Update Kanada I: Scandi-nadian

Fast neun Monate nach meiner Rückkehr aus Kanada blicke ich in mehreren kurzen Kapiteln zum Jahresende wieder über den Atlantik.  Denn mittlerweile hat sich Einiges bei den Künstlern getan, die ich für die Canada 150-Serie besucht und interviewt habe. Mein Lieblingsviolinist Jaron Freeman-Fox ist dieses Jahr rastlos unterwegs zwischen Tuva und British Columbia. Zur Zeit macht er für das Projekt „Hardangers/Harbingers“ einen Stopp in skandinavischen Breiten – dieser Tage hat er mit dem Drummer Petter Berndalen in Stockholm eine fantastische Spontansession abgehalten, die er mit uns teilt. Wer mehr zu Jaron lesen möchte, hier gibt es mein Interview, das ich im Februar mit ihm in Toronto geführt habe.

Jaron Freeman-Fox & Petter Berndalen: Improvisation take 2
Quelle: youtube

Acoustic India im Jazzclub


Nitin Sawhney
Live At Ronnie Scott’s
(Gearbox/Edel)

Unter den Protagonisten der British Asian-Szene war Nitin Sawhney immer derjenige mit dem größten Hang zum Jazz. Zwar spielte auch die Electronica-Philosophie des Asian Underground immer wieder eine Rolle in seiner Arbeit, dominierte sie aber nicht. Dass Sawhney eine Rückschau auf seine zehn Werke als intimes Akustik-Liveset präsentiert, zeigt, wie stark seine Songs auch ohne jeglichen Schickschnack bestehen. Im renommierten Londoner Jazzclub vermählt er in Septett-Besetzung Souliges immer wieder organisch mit Subkontinentalem, mit am schönsten im Opener „Sunset”. Maßgeblich am Gelingen beteiligt sind die beiden dunklen Stimmen von Eva Stone und Nicki Wells, die auf die indischen Färbungen von Ashwin Srinivasans Bansuri und Aref Durveshs Tabla treffen.

Ein Cello sorgt für warmen, melancholischen Hauch, und inmitten seines Ensembles verbindet Sawhney als virtuoser Könner und einfühlsamer Begleiter an der akustischen Sechssaitigen. „Homelands” vereint rasanten indisches Vokalmäandern mit fast balkanesker Rhythmik, „Herencia Latina” lugt mutig in den Flamenco hinein, „Tere Khyal” begibt sich tief in eine nokturne Raga-Stimmung, und mit „The Conference” gibt das Ensemble ein Kabinettstückchen von Khonakol-Virtuosität, dem indischen Silbengesang. Weit breitet Sawhney mit „Breathing Light” am Piano balladeske Schwingen aus, und „Nadia”, im Original mit hibbeliger Elektronik gewoben, ist hier purer meditativer Genuss.

Die Überwindung des Hipstertums

Robin Pecknold, Palace Theater St. Paul, NY, September 2017, Foto: Andy Witchger

Fleet Foxes
Palladium Köln, 1.12.2017

Der kalte Kasten im Kölner Norden, der sich Palladium nennt, ist für diese Musik eigentlich denkbar ungeeignet, so die erste schockartige Erkenntnis bei der Ankunft an diesem Grau-in- Schwarz-Novemberabend. Denn verkörpern die Fleet Foxes aus Seattle nicht die romantischste Band der Bewegung zarter Americana-Folkies? Fördern ihre terzenseligen Melodien nicht Im-Frühtau-zu-Berge-Aufbruchstimmung für globalisierte Wandervögel?

Das war auf den ersten beiden Alben sicherlich so – doch mit dem Werk Crack-Up ist die Musik der Westküstler weitaus abstrakter geworden, eine konzeptartige Suite mit Verweisen auf aktuelle Politik genauso wie auf die Antike. Und wie sich beim Rundblick ins Publikum schnell zeigt, sind sie auch keine Hipsterband mehr, sondern ziehen ein heterogenes Völkchen an: aufgeregte amerikanische Studentinnen genauso wie Mittfünfziger, die darüber diskutieren, ob Alice Cooper die ersten beiden Zappa-Platten produziert hat (oder nicht eher umgekehrt), und eine bierselige Clique, die alle Lieder textsicher so falsch mitgrölen wird, als seien es Bon Jovi-Klopfer.

Crack-Up lebt von so komplex gebauten Stücken mit nahezu absurden Tempi- und Harmoniewechseln, dass eine Live-Präsentation wenig Raum für Improvisation lässt. Es am Stück zu spielen, würde in Langeweile enden. Sänger Robin Pecknold und seine Mitstreiter machen das einzig Richtige: Sie zerpflücken ihr drittes Werk auf der Bühne in drei Teile. Den grummelnden Beginn von der Platte ersetzen sie durch ein fanfarenartiges Klassikstück (Aaron Copland?) und steigen dann kraftvoll in „Arroyo Seco“ ein. Die tighten Gesangsharmonien, die auf Tonträger nach vielstimmigem Chor klingen, wuppt der Frontmann allein mit dem Bassisten Christian Wargo, sein enger Mitstreiter Skyler Skjelset konzentriert sich auf gitarristische Feinarbeit, streicht die Saiten auch mal wie es sein Kollege von Sigur Rós tut.

Die Trumpfkarten für die schöne Textur des Sounds hat Morgan Henderson in den Händen: Er umrahmt in den Tiefen mit wunderbarem Streichbass und Euphonium, in den Höhen mit einer nicht unnötig ätherischen Querflöte und ganz vereinzelt auch mit einem freien Sax-Ausbruch. Von der Auffächerung der Klangfarben her glaubt man sich in solchen Momenten in einer Genesis-Show Anfang der 1970er.

Sehr bald schon streuen die Flottenfüchse Hits aus ihrem Frühwerk ein: Zum jubilierenden „White Winter Hymnal“ laufen verschneite Felswände auf der Leinwand, andere landschaftstrunkene Klassiker wie „Blue Ridge Mountains“ oder „Battery Kinzie“ folgen. Gerade von diesem Wechsel zwischen den straighten folkigen Tönen und den philosophischeren Windungen der Jetztzeit lebt die Show. Und irgendwann steht Pecknold dann tatsächlich ganz allein unter einem gigantischen Sternenhimmel da. Seine Stimme kann das, was vielen Hipster-Sängern der ersten und vor allem zweiten Welle abgeht: völlig unblasierten, unprätentiösen Wohlklang liefern.

Kernstück des Abends ist die zweite Hälfte von Crack-Up in einem Rutsch ab „Mearcstapa“. Beim extrem räumlichen, großorchestralen Sound der CD-Vorlage muss die Band hier zwangsläufig Abstriche machen, doch die Brüche zwischen den Akkorden und fast polyrhythmischen Verwerfungen kommen flüssig, vor allem Ergebnis der großartigen Verständigung zwischen Skjelset und Pecknold und der souveränen Taktgebung von Mattthew Barrick.

Es gibt nur einen Moment kurz vor dem allerletzten Finalakkord, in dem die Vokalharmonien so dick aufgetragen werden, dass das Wort „Kitsch“ durch den Kopf schießt. Doch hätte man vor 50 Jahren auch nur im entferntesten daran gedacht, Simon & Garfunkel oder die Pet Sounds der Beach Boys als cheesy zu bezeichnen? Wer es schafft, den vorherrschenden, kalten Hauch des Zeitgeists von 2017 abzustreifen, der muss einfach zugeben, dass die Fleet Foxes auch live die perfekte Balance zwischen Hippie und Hirn gefunden haben.

© Stefan Franzen

Fleet Foxes Live at Down the Rabbit Hole,24.6.2017
Quelle: youtube

Die Eroberung von Elysium

Björk
Utopia
(One Little Indian)

Ihr Leib: nur noch ein Block aus schwarzer Lava-Schlacke, geopfert auf dem Altar der Schmerzen. Ganz allmählich kann sie die Vagina-artige Wunde in ihrem Brustkorb mit silbernen Perlen und leuchtenden Fäden schließen, die Heilung beginnt. Mit plakativer Symbolik wie dieser breitete Björk auf dem Vorgängeralbum Vulnicura (Wundpflege) die einzelnen Kapitel ihrer Trennung aus. Utopia ist ein logischer Nachfolger: Die Genesende erzählt uns, nicht minder episch, nicht weniger bildgewaltig, wie sie zur ewigen Kraft der Liebe zurückfindet – ohne die Narben zu verschweigen.

Um die radikale Preisgabe von Emotionen in Musik und Text für sich und ihr Publikum erträglich zu machen, hüllt sich die Isländerin seit einiger Zeit in Video, Bild und auf der Bühne in maximale Maskerade: Auf dem Cover präsentiert sie sich als extrem stilisiertes Zwitterwesen zwischen Klingonenkriegerin und Porzellanpuppe, die Vagina ist auf die Stirn gewandert, ein Fötus ruht an ihrer Schulter, eine Flöte hält sie in der Hand. Hatte sie auf den vergangenen Werken schon immer eine bestimmte Klangfarbe mit Elektronik kombiniert, mal einen Chor, mal Blechbläser oder ein Streichquartett, ist es diesmal tatsächlich ein vierzehnköpfiges weibliches Flötenensemble, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Für die Synths hat sie sich wieder den Venezolaner Arca geholt, Harfe und Cello bereichern in Nebenrollen den überwältigend räumlichen Sound.

Zunächst fällt es nicht leicht, sich innerhalb der 72 Minuten zurecht zu finden. Denn irgendwann um das „Medulla“-Album herum ist Björk die melodische Strahlkraft der früheren Werke abhanden gekommen. Statt zu Hook Lines und Refrains neigt sie oft zu einer Art Rezitation, für die sie in der isländischen Tradition des Rímur-Gesangs ein Vorbild hat. Doch da jeder „Song“ auf eine geschlossene Geschichte verzichtet, stattdessen einen Seelenzustand beschreibt, eine „emotional landscape“, wie sie es schon im Hit „Jóga“ vor zwanzig Jahren sang, passt es wiederum, dass sie Phrasen wiederholt statt entwickelt.

Nach der gleichnamigen Datingplattform hat Björk Utopia scherzhaft als ihr „Tinder“-Album bezeichnet. Und am Anfang sind wir wirklich Ohrenzeuge einer neuen, spontanen Liaison, in der jeder Kuss eine Explosion ist, Vokalspuren als Freudenschreie getürmt werden. In der Harfengirlanden umherschwirren und – wie in der Single „The Gate“ – immer wieder die Fürsorge für den anderen beschworen wird. Das Verliebtsein wird durch Musik getriggert: Sie ist vernarrt in seine Songs, Mixtapes werden als Streicheleinheiten ausgetauscht. Dass Björk ein zuckrig-verzärteltes Turteltauben-Werk serviert, glaubt man spätestens, als seufzende Exotikvögel den ersten Auftritt der Flöten umgarnen – und die kommen nicht als wildes, phallisches Element daher, sondern fast höfisch-barock. Doch auch wenn diese „Paradise Pipers“ jetzt nicht mehr von den Hörern weichen, kippt genau hier die Stimmung.

Utopia will erst erobert werden, und dafür durchmisst Björk nochmals ihre Schmerzensbahn: Unterstützt durch einen Chor erzählt sie mit gewaltiger Sounddramaturgie von der Entfremdung der Liebe in der Stadt, träumt sich ins mythische Nordland zurück, wo Körper und Natur verschmelzen. Hier bekommen Arcas atmende Beats mehr und mehr ihre große Stunde: Sie scheren sich oft nicht um Taktgebungen, sind eher Herzstolperer, dazwischenfauchende Wesenheiten, zischende Geysire, bis über die Grenze der soundtechnischen Überfrachtung hinaus geht das. Wir müssen abtauchen in die Schattenseiten, in die Tretmühle der Liebe: unerwiderte Gefühle, bittere Rache, patriarchale Übergriffe, das Vererben der Elternsünden an die Kinder.

In all dem Tumult mühen sich die Flöten, Leitfaden zum Licht zu sein, und therapeutische Sätze wie dieser: „Loss of love we all have suffered / how we make up for it defines who we are.“ Endlich kann in „Claimstaker“ das Land Utopia neu in Besitz genommen werden, mit allen Sinnen und dem Körper, der bei Björk auch immer Biographie und Geologie ist. Leider verpufft am Ende diese großartige Ohrenkino in einem entrückten Elysium. Der Himmel hängt voller Flöten, als eine allegorische Heilige auftritt und zum Reich ewiger Liebe geleitet: „Music heals, too, and I‘m here to defend it.“

Dann löst sich jegliche Rhythmik auf, selbst das Vogelkonzert verstummt. Synthetische Steeldrums und Björks verzückteste Sopranlinien duettieren. Nach so viel Körperlichkeit, nach so viel Kampf das Vakuum, „Utopia“ wörtlich genommen als „Nicht-Ort“. Björk, die Jeanne d‘Arc der Musik (= Liebe) im luftleeren Raum, das ist eine anrührende, aber irgendwie auch unbefriedigende Apotheose.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 29.11.2017

Björk: „The Gate“
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Die Krümel des Flamenco


„Wir sind die Krümel, die vom Flamenco-Brot abfallen“ – so formulierte es die Sängerin Sílvia Pérez Cruz einmal, als sie nach dem lustigen Namen des Frauenquartetts Las Migas (migas = Krümel) gefragt wurde. In der Tat hat die 2004 von Musikstudentinnen gegründete Band aus Barcelona voller Respekt den Flamenco immer als Anlaufstation genutzt, allerdings in einer sehr freien Les- und Spielart. „Der Flamenco hat seine Wurzeln in all unseren Familien“, sagt die klassisch ausgebildete Gitarristin Marta Robles aus Sevilla, die auch etliche der Songs schreibt, im Interview mit El Mundo. „Er berührt uns vor allem, weil er aus den Dörfern, aus der Armut kommt. Alles an ihm ist authentisch. Es ist eine Musik, die Wahrheit atmet.“

Anfangs traten die vier als multinationale Angelegenheit mit katalanischer Vokalistin, zwei andalusischen und bretonischen Gitarristinnen und einer deutschen Geigerin auf den Plan, und sie deckten auch abseits des Flamenco von Klassik bis Bossa viele Facetten über Iberien hinaus ab. Schnell machten sich die Frauen über Spanien hinaus einen Namen, galten als sympathisch-sinnliche Vorreiterinnen eines neuen weiblichen Aufbruchs in der mediterranen Weltmusik. Turbulent drehte sich in den letzten Jahren das Besetzungskarussell der „Krümel“. Sílvia Pérez Cruz ist ausgestiegen und verfolgt mittlerweile eine grandiose Solokarriere. Geblieben ist im neuen, wiederum rein weiblichen Aufgebot von den Gründerinnen nur Marta Robles. Geblieben ist aber ebenso die Vorliebe für den Flamenco, auch wenn nach der Experimentierphase nun alles ein wenig poppig gestrafft tönt.

So zumindest auf dem dritten Album Vente Conmigo, das in Spanien zum besten Werk des Jahres in diesem Genre gekürt wurde. An der Vokalposition agiert seit einigen Jahren Alba Carmona: Sie wurde als Flamencosängerin ausgebildet, hat das Genre mit koreanischen und brasilianischen Begegnungen bereichert, sang in Carlos Sauras letztem Bühnenspektakel oder mit dem aufstrebenden Flamencogitarristen Jesus Guerrero. In ihrer Stimme finden sich noch Spuren aus dem rauen, traditionellen Cante Jondo, doch sie ist genauso imstande, einen Popsong mit romantischem Schmelz zu krönen. Marta Robles und Alicia Grillo, die beiden Andalusierinnen, teilen sich die Gitarrenarbeit in ausgefeilten Arrangements, ohne sich mit allzu viel Virtuosität hervortun zu müssen. Auch die Geige ist weiterhin fest im Las Migas-Sound verankert: Roser Loscos flicht mit ihr jazzige Töne und Anklänge an Bluegrass ein; besonders wenn sie Carmonas Stimme umgarnt, führt das zu einem geschmeidigen Dialog.

Auffällig am neuen Repertoire ist ein Hang zum lateinamerikanischen Flair: Immer wieder mischen sich in die Flamenco-Vokabeln Rhythmen und Melodien, die aus der kubanischen oder argentinischen Musik bekannt vorkommen. Schließlich zollt das Quartett auch seinem Standort Barcelona Tribut: Mit „La Plaça Del Diamant“ ist ein Klassiker aus dem Repertoire von Ramon Muntaner eingeflossen, einer der Liedermacher-Protagonisten aus der heißen Phase der Nova Cançó-Bewegung Kataloniens. Las Migas sind mit ihrem katalanisch-andalusischen Doppel ein besonders charmanter Beweis dafür, dass über alle politischen Unebenheiten hinweg diese beiden Regionen gemeinsam großartige Kultur hervorbringen können.

Las Migas sind auf Tournee durch D-A-CH:
23.11. Mainz, 24.11. Innsbruck/A, 25.11. Biel/CH, 27.11. Freiburg, 28.11. Schaan/LIE, 30.11. Stuttgart, 1.12. Berlin. mehr Infos auf ihrer Website.

© Stefan Franzen

Las Migas: „La Plaça Del Diamant“
Quelle: youtube

Goodbye, Deloreese

Von Klassik über Gospel bis Blues, von Schlager über Jazz bis Funk: Sie war eine der vielseitigsten Diven des 20. Jahrhunderts. Mein Lieblingstitel von ihr war immer die bissige Version des Les McCann-Protestsongs „Compared To What“ von 1969. RIP Deloreese Patricia Early alias Della Reese.

Della Reese: „Compared To What“
Quelle: youtube

Spiritueller Triumph

Sharon Jones & The Dap-Kings
Soul Of A Woman
(Daptone/Groove Attack)

Wie singt jemand im Angesicht des Todes den Soul? Bei der vor einem Jahr verstorbenen Sharon Jones scheint die Gewissheit über das Kommende einen heiligen Ernst entfacht zu haben. Auf dem nun posthum erscheinenden Soul Of A Woman hat sie zu einem machtvoll glühenden Ton ohne ein Quäntchen Pathos gefunden, der in „Matter Of Time“ oder „Sail On“ an die Intensität von Aretha Franklins ersten Atlantic-Alben erinnert, flankiert von den beißenden Horns der Dap-Kings, die wie ein großes Groove-Organ atmen.

Und in der Mitte passiert etwas Großartiges: Nach der weitgehend funky A-Seite (auch die CD folgt der LP-Ästhetik), reihen sich fantastische Balladen ganz unterschiedlicher Couleur aneinander: Ihr Phrasieren zur glimmenden Orgel in „Pass Me By“ gemahnt an den Minimalismus des jungen Al Green, das zum Niederknien mit Motown kokettierende „When I Saw Your Face“ lebt von gleißenden Streichern, „Girl“ von orchestralem Hochgebirge. Das kurze Album verdankt seine Magie auch der exzellenten Produktion – der unglaublich kompakte, zeitlose Sound macht Prädikate wie „retro“ endlich überflüssig. „Call On God“ heißt das Gospel-betupfte Finalstück aus Jones‘ eigener Feder – ein Schwanengesang, der zum spirituellen Triumph über den Tod geraten ist.

Sharon Jones & The Dap-Kings: „Call On God“
Quelle: youtube

Tropischer Opernabend

Gilberto Gil, Cortejo Afro, Nucleo de Opera da Bahia &
Orquestra Nova Lisboa

Baloise Session Basel, 7.11.2017

Noch einmal in satter Besetzung! Das hatte man von Gilberto Gil, dem Begründer des Tropikalismus, der Ikone der Música Popular, diesem streitbaren, politisch aktiven und sozial engagierten Musiker gar nicht mehr erwartet. Der 75-jährige Ex-Kulturminister, seit über einem halben Jahrhundert auf den Bühnen der Welt, hatte sich zuletzt auf intime Projekte zurückgezogen: eine Live-DVD nur in Zwiesprache mit seinem Sohn, eine wunderbar transparente Samba-Platte. Doch nun noch einmal das ganz große Besteck – mit der Carnavalsgruppe Cortejo Afro und vier klassischen Sängern aus seiner Heimatstadt Salvador da Bahia, sowie dem portugiesischen Kammerensemble des Orquestra Nova Lisboa. Ein Projekt, das derzeit nur ein paar handverlesene Male in Europa zu erleben ist, so auch bei der Baloise Session.

Gil geht hier an eines seiner Herzensthemen zurück: Er als Mann aus Bahia, dem schwärzesten Bundesstaat Brasiliens, hat sich immer um das afrikanische Erbe der Kultur Brasiliens gekümmert, in Afrika selbst musikalische Querverweise über den Atlantik erforscht. Genau zu diesem Zweck gründete sich auch vor rund zwanzig Jahren in Salvador da Bahia der Cortejo Afro, der den kommerzialisierten Karneval neu erdet.
Dass karnevalesker Überschwang an diesem Abend allerdings kaum eine Rolle spielen wird, damit hatten wohl die wenigsten Zuschauer gerechnet.

Als das 12-köpfige Orchester in weißen Gewändern und mit neckischen Federhütchen Platz nimmt, werden die Klänge des afrikanischen Erbes zwar zelebriert, allerdings als selbstbewusster Weg in die abendländische Klassik hinein: Unter Leitung des Italieners Aldo Brizzi gibt es Auszüge aus Scott Joplins mit Ragtime und Blues angetupfter Oper „Treemonisha“. Melancholisch sinnen Flöten und die Geige nach, das Blech verweist auf die Kapellen der frühen Kolonialzeit. Eine Arie wird mit Belcanto-Schmelz von Sopranistin Maria Das Graças De Almeida gefüllt, und die sieben Perkussionisten des Cortejo Afro halten sich mit Sambareggae-Rhythmen teils im Hintergrund.

Gilberto Gil selbst kommt spät auf die Bühne, hat aber zugleich joviale Präsenz, streut mit seiner leicht brüchigen Stimme Dialoge in Richtung Gesangsquartett. Und es ist eine weitere Oper, die den Kern dieses Abend bildet: Mit „Negro Amor“, basierend auf Sanskrittexten, erzählen Gil und Brizzi aus brasilianischer Perspektive die Krishna-Liebesgeschichte mit grandioser Dramaturgie: Kraftvolle chorale Schübe und Blechfanfaren sind die Mittel, aber auch süffige, romantische Brasiljazz-Harmonien mit ergreifenden Flöten- und Klarinettenlinien, inmitten derer Gil seine Stimme mehr und mehr zu altem, warmem Glanz entwickelt. Arrangements, die keine Angst vor Sentimentalitäten haben.

Gils Querschnitt durch seine eigenen Hits sind nur noch der Kitt zwischen den beiden Opernblöcken, doch in diesem Setting leuchten sie neu: „Andar Com Fé“ bekommt durch den Chor einen hymnisch-erhabenen Touch, und „Eu Vim Da Bahia“ singt er mit den für ihn so typischen Jauchzern, verbreitet fast jugendlichen Charme. Mit schmetternden Trompeten wird die Capoeira-Atmosphäre von „Filhos de Gandhi“ bereichert, und zum Schluss donnert seine frühe Erfolgsnummer „Expresso 2222“ mit dem organischen Motor der Trommelgruppe mächtig über die Bühnenbretter.

Einen ganz großen, fast schockierenden Höhepunkt gestaltet Gil komplett solo: „Não Tenho Medo Da Morte“ – ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Sterben: Mit grollender Stimme gestaltet er die Auseinandersetzung des alten Mannes, mit dem, was da kommen wird. Alle, die zum Tanzen gekommen waren, wurden über weite Strecken bitter enttäuscht. Offene Ohren allerdings erlebten einen spannenden Abend – und man ging mit der Erkenntnis davon, dass Brasiliens Ikone auch mit 75 für eine dicke Überraschung gut ist.

Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung, 9.11.2017

Das Schöpfen aus der Stille

Foto: Anna Day

Unter den Schweizer Jazzstimmen ist sie eine der rührigsten. Zu Lisette Spinnlers herausragenden Markenzeichen gehörte bislang ein virtuoses, verspieltes auch mal exaltiertes Singen in einer Fantasiesprache. Nun meldet sich die Liestalerin mit einer Musik zurück, die sie ganz aus der Stille geschöpft hat.

Lisette, der Titel deines neuen Albums Sounds Between Falling Leaves passt herrlich in die Jahreszeit. War es geplant, das im Herbst zu veröffentlichen?

Spinnler: Tatsächlich hat es gar nichts mit dem Herbst zu tun! Sondern vielmehr mit dem Suchen und In-die-Stille-Gehen. Der Titel ist eigentlich eine Metapher für die Zeit, in der ich das Album geschrieben habe. Ich habe mich zurückgezogen, war viel in der Ruhe, habe in den Nächten komponiert, mich mit Themen wie Krishnamurti, Meditation, und Yoga beschäftigt, auch mit Gedichten. Das „Between“, die Mitte, in der man nichts sieht, die Stille, in der man etwas sucht, was nicht direkt vor Augen ist, das spiegelt die Musik wider, die auf der CD ist.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das dich veranlasst hat, diesen Weg der Stille einzuschlagen?

Spinnler: Eigentlich kam das nach der Geburt meiner ersten Tochter. Weil ich mehr zuhause war, spielten die Ablenkungen von draußen, die Eindrücke vom Unterwegs sein keine so große Rolle mehr. Bis dahin hatte ich oft sehr virtuose Musik gemacht, die Stimme als Instrument eingesetzt mit Fantasie-Silben. Jetzt setze ich mich mit Worten auseinander, auch auf Englisch. Ich spürte, ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich Neues schöpfen möchte, und das gelang mir, indem ich ganz in mich hineinging. Ein langer Weg.

Worin besteht für die Stimme denn die besondere Herausforderung, wenn man von den vielen Tönen zu den wenigen geht, und diese dann sehr souverän und mit großer Inspiration singt, ohne dass es sich schal oder langweilig anhört?

Spinnler: Eigentlich ist es die Auseinandersetzung mit der Sprache. Man fühlt genau, wo die einzelnen Wörter im Mund sind und was die Stimme damit macht, die dann darauf gelegt wird. Ich finde es spannend, in die englische Sprache reinzugehen, die ja nicht meine Muttersprache ist. Das ist immer wie ein Fremdkörper, den ich näher und näher zu mir bringen wollte, ohne nur an der Oberfläche zu tanzen. So entstanden die Melodien. Und dazu kommt: Da ich die Musik am Klavier komponiert habe und eigentlich keine Pianistin bin, habe ich Akkorde gelegt, auch das in einem Kontext großer Ruhe.

Neben deinen eigenen Texten hast du zwei Poems von Emily Brontë vertont. Was zieht dich so an bei dieser englischen Dichterin des 19. Jahrhunderts?

Spinnler: Ihr Bezug zur Natur, der fasziniert mich ganz besonders, denn ich selbst bin sehr naturbezogen aufgewachsen. Während andere Party gemacht haben, bin ich als Teenager stundenlang allein im Wald unterwegs gewesen. Doch dieser dunkle Zugang, den Brontë hatte, ist eigentlich in mir nicht so drin. Melancholie habe ich erst später erfahren, als eine Melancholie der Schönheit, als Ruhepol und nicht als Traurigkeit. Ich hatte zum Glück noch nie Depressionen, ich habe das Sonnen-Gen geerbt!

Es gibt ja auch lebhafte Stellen auf dem Album, wo du nach wie vor in deiner Fantasiesprache singst.

Spinnler: Ja, denn diese verspielten Melodien sind nach wie vor in mir drin. Die kann ich komponieren, egal, wo ich bin, beim Einkaufen oder unterwegs, ohne Klavier, einfach mit ein paar Claps und die Stimme improvisiert darüber. Das ist etwas, was mich nie loslässt, es ist das Kind in mir drin, das immer wieder ganz stark nach vorne kommt.

Du arbeitest auf dem Album mit deinem Quartett, Musiker, mit denen du schon seit längerem zusammen spielst. Was macht dieses Ensemble so einzigartig?

Spinnler: Mit ihnen ist es musikalisch und menschlich eine runde Sache, sie lassen mir viel Platz und sie hören mir zu. Stefan Aeby ist ein Poet am Klavier. Ich wusste, wenn ich diese Poems bringe und meine eigenen Lyrics mit ihm spiele, dass er das sehr gut versteht. Patrice Moret am Bass ist die Erde pur für mich, und noch tiefer ins Magma hinein, dort befindet sich sein Spiel. Er spielt nie aus Ego-Trips heraus, ist aber zugleich sehr innovativ. Michi Stulz ist ein wunderbarer Free-Player am Schlagzeug, er lockt die Band, er möchte, das wir auf die Äste rausgehen. Vor allem live werden das die Leute sehen. Diese drei haben einen Flow kreiert, in dem ich mich auch mal gerne ganz zurücknehmen konnte.

© Stefan Franzen

Lisette Spinnler: „The Night is Darkening Around Me“ (Teaser)
Quelle: youtube

Album: Sounds Between Falling Leaves (VÖ 17.11., Neuklang)
Live: Gare du Nord Basel, 10.11.