(he)artstrings #5: Celesta unterm Nordhimmel

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Nick Drake
„Northern Sky“ (Nick Drake)
(aus: Bryter Layter, 1971)

Zum zwanzigsten Todestag von Nick Drake habe ich damals bei einem kleinen Radiosender ein vierteiliges Special gemacht – es muss also im Herbst 1994 gewesen, dass ich diesen Song oft gehört habe. Die perfekte Folkhymne: federnde Rhythmen zu einem Riff, das aus den für Nick so typisch verschrobenen offenen Akkorden besteht, sein verletzlicher Gesang und eine zärtliche Bridge mit Orgel. Der Clou an diesem glückseligen Liebeslied ist aber die Celesta, die mich dann fast wieder an die Schlusstakte von Gustav Mahlers Das Lied von der Erde erinnert. Einer von Nicks ganz seltenen Momenten, in denen er sich völlig unbeschwert gab – drei Jahre später hatte ihn die Schwermut eingeholt.

Die Schlussszene des Films Serendipity ist mit einer Kombination von David Grays „January Rain“ und „Northern Sky“ unterlegt – während John Cusack auf einer Eislaufbahn ein völlig unverhofftes Happy End erfahren darf. Glückwunsch an denjenigen, der den Soundtrack ausgewählt hat.

Nick Drake: „Northern Sky“
Quelle: vimeo

Northern Sky – Nick Drake from Luca’s on Vimeo.

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(he)artstrings #4: Unerbittlicher Wind

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„Escrevi Teu Nome No Vento“ (Jorge Rosa / Raul Ferrão)
(aus: Fado, 2009)

Die portugiesische Fadolyrik ist voll von Meeres- und Wettermetaphern, mit denen sich Tausende von Schattierungen des Innenlebens einfangen lassen. In diesem Fado wird der Wind zum tragischen Spielpartner: „Ich habe deinen Wind in den Namen geschrieben, überzeugt davon, dass ich ihn aufs Papier des Vergessens schrieb. Doch ich rechnete nicht damit, dass der Wind sich in deinen Namen verlieben würde. Und so steigert sich meine Qual, wenn der Wind sich aufbäumt.  Glaub‘ mir, ich möchte dich vergessen, aber jedes Mal wird der Wind nur noch stärker.“

Um diese große Dramatik umzusetzen, braucht es eine Jahrhundertstimme.  Carminho ist mit ihren 32 Jahren auf dem besten Weg dazu. Sie weiß genau, wie sie die Phrasierungen ausgestalten muss, um den Wind aufheulen zu lassen und das Weh des lyrischen Ichs effektvoll in Szene zu setzen. Und –  das gibt es so nur im Fado: wie kurz vor dem Ende alles noch einmal für Sekunden innehält, der Atem angehalten wird, ja, der Weltenlauf stoppt, bevor sich der Schmerz ein letztes Mal erlösend Bahn brechen darf.

Ich habe Carminho das zum ersten Mal im Herbst 2012 live singen hören. Danach war ich für eine ganze Weile schockgefroren und schweißgebadet zugleich. Meistens singt sie das Lied vom Wind als Zugabe – eigentlich müsste man sie Hingabe, wenn nicht Verausgabung nennen.

Carminho: „Escrevi Teu Nome No Vento“
Quelle: youtube

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(he)artstrings #3: Der ewige Stich

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„Mojo Pin“ (Jeff Buckley & Gary Lucas)

(aus: Grace, 1994)

Ich kenne keinen Song, der Besessenheit in einer so intensiven Art und Weise eingefangen hat. „I Want You“ von den Beatles war ein netter Versuch.  Doch diese sechs Minuten hier: wie ein einziger langer Nadelstich, eine immer enger sich ziehende Spirale des Begehrens, dreimal unterbrochen von einem Aufschrei, einer Eruption der Verzweiflung, eines Sichbewusstwerdens, dass man nicht durch die Wand kann mit diesem unbesiegbaren Verlangen. Deshalb kann diese Hymne auf die schöne schwarze Unbekannte auch kein vernünftiges Ende haben: Live ließ Jeff Buckley ihn oft mit einer wüsten Rückkopplung abbrechen. Auf der Tour, die hier mit einem Clip aus Frankfurt eingefangen wurde, haben wir damals Jeff auch gesehen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie es mir kalt den Rücken runterlief, als er sich zu den sphärischen Gitarren vor dem finalen Ausbruch in seine Liebeswut hineingesteigert hat.

„Mojo Pin“ hat mich über mindestens ein Jahr verfolgt, bis ich mich für meine Magisterarbeit mit völlig anderen musikalischen Themen beschäftigen musste.

Jeff Buckley: „Mojo Pin“ (live in Frankfurt)
Quelle: youtube

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(he)artstrings #2: Mitfühlender Fluss

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Aretha Franklin
„The River’s Invitation“ (Percy Mayfield)
(aus: Soul ’69, 1969)

Dieser Song war verantwortlich für meine späte Soul-Erweckung. Mir standen sämtliche Nackenhaare zu Berge, als Aretha in der zweiten Strophe mit ihren Shouts loslegte – und dann hat sie mich bis heute nicht mehr losgelassen. Deshalb musste ich auf diesen Song eine etwas längere Lobeshymne schreiben.

Es mag Leute geben, die denken, „The River’s Invitation“ handle vom Selbstmord. Aber ich glaube nicht, dass Percy Mayfield, von dem der Song stammt, das im Sinn hatte. Da reist einer durchs ganze Land, hat jedes Fleckchen Erde umgekrempelt auf der Suche nach seiner Liebsten. Dass sie noch irgendwo am Leben sein muss, da ist er sich sicher, aber er kann sie nicht finden. In seiner Verzweiflung redet er mit dem Fluss. Und er bekommt auch eine Antwort. „Mein Lieber, du siehst ganz schön einsam und erbarmungswürdig aus“, sagt der Fluss. „Wenn du dein Baby nicht finden kannst, dann lass mich dir eine Heimstatt anbieten.“

Nein, „River’s Invitation“ ist kein Lied über einen, der ins Wasser geht. Es ist ein Song über Rastlosigkeit, übers Unterwegssein auf der Wasserstraße, bis ans Ende deiner Tage, weil du nur so über den Schmerz hinwegkommst: durch ständige, betäubende Bewegung. Der Texaner Percy Mayfield ist ein Meister des Vagabundentums. Sein anderer großerer Erfolg war auch so eine Rhythm’n’Blues-Hymne übers Weggehen, „Hit The Road Jack“, ihr kennt ihn von Ray Charles. Furchtbar, dass Percy während seines eigenen Unterwegsseins verunstaltet wurde, ein Autounfall hat ihn übel entstellt. Sein Flusslied mag nicht so packend sein und nicht so einen unverwechselbaren Basslauf haben wie „Hit The Road Jack“, aber es scheint mitten aus den Sümpfen des Südens zu kommen, aus den muddy waters, wo man gar nicht mehr weiß, was ist jetzt Wasser und was Land. Wo das Wasser das Land nicht nur einlädt, sondern es umschlingt. Die tiefen swingenden Bläser, dazu ein kreiselndes, kitzelndes Piano und die sonore Stimme von Percy – das versetzt einen in ganz alte Blueszeiten, obwohl er es in dieser ersten Version doch erst 1953 in die Welt setzte. Man kann sich schwer vorstellen, wie dieser Song noch glaubhafter werden kann.

Percy Mayfield: „The River’s Invitation“
Quelle: youtube

Bei Aretha wird er’s, weil sie ihn nochmal ganz anders anpackt. Hört euch diese groovige Gitarrenlinie an, die fast glitschig in die Höhe klettert. Der Jazzer Kenny Burrell hat die hingezaubert. Über diesem Groove steigt Aretha ein, zieht den Anfangston eine halbe Ewigkeit nach oben. Um ihre Stimme herum schleichen sich allmählich die Blechbläser rein, die Trompeten schreien auf, die Tuben grunzen, und als der Fluss antwortet, hat er das größte Mitgefühl, dass man sich vorstellen kann: „Oh you look so lonely, and so full of misery“ – Aretha als Flussgöttin lässt hier einen Mitleidsschrei los, der die Membran des Mikrofons wohl fast zersprengt hat, jedenfalls konnte der Toningenieur das damals gar nicht mehr gescheit auspegeln. Und immer weiter türmt sich das Orchester hoch, macht nur noch mal kurz Platz für ein schönes Pianoeinsprengsel. Doch so gigantisch sich die Bigband hier auch aufbäumt, Aretha nimmt es mit dem ganzen Apparat auf, schmettert über den schärfsten Trompetenattacken ihre Sehnsucht heraus nach dem ewig dahinrollenden Fluss.

Aretha Franklin: „The River’s Invitation“
Quelle: youtube

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(he)artstrings #1: Alles runter von der Klippe!

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„Hyper-ballad“ (Björk Guðmundsdottir)

(aus: Post, 1995)

Als Dreijähriger, so wurde mir zumindest erzählt, habe ich einmal alle meine Spielsachen über den Balkon in den Garten geworfen und nach erfolgreicher Aktion gesagt: „Jetzt hat die arme Seele Ruh'“. Es muss schon damals etwas Befreiendes gehabt haben, Altlasten loszuwerden. Björk hat sich für ihre Befreiungsaktion gleich eine hohe Klippe ausgesucht.  Jeden Morgen in aller Frühe schmeißt sie Autoteile, Flaschen und Geschirr runter. „Das alles mache ich durch, bevor du aufwachst“, singt sie, „um mich glücklicher und sicherer zu fühlen mit dir hier oben.“

Die „Hyper-ballad“ hat mir vor vielen Jahren durch eine schwere Krankheit geholfen. Auch damals war es notwendig, viele Sachen von der Klippe zu werfen, um weitermachen zu können. Björk hat das damals für mich rausgesungen – und als alles überstanden war, durfte ich sie das erste Mal im Konzert erleben. Das war am 11.9.2001.

Björk: „Hyper-ballad“
Quelle: youtube

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Side tracks #20: Steve Reich zum 80.

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Steve Reich
„Different Trains“ (1988)

Kann der Holocaust vertont werden? Lässt sich etwas Unfassbares in Töne zwingen?
Der amerikanische Minimal-Pionier Steve Reich hat es 1988 gewagt. In seinem dreisätzigen Stück „Different Trains“ erzählt er mit Streichquartett und Samples  die Geschichte von Zügen in Amerika und Europa, vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. Im Mittelsatz kollagiert er das Pfeifen der Lokomotiven, die Aussagen von Überlebenden der Konzentrationslager und das unerbittliche Hämmern der  Streicher zu einem Soundscape  der Vernichtung.

Für mich ist der Mittelsatz von „Different Trains“ das wichtigste Stück, das Reich geschrieben hat – und soll an diesem „Tag der deutschen Einheit“ ein Mahnmal sein gegen den gerade heftig wieder aufkeimenden Fremdenhass.

Steve Reich wird heute 80 Jahre alt.

Steve Reich: „Different Trains“ part 2
Quelle: youtube

Violinen-Verve von Vancouver Island

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The Fretless
Bird’s Nest
(Eigenverlag)

Folkmusik und Klassik rücken seit einigen Jahren enger zusammen, das ist ein unüberhörbarer Trend. Diese Dame und drei Herren von Vancouver Island, für ihr Schaffen in Kanada hochdekoriert, pflegen die Verknüpfung der Genres auf atemberaubendem Niveau. Fiddle-Melodien und Folksongs, teils aus schottischen, teils aus kanadischen Traditionen haben sie neu arrangiert und stecken sie ins Gewand eines Streichquartetts. Anders als bei einer herkömmlichen Folk-Kapelle wandern hier die Themen in raffinierter Art und Weise durch die Stimmen, Bratsche und Cello verleihen satte Konturen, einzelne Melodiepartikel verselbständigen sich, führen ihr Eigenleben. Trotz aller Detailarbeit grüßt nach wie vor der Tanzboden, ein Jig bekommt gar minimalistischen Flair, und über dem Titelstück liegt eine anrührende tänzerische Wehmut. So hat man Folk bisher selten gehört.

Bis zum 9. Oktober sind die Kanadier noch auf Deutschlandtournee, Daten gibt es hier.

The Fretless: „Bird’s Nest“
Quelle: youtube

 

Side tracks #19: Texas Eagle & Sunset Limited

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flagge-vereinigte-staaten-von-amerika-usa-flagge-button-50x75Billy Bragg & Joe Henry
Shine A Light
(Cooking Vinyl/Sony) 

Für einen Produzenten, der im Studio einen sehr eigenen, ausgetüftelten Sound schafft, müssen Feldaufnahmen wohl ein Graus sein. Nicht im Falle von Joe Henry: Mit seinem britischen Kumpan Billy Bragg nutzte er Schlafwagen, Gleise und Bahnhofshallen als Aufnahmeort. Die musikalische Zugreise quer durch die USA erscheint nun als Shine A Light. Zum Album habe ich Joe Henry interviewt.

Wenn die beiden Herren mit ihren Gitarren an diesem frühen Märzmorgen durch die große Halle der neoklassizistischen Chicago Union Station schreiten, fällt dem Zuschauer des Promoclips vor allem eines auf: die heutige Überdimensionierung des fast leeren Gebäudes. Bahnfahren in den USA scheint im Jahre 2016 kein großes Thema mehr zu sein. Fast beschwörend sagt Billy Bragg: „Wir wollen die Kunde verbreiten, dass es noch einen anderen Weg gibt, Amerika zu durchqueren.“ Die Idee des britischen Woody Guthrie-Verehrers und politisch engagierten Songwriters: Mit seinem alten Freund Joe Henry, der schon sein letztes Werk Tooth & Nail produziert hatte, die Staaten auf Schienen zu bereisen und die Unplugged-Reise auf einem Album zu dokumentieren. Weiterlesen

Seelenvoll in Basel

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Die musikalische Geschichte der Annie Goodchild, geboren in Boston, beginnt mit Klavierunterricht und Singen in Gospelchören. Doch das einschneidende Erlebnis trägt sich während einer Abenteuerreise in einer Tequilabar in Guatemala zu: Dort trifft sie den Gitarristen Maarten Swan während eines Open Mic-Abends und gründet mit ihm die Band Melou. Das Repertoire der Akustikcombo gründet auf der Arrangierkunst Swans, aber vor allem auf dem satten, flexiblen Alt von Goodchild, der sich in Soulstücken wohl fühlt. Aber – und das ist ihr großer Bonus – er kann auch orientalische und indische Färbungen annehmen.

Eine erste CD nehmen Melou in Barcelona bereits 2009 auf, aber es ist die Veröffentlichung „Skylark“ vier Jahre später, die Goodchilds Stimme, mittlerweile durchs Berklee Collge of Music geschult, in neue Dimensionen katapultiert. Man höre sich nur das Titelstück an, in dem sie mühelos arabeskes Umherschweifen und dichte Vokalsätze mit leicht psychedelischem Folkpop verknüpft. Weitere Erfahrungen sammelt sie in der britischen Theatertruppe Punchdrunk, bei der es ihre Aufgabe ist, vokales Flair der 1930er zu erzeugen. Einem ähnlich retro-orientierten Training unterzieht sie sich im Rahmen des US-Projekts Postmodern Jukebox, das aktuelle Pophits mit Vintage-Atmosphäre umsetzt. Goodchilds Beitrag „Roar“, im Original von Katie Perry, wird zum Youtube-Hit.

Seit drei Jahren ist ihr neuer Standort Basel, und diesen neuen Lebensabschnitt krönt Annie Goodchild nun mit der vor ein paar Tagen veröffentlichten EP. Im „Green Eyed Monster“ tastet sie sich mit einem fantastischen Sinn für Dramaturgie von den suggestiven Tiefen in die hohen Lagen empor – das mit Streichern kolorierte Stück mutet an wie eine Kreuzung aus einem schweren orientalischen Klanggemälde und psychedelischem Indie-Rock. Mit einem Touch Electronica sind die Arrangements des „Black Swan“ belegt, ein großartiger Hymnus, der zwischen geheimnisvollen Geigen, tribaler Percussion und einer Popmelodie voller Strahlkraft wechselt. Als Single hat Goodchild „Rooster“ ausgekoppelt, begleitet durch ein sinnliches Video, das die Weiblichkeit feiert – zu einem Arrangement, das Motown mit modernem R&B und House koppelt. Und schließlich noch der „Maneater“ von Daryl Hall und John Oates, den sie als betörenden Dub vertont.

© Stefan Franzen

Annie Goodchild tritt am 24.9. im Rahmen der Klangbasel in einem Doppelkonzert mit der ebenfalls in Basel lebenden Kanadierin Andrea Samborski auf.

Melou feat. Annie Goodchild: „Just Take The Edge Off“
Quelle: youtube