolsonaros gegangen ist. Jetzt, nachdem Lula da Silva die Präsidentschaftswahl erneut für sich entschieden hat, keimt Optimismus in der Musikszene. Mit viel Prominenz aus Samba und Pop wurde gerade in Brasilia die Inauguration gefeiert, und mit Margareth Menezes soll eine der großen afro-brasilianischen Sängerinnen Kulturministerin werden. Doch auf welch wackligen Füßen die brasilianische Demokratie derzeit noch steht, konnte die Welt vor wenigen Tagen bei den Bildern der Erstürmung von Regierungsgebäuden sehen.
“Meine Hoffnung zielt darauf ab, dass die Verantwortlichen für die größte Korruption aller Zeiten, die der letzten vier Jahre, verurteilt und bestraft werden, inklusive das Militär”, sagt Santtana. Bolsonaro konnte es nur wagen, so skrupellos zu wüten, weil Brasilien als einziges Land Südamerikas den Machtmissbrauch der einstigen Militärdiktatur nie gerichtlich aufgearbeitet hatte, meint er. Für die neue Amtszeit setzt Santtana auf Lulas vielfach gerühmtes Geschick, mit seinen Gegnern in Dialog zu treten. “Aber ich glaube nicht, dass er die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft beenden kann, denn Polarisierungen gibt es bei uns seit Jahrhunderten.”
Gerade die brasilianische Kultur hat immer von Polarisierungen gelebt, die sich in der Musik als stilistische Brüche befruchten. So bleibt die Spannung hoch, und von Gegensätzen unterschiedlicher Art lebt auch Santtanas neues Werk O Paraíso: „Der Grundcharakter meiner Musik ist gerade dieses Blurring von Akustik und Elektronik“, stellt Santtana klar und zweigt dann in die Biologie ab: „Gerade habe ich was Interessantes über den Pilz physarum polycephalum gelesen: In Tokio haben sie sich durch seine Vernetzungsmuster inspirieren lassen, das U-Bahn-System zu verbessern. Das ist doch der Beweis, dass Natur und Technik voneinander profitieren können.“
So wie sie das in seinen neuen Kompositionen tut, die in Paris eingespielt wurden, mit Musikern, die, so sagt Santtana, alle multistilistisch unterwegs sind, mit einem offenen, kreativen Geist. Der spiegelt sich dann etwa in einem Song wie „Muita Pose, Pouca Yoga“ (viel Pose, wenig Yoga) wider, wo er mokante Kommentare über die Instagram-Inszenierungen der Jugend zu einer Kombi aus Pop-Keyboards und Samba-Groove setzt. Dafür hat er Sprüche aus provokanten Plakataktionen des Straßenkünstlers Daniel Lisboa verwendet. In „Vamos Ficar Na Terra“ wettstreiten Reggae und der nordöstliche Xote-Rhythmus mit der Elektronik – und all das dient zu einer beißenden Kritik am Menschenverächter Elon Musk, der zum Mars strebt, anstatt vernünftige Lebensbedingungen auf dem Heimatplaneten zu schaffen. Und in „What’s Life“ finden sich Synthesizer und ein Verweis an Kraftwerks „Roboter“ zu einem Pagodão-Rhythmus aus Salvador da Bahia.
„Meine zentrale Frage auf diesem Album über das Leben auf unserem Planeten ist: Wollen wir Maschinen sein oder Natur? Bei aller Begeisterung für Künstliche Intelligenz, die gerade in der Luft liegt: Ich setzte für unsere Zukunft auf die Natur, auf das Wissen der Vorfahren. Nur dann werden wir eine Chance aufs Überleben haben.“ Für Santtana ist das Paradies schon da, man müsse es in der Vielfalt der Erde nur erkennen – und respektieren. Für mehr Kommunikation mit der Natur sind die Weichen in Brasilien nun gestellt. Santtana spricht anerkennend von Sônia Guajajára: Zum ersten Mal in seiner 500jährigen Geschichte wird Brasilien eine Ministerin für Indigene Völker haben. Außerdem sind am Tag nach Lulas Wiederwahl die Zahlungen in den Amazonas-Fonds wieder in Kraft gesetzt worden, die während Bolsonaros Amtszeit gestoppt wurden. “Die Zeichen stehen auf Veränderung, aber natürlich müssen wir als Gesellschaft weiterhin Druck ausüben.“ Man könnte, anknüpfend an den bekannten Spruch „Gott ist Brasilianer“ auch sagen: Die Hoffnung, sie ist Brasilianerin. Zumindest für den Moment.