(he)artstrings #13: Zwei Akkorde auf Eis

Jane Siberry
„Hockey“ (Jane Siberry)
(aus: Bound By The Beauty, 1989)

Während der Winter ein kurzes Gastspiel in Mitteleuropa gibt, erinnere ich mich an einen meiner Lieblingssongs der späten Achtziger. Die kanadische Songwriterin Jane Siberry, heute leider ins etwas zu esoterische Fach abgedriftet, brachte damals ihr Magnum Opus Bound By The Beauty heraus. Im schönsten Song dieses Albums hat sie dem Nationalsport ihres Landes ein ganz ungewöhnliches Denkmal gesetzt: Hier geht es nicht um physische Härte, Bodycheck, böse Verletzungen und schnelle Pucks, sondern um sehr lyrisch ausgestaltete Sonntagsnachmittagserinnerungen auf dem Eis. Dort, wo das eigentliche Leben stattfindet. Dass sie dafür nur zwei Akkorde braucht, zeigt umso mehr ihre große Klasse.

Jane Siberry: „Hockey“
Quelle: YouTube

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Klingende Zukunft der Arktis

katajaq-duoSie sind die Hoffnungsträger ihres Volkes: Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq – zwei moderne arktische Frauen, die in  ihrer zweiten Heimat Ottawa für die Bewahrung der Inuitkultur und -sprache kämpfen. Das tun sie durch ihre Arbeit für die kanadische Regierung und die Filmindustrie, aber auch durch die weltweite Vorstellung des Kehlkopfgesangs Katajjaq, der neben seiner spielerischen Komponente dazu dient, Kontakt mit mythischen Wesen und der Natur aufzunehmen. Ich konnte die beiden im Rahmen des KlangWelten-Festivals 2016 treffen.

Ganz bewusst stelle ich dieses Interview an den Anfang des Jahres 2017: Einige der gewaltigen Herausforderungen, denen wir uns in diesem und den nächsten Jahren gegenüber sehen, können nur bewältigt werden, wenn wir wieder mehr auf die indigenen Völker hören.

Innerhalb des Klangwelten-Festivals stellen Sie den Katajjaq vor, den Kehlkopfgesang der Inuit-Frauen. Erlebt der gerade ein Revival?

Cynthia Pitsiulak: Ja, es gibt auf jeden Fall ein Revival, der Katajjaq war lange Jahre nicht populär. Wann der Katajjaq angefangen hat, lässt sich nicht genau sagen, wir wissen, dass er Jahrhunderte alt ist und von Generation zu Generation übermittelt wurde. Als die Missionare in die Arktis kamen, verboten sie uns den Katajjaq. Wir haben ihn von den frühen 1900ern an verloren, bis er vor 40 Jahren wieder langsam zurück kam in die Inuitkultur. Heute ist er stärker denn je, es gibt viele Inuitfrauen und –mädchen, die ihn ausüben. Weiterlesen

Listenreich: 2016

ALBEN

alben-2016

1. Bears Of Legend (CAN): Ghostwritten Chronicles (Absilone/Galileo)
2. Aaron Neville (USA): Apache (Tell It Records/Rough Trade)
3. Josienne Clarke & Ben Walker (GB): Overnight (Rough Trade/Beggars Group)
4. Aynur, Kayhan Kalhor, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri (KURD/IR/ASB): Hawniyaz (Latitudes/Harmonia Mundi)
5. Ed Motta (BRA): Perpetual Gateways (MustHaveJazz/Membran)
6. Fraser Anderson (SCO): Under The Cover Of Lightness (Membran)
7. Graveola (BRA): Camaleão Borboleta (Mais Um Discos)
8. Osei Korankye (GHA): Seperewa Of Ghana – Ɛmmerɛ Nyina Nsɛ (Akwaaba Music)
9. Federspiel (A): Smaragd (col legno/Harmonia Mundi)
10. Pulsar Trio (D): Caethes Traum (T3 Records/Galileo)
11. Sivan Talmor (ISR): Fire (Chaos/in-akustik)
12. The Fretless (CAN): Bird’s Nest (Eigenverlag)
13. Sílvia Pérez Cruz (Katalunya): Domus (Universal Spain)
14. Maarja Nuut (EST): Une Meeles (Eigenverlag)
15. Emicida (BRA): Sobre Crianças, Quadris, Pesadelos & Lições De Casa (Sterns Brasil/Alive)
16. Ian Fisher (USA): Nero (Snowstar Records)
17. Nils Kercher (D): Suku (Ancient Pulse Records)
18. Oum (MAR): Zarabi (Galileo)
19. Tamer Abu Ghazaleh (Palästina): Thulth (Mostakell)
20. Gaye Su Akyol (TK): Hologram Imparatorluğu (Glitterbeat/Indigo)
21. The Breath (IRL/GB): Carry Your Kin (RealWorld/Rough Trade)
22. Roberto Fonseca (CUB): ABUC (Impulse/Universal)
23. Noura Mint Seymali (MAU): Arbina (Glitterbeat/Indigo)
24. Melingo (ARG): Anda (World Village/Harmonia Mundi)
25. Miramar (Puerto Rico): Dedication To Sylvia Rexach (Barbès Records)

SONGS

songs-20161. Bears Of Legend (CAN): „When I Saved You From The Sea“
2. Ian Fisher (USA): „Nero“
3. Mockemalör (D): „Punkerengel“
4. Fraser Anderson (SCO): „Simple Guidance“
5. Alejandra Ribera (CAN): „I Am Orlando“
6. Ed Motta (BRA): „Forgotten Nickname“
7. Cristina Branco (P): „As Vezes Me Dou Pro Mim“
8. Christa Couture (CAN): „Des Oiseaux“
9. Andrea Samborski (CAN): „Tiger Lillies“
10. Sivan Talmor (ISR): „I’ll Be“

KONZERTE

konzerte-20161. Alejandra Ribera (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 9.7.)
2. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (New Morning Paris, 2.6.)
3. Mulatu Astatke (Filature Mulhouse, 5.2.)
4. Manu Dibango (Jazzhaus Freiburg, 7.4.)
5. Richard Bona (Burghof Lörrach, 26.11.)
6. Glen Hansard (Heine-Park Rudolstadt, 10.7.)
7. Firas Hassan, Mohamad Fityan & Taufik Mirkhan (Synagoge Sulzburg, 1.9.)
8. Ballaké Cissoko & Vincent Ségal (Théâtre des Champs-Élysées Paris, 31.5.)
9. The Fretless (St. Agathen Schopfheim-Fahrnau, 7.10.)
10. Arezoo Rezvani & Murat Coskun (E-Werk Freiburg, 18.12.)
11. Anouar Brahem (Reithalle Offenburg, 13.11.)
12. Mbongwana Star (Kaserne Basel, 30.11.)
13. Building Bridges (E-Werk Freiburg, 30.10.)
14. German López (St. Andreas-Kirche Rudolstadt, 8.7.)
15. Hindi Zahra (Rosenfelspark Lörrach, 15.7.)

FILME

1. Genius (Michael Grandage, GB/USA)
2. Vor der Morgenröte (Maria Schrader, D/A/F)
3. Tim Maia (Mauro Lima, BRA)
4. Mali Blues (Lutz Gregor, D/MAL)
5. Sonita (Rokhsareh Ghaem Maghami, Afghanistan/Iran)
6. Love & Mercy (Bill Pohlad, USA)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Arrival (Dennis Villeneuve, CAN)
9. Frank Zappa – Eat That Question (Thorsten Schütte, D/F)
10. Iraqi Odyssey (Samir, Irak/CH/D/VAE)

BÜCHER

(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)

FICTION / LYRIK

1. Richard Powers: “Orpheus” (Fischer)
2. Harper Lee: „To Kill A Mockingbird“ (Grand Central Publishing)
3. Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“ (Fischer)
4. Arseni Tarkowskij: „Reglose Hirsche“ (Edition Ruderup)
5. Henry Thoreau: “Walden” (Barnes & Noble)

NON-FICTION

1. Michelle Mercer: “Will You Take Me As I Am – Joni Mitchell’s Blue Period” (Free Press)
2. Trevor Cox: “Das Buch der Klänge” (Springer Spektrum)
3. Alan Light: “The Holy or the Broken: Leonard Cohen, Jeff Buckley and the Unlikely Ascent of ‚Hallelujah'“ (Atria Books)
4. Jens Rosteck: „Jacques Brel – Der Mann, der eine Insel war“ (Mare)
5. Jonathan Franzen: „Farther Away“ (Picador)

AUSSTELLUNGEN

1. Giorgio Di Chirico – „Magie der Moderne“ (Staatsgalerie Stuttgart)
2. Lynette Yiadom-Boakye – „A Passion To A Principle“ (Kunsthalle Basel)
3. Paula Modersohn-Becker u.a.: „Worpsweder Landschaften“ (Kunsthalle Worpswede)
4. Joan Miró – „der leidenschaftliche Malerpoet“ (Kunsthalle Messmer Riegel)
5. Paul Klee – „L’Ironie À L’Œuvre“ (Centre Pompidou, Paris)

Fliehkraft aus dem Fado

cristina-branco                                                                     Foto: Pedro Ferreira

Als Nationalgenre übt der Fado in Portugal eine solche Gravitation aus, dass es schwierig ist, sich konsequent von ihm zu lösen. Cristina Branco hat es geschafft, genügend Fliehkraft zu entwickeln, indem sie sich mit der Indierock-Szene zusammengeschlossen hat. Kurioserweise ist Menina (VÖ 6.1.2017) gerade dadurch ihr reifstes Album geworden. In Köln konnte ich Cristina Branco zu ihrem neuen Werk befragen.

Auf Ihrem letzten Album Alegria sind Sie in die Schuhe von verschiedenen Persönlichkeiten geschlüpft. Auf Menina geht es weiter mit diesen Charakterporträts. Wie unterscheiden sich die beiden Alben?

Auf Alegria habe ich zwölf verschiedene Charaktere geschaffen, die ich verschiedenen Autoren gegeben habe. Die Charaktere waren nicht zwangsläufig Frauen, auch ein Clown war zum Beispiel dabei. Menina handelt aber ausschließlich von Frauen, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Stärke. Im Portugiesischen können Frauen vom Moment ihrer Geburt bis zu ihrem Tod „menina“ genannt werden. Es ist das kleine Mädchen, die Tante, die eine alte Jungfer geblieben ist, die Witwe, die lange Beziehungsgeschichten hinter sich hat, auch die Prostituierte. Nur die verheiratete Frau heißt „senhora“. „Menina“ ist ein Kosewort, um Weiblichkeit zu feiern. Es wird auch verwendet, wenn man das Alter einer Frau nicht einschätzen kann. Ein blödes Beispiel: Als mir neulich ein Postbote ein Päckchen brachte, fragt er mich: „Sind Sie Menina Cristina Branco?“ „Und ich sagte: „Ja, das bin ich!“! Da war ich natürlich geschmeichelt. Ich fragte für dieses Album sehr junge Autoren an, sie kommen aus der portugiesischen Indierock-Szene. Ich bat sie, über mich zu schreiben. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was ich heute bin, was ich bis jetzt getan habe, und versuchen, etwas über die Voraussetzungen zu schreiben, was es bedeutet, eine Frau zu sei. Eine Sichtweise junger Leute darauf. Und es geht nicht nur um mich: Es geht um ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Schwestern. Weiterlesen

Seemannsgarn aus Trois-Rivières

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Bears Of Legend
Ghostwritten Chronicles
(Absilone/Galileo)

Es ist Zeit, die CD des Jahres 2016 zu enthüllen. Im Todesjahr von Leonard Cohen war Kanada etwas mehr als sonst im Fokus der musikalischen Berichterstattung – und auch die Bears Of Legend, die aus Trois-Rivières zwischen Montréal und Québec City stammen, pflegen auf ihrem zweiten Werk Ghostwritten Chronicles großartige Liedkunst, allerdings an der Schnittstelle zum Folkpop und mit komplett anderer vokaler Färbung.

Der Songzyklus des Septetts ist von maritimen Themen getränkt: Das Ertrinken wird zur Metapher für Herzeleid, ein Strudel steht für die hilflose Verstrickung in Gefühlen, das Leben ist der endlose Ozean mit der Liebe als schaukelndem Boot darauf. Sänger David Lavergne trägt seine Verse mit waidwunder Stimme vor, ihn umweben ein melancholisches Akkordeon, munteres Banjo und Ukulele, ein warmes Cello, ausgeklügelte, fast klassische Piano-Linien und ab und an kräftige Rockdrums.

Die Stimmung schwankt zwischen großen Hymnen inklusive Chor wie “When I Saved You From The Sea” bis zu kompakten Popsongs (“Be Mine, All Mine”) oder auf Französisch gesungenen Sehnsuchtsballaden wie “Encore”. So gelingt es den “Bären” tatsächlich, einen großen Bogen vom Pop-Appeal à la Coldplay zur kleinen Folkkneipe um die Ecke zu spannen. Als Logbuch ist das Booklet mit seinen Bleistiftzeichnungen, Tusche-Lyrics und bunten Karten angelegt. Ein Gesamtkunstwerk, das endlich einmal wieder an die Kraft großer Melodien glauben lässt.

Bears Of Legend: „When I Saved You From the Sea“
Quelle: youtube

Bob Dylans Idol zu Ehren


Zum 100. Geburtstag würdigt eine LP-Box den Liedersammler und Feldforscher Alan Lomax

Wer auch immer sich ernsthaft mit US-Folk oder Weltmusik auseinandersetzt, wird früher oder später auf seinen Namen stoßen. Alan Lomax, der 2002 verstorbene Liedersammler und -forscher kann sich anrechnen, dass ohne ihn das Folkrevival in den USA einen anderen Weg genommen oder vielleicht gar nicht stattgefunden hätte – war er doch der erste, der die Songs des singenden Aktivisten Woody Guthrie aufnahm. Lomax war ein Pionier des „field recordings“, er ging hinaus, um mit seinem Tonbandgerät die Folklore der Völker einzufangen, in den Staaten, aber auch in der Karibik, im Mittelmeerraum, im keltischen Kulturkreis.

Ein ganzes Jahrhundert hat dieser Mann durchmessen: 1915 in Austin, Texas geboren unterbrach er sein Harvard-Studium, um bereits mit siebzehn seinen Vater John Lomax zu begleiten. Der arbeitete für die Library of Congress und zeichnete in den Südstaaten Lieder von Sträflingen und Farmpächtern auf. Ab 1935 führte der Sohn bis in die 1990er selbständig weiter, was der Vater begonnen hatte: den Stimmen derer lauschen, die sonst kein Gehör fanden und sie für die Nachwelt festhalten. Diese Arbeit ging nicht immer ohne Behinderung vonstatten: Bereits vor Beginn der McCarty-Ära war dem Parlament Lomax‘ Arbeit beim Archive of American Folk Song suspekt, man witterte kommunistische Umtriebe.

Der bedrängte Lomax ging in den 1950ern nach Europa, entdeckte dort irischen und englischen Folkgesang, Lieder aus Spanien und Mallorca, durchreiste Italien von Sizilien bis in die Lombardei. Seine Perspektive auf die Welt gewann weitere Dimensionen. Nach seiner Rückkehr forschte er weiter von Texas bis West Virginia, durchstreifte die Karibik Insel für Insel, ging nach Russland und Marokko. Unzählig sind die Aufnahmen, die seit den 1990ern auf CD und im Internet zugänglich gemacht worden sind. Durch seine Arbeit bewahrte Lomax nicht nur, er machte die Kulturen der Welt auch für neue Generationen von Musikern zugänglich, die seine Feldaufnahmen neu interpretierten, von Bob Dylan, den er in den Folk einführte über Michelle Shocked bis zu Betty Bonifassi, eine kanadische Sängerin, die Songs aus seinen afroamerikanischen Sammlungen gerade auf ihrem neuen Album Lomax mit hartem Bluesrock gepaart hat.

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Zu Lomax‘ 100. Geburtstag hat das Label Mississippi Records mit Root, Hog Or Die eine Box mit – passenderweise – 100 Songs auf sechs LPs veröffentlicht, die nun mit über einem Jahr Verspätung auch in Deutschland zu haben ist und exzellent als Einstieg in seine Arbeit dienen kann. Die Box soll, so die Kuratoren, als Würdigung und nicht wissenschaftliche Aufarbeitung verstanden werden, deshalb werden Chronologien und Geographien bunt durcheinander gewürfelt. Das führt umso deutlicher vor Ohren, wie global dieser Mann geprägt war, wie grenzenlos er dachte. Die Box offenbart auch, wieviel Prominenz Lomax neben all den namenlosen Männern, Frauen, Kindern und Congregations vor dem Mikro hatte: den Bluesmann Skip James, Pianist Jelly Roll Morton, die gerade wiederentdeckte britische Folklady Shirley Collins oder auch Bob Dylan, dessen erste Version von „Masters Of War“ er auf Band bannte.

Begleitet werden die LPs von einem schmalen Textheftchen, in dem auch ein Essay von Lomax selbst abgedruckt ist. Eine klar zuordbare Listung der Aufnahmedaten fehlt, die wäre schon wünschenswert gewesen. Die Entdeckerfreude beim Hören schmälert das ein bisschen. Und während man den Aufnahmen einer vergangenen Ära lauscht, die getreu der ursprünglich analogen Herangehensweise nur auf – exzellent klingendem – Vinyl präsentiert werden, mag man sich fragen, was Alan Lomax heute noch für eine Bedeutung hat. „Ich will, dass alle Kulturen gleichermaßen verbreitet werden“, sagt er in dem abgedruckten Aufsatz. „Kulturelle Gleichheit sollte in die Liste aller anderen wichtigen menschlichen Grundrechte aufgenommen werden.“ Allein dieser Satz zeigt, wie bitter nötig wir eine Persönlichkeit wie Alan Lomax heute hätten.

© Stefan Franzen

Root Hog Or Die (6LPs)
(Mississippi Records/Fenn Music Vertrieb)

 

Edelstein aus Krems

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Federspiel
Smaragd
(col legno/Harmonia Mundi)

Die Wachau ist als Weingegend auch über die Grenzen Austrias hinaus bekannt, aber die Qualitätsstufen der dortigen Tropfen dürften nur Önologen ein Begriff sein. „Federspiel“ etwa heißt ein trockener Wein von ordentlicher Kabinett-Güte, Smaragd (benannt nach der Smaragdeidechse, die in den Rebmauern umherflitzt) ein edler, kraftvoller Wein, der auch international konkurrenzfähig ist. So wie das Septett aus Krems an der Donau, die in der Neuen Volksmusik ihrer Heimat momentan federführend sein dürften. Passenderweise auf dem Wiener Label col legno, die in ihrem breiten, bis in zeitgenössische Klassik reichenden Katalog immer wieder außergewöhnliche Alpinklänge fördern, erscheint ihr neues Werk. Die Musiker mit sechsmal Blech (Trompeten, Flügelhorn, Posaunen, Tuba), Klarinette und Zither bauen eine abenteuerliche Brücke von Melancholischem bis Fetzigem und teils chromatisch Aufgebrochenem aus der Heimat zur ungeraden Balkanmetrik und zum Gershwin-betupften Jazz. Als Prunkstücke zwischen all den Hörnern siedeln innig gejodelte Apfelbauern- und Klarinett-Dudler.

Federspiel: „Avsked“
Quelle: youtube

(he)artstrings #12: Heilige Welle

alejandra-ribera-swAlejandra Ribera
„St. Augustine“ (Alejandra Ribera)
(aus: La Boca, 2014)

Als ich den Song das erste Mal hörte, dachte ich, St.Augustine wäre eine verschlüsselte Widmung an einen Platz in Montréal. Etwa so, wie auch Kate & Anna McGarrigles „Complainte pour Ste. Cathérine“ der Rue St. Cathérine gewidmet ist, in der gleichen Stadt (siehe (he)artstrings #8). Aber dann traf ich die Autorin, und die rückte das mit folgenden Worten zurecht:

„Ich las die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus, zu einer Zeit, in der ich mich sehr verloren und niedergeschlagen fühlte. Ich suchte nach einem Weg, wie ich mir selbst vergeben könnte, und was ich am allernötigsten brauchte, das war Glaube. Wenn ich schreibe: ‚Heiliger Augustinus, ich beneide dich, du hattest immer die Emerald City, nach der du streben konntest‘, dann kam das aus dem Bedürfnis heraus, in irgendeiner Hinsicht Sicherheit, Geborgenheit zu spüren, auch wenn es nur eine imaginäre Burg im Himmel sein sollte.“

„St. Augustine“ ist einer der langsamsten Songs, die ich kenne. Die Klage über die Verlorenheit  kommt wie eine Countryballade in äußerster Zeitlupe daher, als wäre nicht nur die Zielrichtung im Leben, sondern überhaupt auch die Zeit abhanden gekommen. Kanadier scheinen für das Innige und das Langsame eine Ader zu haben: Manche werden sich noch erinnern, wie die Cowboy Junkies Ende der 1980er mal als die leiseste Band der Welt gepriesen wurden. Alejandra Ribera schlägt den Rekord in diesem Song vielleicht.

Zurückgeholt wird der Hörer aus dem Nirwana durch einen fantastischen Einfall: Ein Tonartenwechsel verbindet sich mit einem dräuenden Emporschrauben einer Klangwelle aus Knackgitarre, Blechbläsern und Riberas Stimme, die beim Zurückschwappen dann wiederum in eine andere Tonart geht. Ganz so wie die verschiedenen Geräusche, die ein anrollender Brecher und die Rückströmung machen. Stellt euch mal an den Strand, und ihr habt ab sofort dabei immer die Stelle aus „St. Augustine“ im Ohr. Alejandra dazu nochmals selbst:

„Es gibt Momente, in denen du Musik, die tatsächlichen Noten und Arrangements wie eine buddhistische Weisheit einsetzen kannst. Du nimmst die Botschaft und destillierst sie, so wie sie nicht erklärt, sondern nur gefühlt werden kann. Da musst du lange drüber brüten. Für mich ist dieser Teil mit den Blechbläsern wie eine Unterströmung einer Welle, die dich von hinten erfasst, dich hochhebt und dich mitnimmt. Vielleicht gerätst du unter die Welle, vielleicht schaffst du es, oben zu bleiben. Aber die ganze Sache bleibt immer in Bewegung. Ob du also in einem Zustand von Freude oder von Traurigkeit bist, er wird nie permanent sein. Wo immer du auch bist, Schätzchen, in fünf Minuten wirst du nicht mehr da sein.“

Dass Alejandra Ribera den Heiligen Augustinus als den ersten Autor quasi autobiographischer Bekenntnisse anruft, hat gerade bei ihr als Kanadierin noch einen doppelten Boden: Ihre Landsfrau Joni Mitchell ist immer wieder als die erste „confessional songwriter“ bezeichnet worden, hat vor fast 50 Jahren diese Tradition begründet, obwohl sie das Wort „confessional“ wegen seiner Nähe zur katholischen Kirche hasste und auch die Lehren von Augustinus mit ihrer Verankerung in den Begriffen Sünde und Scham verabscheute. „Confessional wrtiting“, so Mitchell, müsse immer über das Autobiographische ins Allgemeine hinauswirken, um einen Song stark zu machen.  In diesem Sinne ist „St.Augustine“ die Reflektion eines Zustandes, den wir alle kennen. Man ist gefangen in einer absoluten Niedergeschlagenheit, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint, bis einen völlig unerwartet etwas aus der Lethargie hebt und irgendwo anders hin trägt, ohne dass man die neue Zielrichtung schon kennen würde.

Unten der Link zu einer Live-Version, ich rate darüber hinaus zum Hören der Studioeinspielung vom Album La Boca, in der die Wirkung der „Welle“ noch um einiges imposanter ist.

Alejandra Ribera: „St. Augustine“
Quelle: youtube

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Mit Schrott zu den Sternen

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Einer der überraschendsten Acts der letzten Jahre vom schwarzen Kontinent war Staff Benda Bilili, eine Band, die aus Straßenkids und Gehandicapten aus der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa bestand. Zwei aus den Reihen von Staff Benda Bilili, Yakala „Coco“ Ngambali und Nsituvuidi „Theo“ Nzonza haben sich jetzt mit dem irischen Electro-Produzenten Doctor L zu einem futuristischen Projekt zusammengeschlossen. „Das Projekt hat sich selbst konstruiert“, erzählt der Wahlpariser Klangdoktor, der bürgerlich Liam Farrell heißt. „Es ist der Sound der Rue Kato von Kinshasa, wo sich Musik, Happenings und Installationen parallel abspielen. Hier erschaffen die Street Kids und Behinderten ihre Zukunft. Kunst ist hier nicht ein bourgeoises Freizeitvergnügen wie bei uns oder Mäzenatentum wie bei den Griots, den singenden Geschichtenerzählern von Westafrika. Es ist Kampf ums Überleben. Diese Szene gleicht dem New York der Achtziger, mit der Freiheit, die damals der Rap ausgelöst hat. Unsere Mission ist es, darauf aufmerksam zu machen.“ 

Mbongwana Stars Album „From Kinshasa“ entstand aus in Kinshasa eingespielten Demobändern, die Doctor L anschließend in seiner Pariser Klause zusammenfügte. Da werden geschmeidige Tanzrhythmen wie der Soukouss psychedelisch eingebettet, tribale Grooves donnern durchs Gefüge, und knatternde Blechtrommeln paaren sich mit Funk. Die stärksten Momente sind zweifellos diejenigen, wenn die hohen Stimmen von Coco und Theo sich in den Schichten aus Schrottpercussion, monströsen Disco-Keyboards und Effekten behaupten können. Die Platte kann allerdings an keiner Stelle verleugnen, dass sie ein typisches Studiomosaik ist. Wie soll das bloß live umgesetzt werden?

„Da entstehen dann abstrakte technoide kongolesische Rock-Strukturen, die auch in zwanzig Minuten experimentellem Noise enden können“, verrät Doctor L. Die Gefahr eines Kulturschocks sieht er nicht, wenn er die Musiker nach Europa bringt. „Der Kongo ist immer noch eine brutale Diktatur und ein großes Gefängnis für diese Straßenkünstler. Berlin und Paris dagegen kennen sie durchs digitale TV besser als Kinshasa.“ Fluchtphantasien auf der Rue Kato beziehen sich tatsächlich nicht auf Europa, sondern greifen gleich nach den Sternen. Im Video zur Single „Malukayi“ läuft ein Performancekünstler namens „The Congo Astronaut“ durch die Nacht. Kein Zweifel, für Afrika ist SciFi-Ästhetik längst Gegenwart statt Moderne. Dass der Treibstoff für die Mbongwana-Rakete noch in Paris eingefüllt wird, wäre eigentlich gar nicht mehr nötig.

© Stefan Franzen

Mbongwana Star: Malukayi“
Quelle: youtube

Mbongwana Star live: Kaserne Basel 30.11., 20h30

Klangtheater ohne Bilder

kate-bush-before-the-dawn

The KT Fellowship (Kate Bush)
Before The Dawn (3CD / 4LP)
(Fish People)

Wer vor zwei Jahren eines ihrer Konzerte im Londoner Eventim Apollo mitverfolgen konnte, spricht noch heute zurecht von einem Jahrhundertereignis. 35 Jahre nach ihrer bislang einzigen Tour ging Kate Bush wieder auf die Bretter, um ein Spektakel zu präsentieren, das zwischen Shakespeare-Theater, Schauermär und Rock-Konzert begeisterte. Da einige der bildgewaltigen Shows mitgefilmt wurden, rechnete man mit einer DVD, doch die Britin dokumentiert ihre Bühnen-Serie jetzt überraschenderweise mit einer Tripel-CD (Spieldauer 155 Minuten).

In der eröffnenden Rocksektion ohne szenische Elemente funktioniert das auch grandios: „Lily“ hat erdig-soulige Züge mit strahlender Orgel, die Hits „Hounds Of Love“ und „Running Up That Hill“ kommen als machtvolle Hymnen daher, mit aufheulender Gitarre (David Rhodes) und wuchtig galoppierender Rhythmussektion (Omar Hakim & Mino Cinelu). In „Never Be Mine“ (der Track wurde nur in den Proben gespielt) kommt die Vielfältigkeit des feinen Bühnenchors zur Geltung, die das Trio Bulgarka aus dem Original würdig vertreten. Sukzessive steigert sich die eruptive Elvis-Hommage „King Of The Mountain“ in ein zuckendes Soundgewitter. Bushs manchmal mit etwas mit zu viel Echo- und Hall-Effekten aufgeladene Stimme ist treffsicher, hat sogar die Angriffslust einer Rocklady, und trotzdem scheint noch das leuchtend-warme Timbre früherer Tage durch.

Akt 2 und 3 sind eher ein Genuss für Insider: Die als Klangtheater präsentierten Stücke sind jetzt Hörspiele, deren Dramaturgie nur von eingefleischten Kate Bush-Fans dechiffriert werden kann, wo Bilder nicht unterstützen. The Ninth Wave“, diese gruselige Nocturne über eine Ertrinkende, wurde an einigen Stellen gezielt mit Erzählpassagen und musikalischen Abwandlungen erweitert. Der Disput mit dem Unterwassermonster („Waking The Witch“) wird zum peitschenden Rock-Tribunal, und „Hello Earth“ mutiert von der Orchesterballade zur Bandhymne, bevor „The Morning Fog“ als folkig-zärtlicher Rundgesang aus dem Albtraum erlöst.

„A Sky Of Honey“, der 3. Akt, muss als bloßes Tondokument zwangsläufig verblassen. Inszeniert in einem pastoralen Rausch aus Pastelltönen, der auf der Bühne einen ganzen Tag in der englischen Countryside abbildete, sind hier rein akustisch die Längen in der ersten Hälfte nicht mehr zu überspielen. Doch dann nimmt das Geschehen aus unerwarteter Ecke Fahrt auf: Bush Sohn Albert singt seine hingebungsvolle Anrufung an den „Tawny Moon“. Den Übergang von der „Nokturn“ in den finalen Sonnenaufgang von „Aerial“ kann man dann auch ohne Bühnenbild als großartige Steigerung mit gleißendem Orgelpunkt erleben.

Versöhnt mit allen Unzulänglichkeiten wird man von einer durch und durch packenden Zugabe in Form eines zackigen „Cloudbusting“, und wenn das ganze Auditorium das „Yee-ii-yoo“ mitsingt, laufen auch zwei Jahre nach der Show noch Gänsehaut über den Rücken. Fazit: So schön dieses Audio-Protokoll der Shows für Kenner und alle, die in London dabei sein konnten, so unentbehrlich wäre eine DVD. Pläne für eine Veröffentlichung hat Bush im Mojo Magazine jedoch gerade verneint.  Fair wäre außerdem gewesen, die Aufnahmedaten anzugeben. So erwecken die drei CDs den Eindruck eines Zusammenschnitts aus den jeweils besten Passagen – bei der Perfektionistin Kate Bush wäre das nicht auszuschließen.

© Stefan Franzen

Kate Bush: „And Dream of Sheep“ (live)
Quelle: youtube

Die Eröffnungssequenz aus The Ninth Wave – in der Show über Videoleinwand eingespielt – wurde in einem Wassertank gefilmt: Kate Bush wollte durch dieses Setting in die Haut der ertrinkenden Protagonistin schlüpfen. Mikrophone wurden an ihrer Schwimmweste und über dem Wasser platziert. „And Dream Of Sheep“ wurde so zu einer verstörenden musique concrète, die einem Schauer über den Rücken jagt: Der Atem der Unterkühlten und ihre Verzweiflung kommen in den Vocals absolut glaubhaft zum Ausdruck.